No Problem in Pakistan

Irgendwie muss es immer weiter gehen, im Chaos. Foto: Gilbert Kolonko.

Ein normaler Morgen in Lahore, der andeutet, dass ein Mensch in Pakistan zwei Haupt-Optionen hat: Flucht oder Rettung in den Stumpfsinn.

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Vor Lärmterror schützt uns die Natur mit Taubheit, vor den Realitäten …

Im Morgennebel von Lahore geht es an einer schwerbewachten, katholischen Schule vorbei. Ein Stück weiter liegen Heroinabhängige in verschiedenen Stadien des Verfalls auf dem Bürgersteig. Der wirtschaftliche Niedergang des Landes und der Umstand, dass es ein Umschlagplatz für das Opium aus Afghanistan ist, tragen dazu bei, dass es in Pakistan jedes Jahr etwa 250.000 Drogentote gibt.

10 Meter weiter lächelt Hassan mir zu und ich muss an seinem Teestand Platz nehmen. Er ist ein netter und tapferer Kerl, aber sein Milchtee ein schlimmes Gesöff. Da er im Niedrigpreissektor fischt, muss er aus allem das letzte herausholen. Zwei alte und müde Nachtwächter, die sich in täglichen 12-Stunden-Schichten für monatlich 100 Euro verdingen, sitzen schon über der verkochten Brühe. Die letzten drei Tage musste Hassan seinen Stand woanders aufstellen: "Some talk with police. No problem." Was bedeutet, dass die Höhe des Schmiergeldes an die örtlichen Polizisten jetzt geklärt ist.

20 Minuten später stehe ich in einer Ecke des großen Jinnah Parks, wo der 80-jährige Rana Sahibs seit 50 Jahren ein kostenloses Freiluft-Gym leitet. Etwa 30 Studenten, Arbeiter, Journalisten, Rentner und ein paar Anwälte in ihren schicken Anzügen sind auch schon da.

Kamran, ein junger Medizinstudent, strahlt mich stolz an und sagt, dass er heute auch schon joggen war. Ich zeige in den Nebel und antworte, dass er bei der Brühe lieber nur spazieren gehen sollte. "Wie bitte, habt ihr in Deutschland keinen Nebel?", fragt er verdutzt, worauf ich etwas spitz antworte: "Haben wir, aber nicht 30 Tage im Monat."

Im Jahr 2014 nahm Lahore mit einem Jahresdurchschnittwert von über 200mcg Feinstaub pro Kubikmeter einen Spitzenplatz in der Rangliste der Luftverseuchtesten Städte der Erde ein. Im Winter liegt die Metropole beinahe täglich unter einer Dunstglocke mit Feinstaubwerten, die über 500 mcg pro m³ reichen. Mit Forschungsarbeiten über die Schädlichkeit solcher Werte für den Menschen holt die Wissenschaft erst langsam auf. Im Jahr 2010 gab die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bekannt, dass jedes Jahr weltweit 223.000 Menschen an verpesteter Luft sterben. Im Jahr 2015 veröffentlichte das Max Planck Institut die Zahl 3,3 Millionen. Dieses Jahr verbesserten Forscher der University of British Columbia die Zahl auf 5,5 Millionen Menschen pro Jahr (die WHO hat mittlerweile auf 6,5 Millionen korrigiert).

Weiß gefärbte Milch und Second-Hand-Öl

Eine halbe Stunde später geht es über die breite Mall Road zurück. Obwohl die meisten Geschäfte und teuren Restaurants noch geschlossen haben, liegen nur noch wenige Obdachlose auf den Bürgersteigen. Die meisten stehen jetzt schon an den bekannten Kreuzungen, wo sie sich mit ihren Werkzeugen als Tagelöhner anbieten. Täglich kommen mehr dazu. Zurzeit leben in Lahore nach grober Schätzung 9 Millionen Menschen, doch schon die Frage, was noch zu Lahore zählt, ist nicht einfach, denn in den letzten 14 Jahren hat sich die Fläche der Stadt verdoppelt.

In einer Seitenstraße tragen die Milchverkäufer wieder ihr breites Lächeln und Gebetskäppchen - vor drei Monaten waren es Schmollmund und Haarnetz. Die staatliche Gesundheitsbehörde hatte damals eine Kontrolloffensive gestartet und festgestellt, dass es ein Wunder ist, dass die Milch bei den großen Anteilen an Borsäure, Borax, Salicylsäure und Formaldehyd noch weiß ist - sie wird mit künstlichen Farbstoffen aufbereitet. Daraufhin gab es einige Tage keine 'Milch', da die Milchvertreiber mit einem Streik gegen diese Kontrollen protestiert hatten - wie man sieht, ist mittlerweile wieder alles in Ordnung.

So besorge ich mir im Onkel-Husain-Laden an der Ecke einen Liter H-Milch für umgerechnet einen Euro. Zumindest führt er die Marke Haleeb. Noch 2006 mit einem Marktanteil von 52 Prozent, ist Haleeb seit dem Auftreten von Nestle auf unter 10 Prozent gefallen. Dass die ausländische Konkurrenz dabei eher auf aggressive Werbung setzt, statt auf hohe Schweizer Produktionsstandards, deutete mir ein Chemiker an, der für Nestle in Karatschi arbeitet. Er sagte, dass man, gegen seinen Ratschlag, eine teure, deutsche Chemikalie zum Reinigen des Wassers gegen eine vielfach günstigere aus China ersetzt habe.

Mit ein paar frisch gebackenen Fladenbroten und 6 Eiern, bei denen ich verdränge, dass sie von pakistanischen 'Hühnerfarmen' stammen und nicht von Haleeb oder Nestle, geht es zurück zum Hotel. Die schon gut besuchten lokalen Restaurants, die ölige Linsen anbieten, lasse ich für heute mal links liegen. Da sich auch der Preis für Speiseöl in den letzten Jahren dramatisch verteuert hat, können viele kleine Restaurants nur günstige Preise anbieten, indem sie ihren Kunden 'Second-Hand-Öl' servieren; also das schon einmal benutzte Öl der teuren Restaurants.

Wie die Helmpflicht Polizisten zu einem Frühstück verhilft

Im Hotel treffe ich den Besitzer dabei an, wie er Wasserflaschen mit Leitungswasser auffüllt. Mein Hinweis, dass die Lampe des Wasserfilters gar nicht leuchtet, beantwortet er mit einem gelassenen: "It's working. No problem". In Pakistan sterben jedes Jahr mehr als 200.000 Kinder an den Folgen von verdrecktem Trinkwasser. Die Haupttrinkwasserquelle Lahores, das Grundwasser, ist mit Schwermetallen, Arsen und etlichem mehr belastet.

Bei der letzten staatlichen Untersuchung von Mineralwasser aus Supermärkten waren 8 von 71 Wassermarken für den menschlichen Verzehr ungeeignet. Neben stark erhöhten Arsenwerten wurden Bakterien gefunden, die unter anderem Cholera und Hepatitis auslösen können. Den leicht missbilligenden Blick des Hoteliers auf die mitgebrachte Milch, der mir sagt, dass ich die gute Nestle-Milch hätte mitbringen sollen, beantworte ich mit einem anderen der Wörter, die im täglichen Umgang in Pakistan überlebenswichtig ist: "Tomorrow."

20 Minuten später stehen der Hotelbesitzer und ich auf der Dachterrasse, schlürfen Milchtee und blicken auf die Mall Road. Auf der Kreuzung hat sich, wie fast jeden Morgen, ein Trupp schlecht bezahlter Verkehrspolizisten versammelt, um Geld fürs Frühstück einzutreiben. Da in Pakistan Helmpflicht besteht, aber fast jeder ohne Helm fährt, ist das ganz einfach. Dem angehaltenen Sünder wird der Strafzettel von 200 Rupien unter die Nase gehalten.

Das Problem sind nicht nur die umgerechnet 1,80 Euro Strafe, sondern, dass man diese per Banküberweisung bezahlen muss und die Quittung anschließend im abgelegenen Verkehrsamt vorzulegen hat - das kostet viel Zeit. So wird die Angelegenheit dann auch von Bürgern, die eigentlich wissen, dass Korruption ein schwerwiegendes Übel ihres Landes ist, mit ein paar Geldscheinen direkt vor Ort gelöst. No Problem in Pakistan. Nach einer halben Stunde schlendern die Verkehrspolizisten vergnügt von der Kreuzung.