No two snowflakes are alike

Schneekristalle. Bild: Wilson Bentley, Public Domain

Ein Ausflug in die Merkwürdigkeiten der Naturwissenschaften unter Berücksichtigung eines Postings von Telepolis-Forist "Antidarwinist"

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Wenn es ein Merkmal gibt, das den Menschen von Tieren und Dingen unterscheidet, dann wird stets die menschliche Individualität bemüht. Atome, Ameisen, Sandkörner und Bakterien dagegen erscheinen als normierte und determinierte Klone. Warum ist dann aber keine Schneeflocke wie die andere?

Die bisherige Antwort darauf lautet: Weil es derart viele Kristallformen und auf ihre Entstehung wirkende Faktoren gibt, die auf diese Formen einwirken, etwa Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Luftdruck und Wind, dass die Entstehungsbedingungen einer Schneeflocke bis zu ihrem Endstadium in ihrer Komplexität eine identische Replik ausschließen.

Schneekristalle. Bild: Wilson Bentley, Public Domain

Wer die Ergebnisse dieses eisigen Treibens ein wenig visualisiert sehen will, kann dies seit 1999 auf einer Webseite des California Institute of Technology tun.

Was bei der Lektüre auffallen könnte: Es existieren zwischen 7 und 80 Typen von Schneekristallen. Diese Begrenzung birgt eigentlich das Potential, bei identischen Bedingungen auch zu einer Zwillings-Schneeflocke zu gelangen - allerdings bleibt das Theorie.

Hexagonale, sternförmige und fraktale Gebilde regen die esoterisch veranlagten Geister an: Was, wenn ich den Schneeflocken Mozart oder Johnny Rotten vorspiele? Oder Shakespeare vorlese? Kenneth Libbrecht, Urheber der Schneeflockenseite, wagte 2012 gegenüber National Geographic gar eine mutige Prognose: "Es ist sogar so unwahrscheinlich, dass man keine exakten Kopien finden würde, wenn man jede Flocke ansehen würde, die jemals gemacht wurde."

Nüchtern betrachtet, ist das Ausbleiben zweier in jedem Detail identischen Schneeflocken ein reines Problem der Wahrscheinlichkeitsrechnung, vergleichbar mit dem Infinite Monkey Theorem, mit dem wir uns auf Telepolis 2013 anlässlich der Eingabe einer Zeichenfolge in das Suchfenster von Google beschäftigten (Würfelt Gott doch?). Die Affen, so erfuhren wir damals, brauchen nur ausreichend viele Versuche, bis sie Shakespeare lesen könnten.

Die 442 Kommentare kündeten einerseits vom fehlenden Glauben an den berichteten Vorgang, andererseits wurde aber der These, dass Gott doch würfelt, mit einem interessanten Argument etwa von User "Antidarwinist" widersprochen:

Das Universum ist viel zu klein, um alles Leben und seine Produkte allein durch "glücklichen Zufall" entstanden haben zu lassen. Auch 3 Mrd Jahre sind nicht lang genug, um die dafür notwendigen Würfeleien durchzuführen.

Ein roter Balken kündete vom Missfallen anderer User an dieser anregend-metaphysischen These, die auch Kreationisten gerne als Einwand gegen die Evolutionstheorie anführen. Antidarwinist bewegt sich mit seinem Satz in der Nähe des sogenannten "ontologischen Gottesbeweises" von Anselm von Canterbury (1033 bis 1109), nachdem bereits die Vorstellung, es könne einen Gott geben, dessen Existenz bewiese. Auch Martin Heidegger (1889-1976) bewegte sich mit der Frage, warum es Seiendes und nicht vielmehr Nichts gäbe, im Spannungsfeld von Zufall und Plan.

Offenbar liegt es im Wesen unserer Erkenntnis, dass ihre von uns entwickelten Methoden und Axiome irgendwann immer wieder in Theologie übergehen. Wir bewegen uns in einer infiniten "Warum?"-Schleife, wie man sie mit kleinen Kindern spielerisch und unterhaltsam erleben kann. Der Erwachsene endet dann - trotz aller sokratischen Ich-weiß-dass-ich-nichts-weiß Lügnerei - immer als Träger kläglichen Un- und Nichtwissens.

Die Schneeflockenforscher allerdings verbinden mit ihrer Forschung keine anthropologischen, philosophischen oder theologischen Überlegungen. Libbrecht spottet über Masaru Emoto und dessen gerade in Deutschland sehr beliebten Lehre vom verborgenen Wissen im "informierten" Wasser. "It's just water", urteilt er lakonisch. Die nüchternen Schneeforscher erinnern dabei an die Erkunder von Marsgestein oder von Wesen in den dunklen Tiefen der Ozeane. Während aber die Biologen stets neue Spezies, die Astronomen stets neue Galaxien entdecken, treten die Schneeflockenforscher auf der Stelle. Seit Jahrzehnten schon ist kein neuer Kristall hinzugekommen. Snow Crystal ist damit ein geschlossenes Sammlergebiet. 1951 wurden von der Internationale Kommission für Schnee und Eis sieben Typen von Eiskristallen definiert. Schneeflocken-Guru Libbrecht spricht von 35 Typen. Er räumt aber auch ein: "But there will never be a precise way to define the different types."

Man fühlt sich ein bisschen an die Zoologie der Quanten erinnert, wo kein Laie mehr Strings, Elektronen, Quarks, Atome, Neutrinos und anderes Getier unterscheiden kann. Interessanterweise nun gibt es auch bei diesen Mikrospezies eine feste Zahl von Typen: 61 sind bekannt. 46 Chromosomen hat ein Zellkern. 35 Kristalltypen, 61 Arten von Elementarteilchen, 46 Chromosomen. Die Isotopentabelle reicht inzwischen bis zur Ordnungszahl 162, wobei Wasserstoff als einziger Isotop mit der Ordnungszahl 0 als uneingeschränkt "stabil" bewertet wird. Die Erdatmosphäre, auch Luft genannt, besteht aus 23 verschiedenen Gasen.

Diese quantitative Beschränkung von Grundtypen auf numerische Werte wie 23, 35, 61. 46 oder 162 schreit nach Erklärung. Warum ist die Anzahl von Grundtypen so gering? Theoretisch könnte es doch auch 100.000 Grundtypen geben. Diese würden sich aber der Systematisierbarkeit und damit der Lehre entziehen. Wissenschaft aber verlangt nach Reduktion.

Im Ergebnis werden unzählige Schneeflocken auf 35 namentlich bezeichnete Typen reduziert. Unter dem Mikroskop stellt sich heraus, dass nicht ein einziges Exemplar mit einem baugleichen Exemplar identisch ist.

Welchen Vorteil aber bringt der einzelnen Schneeflocke ihre Individualität? Bei entsprechenden Temperaturen schmelzen alle Schneeflocken gleichzeitig, egal, welcher der 35 Typen sie angehören. Auch ihre Fallgeschwindigkeit, dies können wir im Schneetreiben beobachten, unterscheidet sich nicht wesentlich von der ihrer Kolleginnen. Wenn aber ihre Individualität der einzelnen Schneeflocke keinen Vorteil bringt, dann ist sie zumindest für darwinistisch veranlagte Wesen eine Laune der Natur. Gott hat dann wieder einmal gewürfelt. Oder, verehrter Antidarwinist?