Noam Chomsky: Vom Klassenkampf zur grünen Revolution

Proteste gegen wachsende soziale Ungleichheit, Ausbeutung und für mehr Klimaschutz gehen oft Hand in Hand in den USA. Bild: Fred Murphy / CC BY-ND-NC 1.0

Der Klassenkampf hört nie auf, sagt Chomsky. Die Frage ist, welche Seite siegt. Heute geht es um das Überleben der Menschheit. Nur eine grüne Revolution kann die Klimakatastrophe noch aufhalten (Teil 2)

In diesem Interview spricht Noam Chomsky über Aktivismus und die Dringlichkeit eines Übergangs zu einer nachhaltigen Zukunft. Chomsky ist emeritierter Professor für Linguistik am MIT und derzeit Professor an der Universität von Arizona. Er hat rund 150 Bücher in den Bereichen Linguistik, politische und Gesellschaftstheorie, politische Ökonomie, Medienwissenschaft, US-Außenpolitik und internationale Angelegenheiten veröffentlicht.

Die Fragen stellt der Politikwissenschaftler C.J. Polychroniou. Es ist der zweite Teil eines Interviews mit Noam Chomsky. Der erste Teil findet sich hier. Das Original in Englisch erschien auf der Nachrichtenseite Truthout.

Wo liegen die Grenzen der politischen Autorität? Warum gibt es in den heutigen "Demokratien" eine Welle illegitimer Herrschaft? Und wie sollten sich besorgte Bürger gegen unrechtmäßige Entscheidungen von Politikern und des Obersten Gerichtshofs zur Wehr setzen?
Noam Chomsky: Der Klassenkampf hört nie auf. Die eine Seite, die Unternehmerklasse, die "Herren der Menschheit", wie Adam Smith es ausdrückte, ist ständig aktiv im Konflikt, und zwar mit nicht wenig Leidenschaft in einem Land wie den USA, das ein außergewöhnlich hohes Klassenbewusstsein bei den Unternehmern aufweist. Wie Smith schon vor 250 Jahren feststellte, streben sie danach, die staatliche Politik zu kontrollieren und für ihre eigenen Interessen einzusetzen, was ihnen in der Regel auch gelingt, wenn auch mit gelegentlichen partiellen Rückschlägen.
Wenn ihre Opfer geschlagen werden oder sich aus dem Kampf zurückziehen, erringen sie für sich enorme Siege. Das haben wir in jüngster Zeit beim neoliberalen Rückschritt erlebt, der als großer Raubzug auch die Demokratie untergraben hat. Das ist ein grundlegender Faktor für den Aufschwung der illegitimen Herrschaft in den erodierenden Demokratien von heute und für die allgegenwärtige Wut, den Groll und das Misstrauen gegenüber jeglicher Form von Autorität.
Es gäbe natürlich viel darüber zu sagen, warum und wie dieser überwältigende Sieg errungen wurde, aber das würde den Rahmen dieser Diskussion sprengen. Wir sollten uns jedoch über den täuschenden Charakter von Sprüchen wie "den Markt regieren lassen" und anderer Phrasen im Klaren sein, die kaum als Karikaturen durchgehen können.

Die Fesseln der ideologischen Kontrolle sprengen

Die Grenzen dieses Triumphs der illegitimen Autorität können nur von einer engagierten Öffentlichkeit festgelegt werden, so wie es in den 1930er Jahren und in anderen Perioden der Geschichte geschah, als die "Herren" etwas gezähmt wurden. Es gibt keine pauschalen Antworten auf die Frage nach geeigneten Maßnahmen. Es gibt allgemeine Leitlinien und Zielsetzungen, aber taktische Entscheidungen hängen von den Umständen ab. Und sie sind nicht als rein taktisch zu verunglimpfen. Es sind die Entscheidungen, von denen das Leben der Menschen abhängt – in der heutigen Zeit sogar das Überleben.
Umfragen zeigen, dass eine überwältigende Mehrheit der Amerikaner größere Änderungen am politischen System des Landes wünscht. Wie können wir das politische System der USA verbessern? Welche Regeln müssen zum Beispiel geändert werden?
Noam Chomsky: Ich bin mir nicht sicher, was die Mehrheit will. Darüber hinaus wird das, was die Menschen wollen, durch die von ihnen wahrgenommenen Möglichkeiten bestimmt. Diese wiederum werden weitgehend durch die herrschenden Institutionen strukturiert, die zu einem erheblichen Teil in den Händen der "Herren der Menschheit" liegen.
Heute sind die Optionen zum Beispiel "Arbeit finden oder verhungern", so dass der Arbeitsplatz als eines der höchsten Ziele im Leben angesehen wird. In den Anfängen der industriellen Revolution betrachteten die Amerikaner "Arbeit finden" als einen unerträglichen Angriff auf die Menschenrechte und die Würde des Menschen.
Sie verstanden, dass das bedeutet, sich für den größten Teil der Lebenszeit einem Herrn unterzuordnen. Und sie hatten Alternativen vor Augen. Der Slogan der Knights of Labor, der ersten großen Arbeiterorganisation, lautete: "Diejenigen, die in den Fabriken arbeiten, sollten sie besitzen". Alles jenseits dessen wurde als unerträglich empfunden.
Währenddessen strebten die Landwirte in den damals überwiegend agrarisch geprägten USA ein genossenschaftliches Gemeinwesen an, in dem die Landwirte zusammenarbeiten sollten, unabhängig von den Bankiers und Unternehmern des Nordens. Es war eine echte populistische Bewegung, die Kontakte mit den Knights zu knüpfen begann. Ihre Bemühungen wurden durch staatliche und Unternehmer-Gewalt zerschlagen. Eine von vielen Niederlagen radikaler Demokratievorstellungen. Und schließlich änderte sich das, "was die Leute wollen", als sich die Möglichkeiten, die sie sich vorstellen konnten, schrumpften.
Die Aufgabe von politischen Organisatoren und Aktivisten besteht zunächst darin, die Fesseln der ideologischen Kontrolle zu sprengen und den Menschen zu helfen, zu verstehen, dass es andere Sichtweisen auf die Welt gibt als die, die von den Herrschenden und ihren ideologischen Institutionen vorgegeben werden. Das macht es möglich, dass sich die Wünsche der Menschen ändern können. Dann stellt sich die entscheidende Frage, was geändert werden sollte und wie.

Was halten Sie von radikalen Klimaprotesten?

Die Klimakrise verschärft sich. Hitzewellen brechen in weiten Teilen der Vereinigten Staaten Rekorde und ein aktueller Bericht über die Dürre in Frankreich zeigt, dass der Klimawandel "außer Kontrolle gerät". Es überrascht nicht, dass die Klimaproteste weltweit häufiger und aggressiver geworden sind. Helfen oder behindern disruptive Klimaproteste die Beschleunigung eines nachhaltigen Übergangs?
Noam Chomsky: Hier stehen wir vor schwierigen Fragen der Taktik, die wie immer von entscheidender Bedeutung sind. Welche Art von Taktik wird mehr Menschen dazu bringen, sich aktiv für die Abwendung des sechsten Aussterbens zu engagieren und die menschliche Gesellschaft vor der drohenden Katastrophe zu bewahren, in die die Herrschenden sie treiben? Und welche taktischen Entscheidungen werden dieses wesentliche Ziel unterminieren, indem sie die Menschen entfremden? Es gibt keinen Algorithmus, keine allgemeine Antwort. Sie muss sorgfältig durchdacht werden. An verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten wird es unterschiedliche Antworten geben.
Man kann nicht oft genug und nicht intensiv genug betonen, wie kritisch diese Krise ist. Wir rasen mit erschreckender Geschwindigkeit auf eine Katastrophe zu, die durch die jüngsten Ereignisse noch beschleunigt wurde. Die russische Invasion in der Ukraine hatte enorme Auswirkungen auf die Produktion fossiler Brennstoffe, die uns bald vernichten wird, wenn sie nicht eingedämmt wird. Der Krieg machte die begrenzten Schritte zur Abwendung der Katastrophe zunichte. Wenn das so weitergeht, sind wir dem Untergang geweiht.
Gibt es einen Grund zu der Annahme, dass die nächste Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung, die vielleicht auf einer grünen Revolution beruht, tatsächlich eine größere Legitimität haben und demokratischer sein wird als die derzeitige sozioökonomische Ordnung?
Noam Chomsky: Eine vorrangige Frage ist, ob es eine nächste Phase der wirtschaftlichen Entwicklung geben wird. Oder ob es überhaupt eine nächste Stufe der Menschheitsgeschichte geben wird, abgesehen von "sauve qui peut", "Nimm mit, was du kannst", und entkomme vielleicht der Zerstörung und dem Chaos, indem du versuchst in Elon Musks letztes Raumschiff zum Mars zu kommen.
Die nächste Etappe wird entweder das sein, oder es wird eine grüne Revolution sein, eine echte: kein Greenwashing, keine der Täuschungen, die die fossile Brennstoff- und Finanzindustrie sehr gekonnt beherrscht. Wir wissen, was getan werden muss und getan werden kann, was machbar ist. Die Mittel sind vorhanden. Die Frage ist nur, ob wir den Willen und das Verantwortungsbewusstsein besitzen.
Wenn wir es so weit schaffen sollten, gibt es Gründe genug davon auszugehen, dass eine echte grüne Revolution zu einer weit humaneren Gesellschaftsordnung und einem deutlich besseren Leben führen kann.
Wir haben die Wahl, viel Zeit zu Wählen gibt es aber nicht mehr.

Copyright: Truthout.org, Wiederabdruck nur mit Genehmigung.