Nordafrika: Regionalpolitische Fronten in Bewegung

Seite 2: Rückmeldung aus dem Jenseits

Es wirkte wie eine Rückmeldung aus dem Jenseits. Am 13. Dezember 2020 publizierte das Twitterkonto des seit genau einem Jahr und einen Tag zuvor gewählten algerischen Staatspräsidenten Abdelmadjid Tebboune eine Videoansprache des 74jährigen.

Im Laufe des Tages wurde die zwei Minuten und zwanzig Sekunden währende Sequenz auch durch den staatlichen Fernsehsender EPTV übernommen. Viele Zuschauer zeigten sich überrascht, denn zu dem Zeitpunkt hatten sie gar nicht mehr damit gerechnet.

Tebboune war seit Wochen aus dem nordafrikanischen Land abwesend. Nachdem die Lungenkrankheit Covid-19 bei ihm festgestellt worden war, wurde er am 28. Oktober 2020 nach Deutschland ausgeflogen, in eine zunächst ungenannte Klinik mit Fachkapazitäten für Lungenbehandlung. Es handelte sich um die Universitätsklinik Köln. Wie man in den Tagen vor Weihnachten in Kreisen der politischen Elite in Algier erfuhr, wurde aus Anlass der Behandlung gleich noch festgestellt, dass Tebboune auch einen Schlaganfall erlitten hatte.

Nadir (Vorname verändert), ein in der Universitätsklinik in Bab el-Oued - einem Stadtteil der algerischen Hauptstadt - tätiger Lungenfacharzt, kommentiert, es wirke "wie ein Déjà-Vu" auf ihn. Die Situation erinnert nicht nur ihn an die mit dem im April 2019 durch massive Proteste kurz vor seiner Wiederwahl aus dem Amt geschassten Staatsoberhaupt Abdelaziz Boutefliqa (eingedeutscht: Bouteflika).

Dieser war nach einem Schlaganfall 2013 monatelang in einem Militärkrankenhaus in Paris behandelt worden und blieb danach über Jahre hinaus aus der Öffentlichkeit verschwunden - die Amtsgeschäfte erledigten Personen aus seiner Umgebung wie sein Bruder Saïd Bouteflika, die mittlerweile wegen quasi-mafiöser Geschäftsbeziehungen zu langjährigen Haftstraften verurteilt wurden und heute das Gefängnis von El-Harrasch im Westen von Algier bevölkern.

"Algerien scheint kein Glück mit seinen Präsidenten zu haben", merkt Nadir trocken an, "vielleicht ist ja El-Kursi mit einem Fluch behaftet". Als "el-kursi" (wörtlich: "der Stuhl") bezeichnet man in Algerien den Sitz der Machthaber, die Metapher wird allgemein verstanden. Im Gespräch stellt sich heraus, dass er von der Staatsmacht wenig erwartet, eine von bürokratischen Hürden und Kartellen befreite Marktwirtschaft dagegen als positive Alternative betrachten würde.

Kurz vor dem Jahreswechsel kehrte Tebboune dann nach Algier zurück.

Insider-Kapitalismus und Unmut

Ein Teil der Opposition gegen die regierende Oligarchie, die seit drei Jahrzehnten eine Art Insider-Kapitalismus praktiziert, allerdings mehr mit Importlizenzen als mit Produktion im eigenen Land verdient, denkt so. Auch, weil die politische Elite zum Gutteil noch aus der staatssozialistischen Ära der sechziger bis achtziger Jahre stammt, selbst wenn von den damaligen entwicklungspolitischen Ansprüchen und kollektiven Idealen wenig übrigblieb.

Der junge Anwalt Farid glaubt, vielleicht sei Tebboune nur ein Übergangspräsident und bleibe nicht wie Bouteflika - er war 1999 erstmals ins Amt gewählt worden - auch Jahre nach Erreichen der Amtsunfähigkeit noch am Sessel, am "kursi" kleben. Er hofft auf Neuwahlen im Präsidentenamt und darauf, der inner circle des Regimes werde mit dem früheren Kulturminister der Jahre 2015 bis 2019, Azzedine Mihoubi, einen etwas jüngeren "offiziellen Kandidaten" ins Rennen schicken. (Dieser 61jährige hatte bei der Präsidentschaftswahl im Dezember 2019 mit offiziellen 7,3 Prozent als Vierter abgeschnitten. Seit vorigem Jahr nimmt er auch den Vorsitz des RND oder der "Nationalen demokratischen Sammlung", einer Dauer-Regierungspartei seit 1997, ein.) So weit jedenfalls sein Standpunkt.

Tatsächlich kündigte Tebboune in seiner unerwarteten Ansprache auch an, bis zum Jahresende solle den Stimmberechtigten eine neue Wahlmitteilung per Post zukommen. Unklar bleibt bislang allerdings, ob es sich tatsächlich um eine neue Präsidentschaftswahl handeln wird oder aber, was sehr viel wahrscheinlicher klingt, um eine Neuwahl des Parlaments.

Letzteres war zuletzt 2017 für eine fünfjährige Legislaturperiode gewählt worden, in der Spätphase der Bouteflika-Ära. Seine Mitglieder dürften heute jedoch nur eine geringe Legitimität aufweisen, angesichts der massiven gesellschaftlichen Protestmobilisierung, die 2019 und noch Anfang 2020 im Zuge des Hirak (Dialektarabisch, abgeleitet von al-harakat, "die Bewegung") stattfand. Wie sehr der Unmut noch schwelt, belegt die Beteiligung an dem Referendum, mit dem von offizieller Seite her die reformierte Verfassung am 1. November abgesegnet werden sollte. Nur 23,7 % der Stimmberechtigten nahmen an ihm teil.

Corona-Epidemie: Kein gutes Klima für Proteste

Letztere ist derzeit ausgesetzt. Im März 2020 unterbrach der Hirak selbst seine Demonstrationen aus Rücksichtnahme auf die mit der Covid 19-Pandemie verbundenen Risiken. Im Juni kam es zum Versuch, die Proteste wiederanzufachen, die jedoch zunächst durch massive Repression eingedämmt werden konnten. Derzeit wird Algerien massiv durch die "zweite Welle" der Pandemie erfasst, Restaurants und Veranstaltungsräume sind geschlossen, und ab 20 Uhr bis zum Morgengrauen herrscht eine streng überwachte allgemeine Ausgangssperre.

Die Grenzen sind weitestgehend geschlossen, Ein- und Ausreisen sind seit dem 17. März 2020 nur mit Sondergenehmigungen möglich. Kein gutes Klima für Proteste. (Ab Januar 21 soll nun auch in Algerien eine Impfkampagne starten.)

Ansonsten setzt die Regierung stark darauf, Religion werde für eine Befriedung des gesellschaftlichen Klimas sorgen. Anfang November 2020 wurde in Algier die drittgrößte Moschee des Planeten, nach denen von Mekka und Medina in Saudi-Arabien, doch die mit dem weltweit höchsten Minarett-Turm eingeweiht. Das Bauwerk soll bis zu 36.000 Menschen zum Beten Platz bieten. An Planung und Bau waren auch deutsche Architekturbüros beteiligt. Das auffällige, nicht spitz zulaufende, sondern in einem Rechteck endende Minarett ist von vielen Stellen in Algier, aber auch vom Flugzeug aus weithin zu erkennen.

Große Moschee von Algier. Foto: Bernard Schmid

Massiv protestiert wurde allerdings im Oktober und November gegen Feminizide und Gewalt gegen Frauen, nachdem Anfang Oktober die Leiche des Opfers Chaïma Saadou an einer Tankstelle in Thénia, einer Kommune östlich von Algier, aufgefunden worden. Die 19jährige war durch einen Mann, der ihr seit Jahren nachstellte und dessen Avancen sie abgewiesen hatte, vergewaltigt und lebendig verbrannt worden. Sie hatte zuvor Strafanzeige gegen ihn gestellt, die jedoch folgenlos geblieben war.

Protestkundgebungen etwa vor der Universität Algier, Künstlerinnen-Auftritte und eine Mobilisierung bei den sozialen Medien machten auf das Thema aufmerksam und erfassten selbst relativ konservative Kreise. In der etablierten Politik wurde die Problematik eher unter dem Aspekt einer Wiedereinsetzung der Todesstrafe debattiert.

In Algerien wurden bis Mitte November 2020 insgesamt 45 Frauenmorde im laufenden Jahr verzeichnet. Dieses Thema betrifft nicht nur Algerien, wühlt das nordafrikanische Land aber in diesen Wochen erstmals in diesem Ausmaß öffentlich auf.

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