Nordkaukasus: Ausweitung der Kampfzone
Tschetschenien ist durch das brutale Regime von Kadyrow "befriedet", der Konflikt mit Separitisten und Islamisten hat sich in die Nachbarrepubliken verschoben
Am Montag wurde ein Bombenanschlag auf den Präsidenten der nordkaukasischen Teilrepublik Inguschetien verübt. Dieser Anschlag stellt den bisherigen Höhepunkt der Aktionen islamischer Separatisten auf dem Territorium der Kaukasusrepublik dar. Bereits in den letzten Wochen sind mehrere Vertreter der Staatsgewalt in der vorwiegend von Moslems bewohnten Teilrepublik ums Leben gekommen. Ein Umstand, der für den Kreml einen herben Rückschlag in seinen Friedensbemühungen bedeutet, denn im Gegensatz zu seinem Vorgänger sollte Junus-Bek Jewkurow ausgleichend und dialogbereit in Inguschetien für Frieden sorgen. Doch anscheinend lassen sich die Fehler der bisherigen Nordkaukasuspolitik, die in erster Linie für die Ausweitung des Konflikts von Tschetschenien auf die gesamte Region verantwortlich ist, nicht so schnell wiedergutmachen, wie von Moskau erhofft.
Der Tschetschenienkrieg ist beendet, auch wenn er offiziell nie stattfand. Als einen Anti-Terroreinsatz bezeichnete die russische Regierung den Einsatz ihrer Armee in der einst abtrünnigen Teilrepublik, der 10 Jahre dauerte und im April dieses Jahres vom Kreml als für erfolgreich beendet wurde (Russland erklärt Ende des Tschetschenienkriegs). Doch trotz der vermeintlichen Ruhe, die momentan in der einst abtrünnigen Republik herrscht, bedingt durch die Moskauer Hilfe beim Wiederaufbau und das brutale Regime von Ramsan Kadyrow, ist sich der Kreml bewusst, dass Tschetschenien noch weit entfernt ist von einem normalen Frieden. Schlimmer noch, nicht nur Tschetschenien, wo der Anti-Terroreinsatz nach Mutmaßungen einiger russischer Zeitungen wegen der zu hohen Kosten beendet wurde, sondern der gesamte Nordkaukasus, wohin sich der Aktionsradius der islamischen Separatisten verlagert hat, sind noch weit entfernt von einem Alltag, der als friedlich bezeichnet werden kann.
Bestes Beispiel dafür sind die jüngsten Ereignisse. Am Montagmorgen verübte in Nasran ein Selbstmordattentäter, bewaffnet mit 70 Kilogramm TNT, einen Anschlag auf die Wagenkolonne des inguschetischen Präsidenten Junus-Bek Jewkurow, als diese gerade auf dem Weg in die Hauptstadt Magas war. Dabei ist der Leibwächter des Präsidenten ums Leben gekommen, während Jewkurow, ebenso wie sein Bruder Uwais, der die Leibgarde des inguschetischen Präsidenten leitet, und sein Fahrer, schwer verletzt wurden. Noch am selben Tag wurden die drei Opfer in ein Moskauer Krankenhaus gebracht, wo sich deren Zustand nach russischen Presseangaben stabilisiert haben soll.
Der Bombenanschlag auf Junus-Bek Jewkurow ist nur ein weiterer blutiger Höhepunkt der letzten drei Wochen. Am 10. Juni wurde in Nasran der Wagen der stellvertretenden Vorsitzenden des Obersten Gerichts, Asga Gasgerejewa, auf dem Weg zur Arbeit beschossen. Noch auf dem Weg ins Krankenhaus erlag die Juristin ihren Verletzungen. Drei Tage nach dem Anschlag auf Asga Gasgerejewa wurde auf den ehemaligen Vize-Premier Inguschetiens, Baschir Auschew, ein Attentat verübt. So wie Gasgerejewa, verstarb auch Auschew auf dem Weg ins Krankenhaus.
Der ehemalige Fallschirmjäger Junus-Bek Jewkurow, der während des Kosovo-Krieges jene russische Einheit kommandierte, die den Flughafen in Pristina besetzte, sollte dieser Gewalt ein Ende machen. Im Oktober 2008 machte der Kreml den Nordosseten zum Präsidenten der nordkaukasischen Republik und zum Nachfolger des damals zurückgetretenen Staathalters Murat Sjasikow. Eine schwere Aufgabe, die Jewkurow auch anders bewältigte als sein Nachfolger. Mit Transparenz, Dialogbereitschaft und einer Kampfansage gegen die Korruption, dem größten Übel der russischen Bürokratie, welcher Dimitrij Medwedew den Kampf angesagt hat (Auf dem Weg zur Modernisierung Russlands?), wollte der ehemalige Soldat die Verhältnisse in der Nordkaukasusrepublik ändern. Selbst die russische Menschenrechtsorganisation Memorial lobte ihn dafür.
Willkür der Staatsgewalt und schlechte Wirtschaftslage vergrößern die Sympathien mit den Rebellen
Doch die politische Altlast, die Jewkurow von seinem Vorgänger erbte, hat momentan noch größeren Einfluss auf den Alltag in Inguschetien als die versöhnlichere Politik des seit Oktober amtierenden Präsidenten. Denn der ab 2002 regierende Sjasikow ging mit aller Härte gegen politische Gegner, Terroristen oder Terrorverdächtige vor. So kritisiert Amnesty International in seinem aktuellen Länderbericht zu Russland willkürliche Verhaftungen, Folterungen und außergerichtliche Hinrichtungen in Inguschetien und dem gesamten Nordkaukasus. In den Jahren 2007 und 2008 begangene Menschenrechtsverletzungen, die auch Human Rights Watch in seinem Bericht zur Lage in Inguschetien kritisiert und sie sogar als „schmutzigen Krieg bezeichnet“.
Es sind jedoch nicht diese Menschenrechtsverletzungen, die Murat Sjasikow im Ausland bekannt machten und im Kreml in Verruf brachten, sondern der mysteriöse Tod des kritischen Online-Journalisten Magomed Jewlojew, für den der ehemalige FSB-Mann verantwortlich gemacht wird. Am 31. August ist der Betreiber der Internetseite Ingushetiya.ru direkt nach der Landung in Magas von der Miliz verhaftet und wenig später schwer verletzt auf der Straße aufgefunden worden. Wenig später erlag er seinen Verletzungen im Krankenhaus. Während die staatlichen Organe von einem bedauerlichen Unfall sprachen, ausgelöst durch ein Handgemenge, bei dem sich ein Schuss gelöst und Jewlojew an der Schläfe getroffen haben soll, gehen Oppositionsgruppen bis heute von einer Hinrichtung aus. Grund für diese Annahme ist nicht nur die kritische Haltung des Toten gegenüber dem Regime in Inguschetien, sondern auch Streit zwischen Jewlojew und Sjasikow, der sich auf dem Flug nach Magas ereignet haben soll.
Und dass diese Politik der harten Hand tiefe Wunden hinterlässt und die Menschen in die Arme der aus Tschetschenien stammenden islamischen Separatisten treibt, die im Nordkaukasus ein Kalifat mit der Scharia als Gesetzbuch errichten wollen, zeigen die neusten Ermittlungen der russischen Staatsanwaltschaft. Nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Interfax, soll eine junge Frau namens Pjatimat Mutalijewa für das Attentat auf Junus-Bek Jewkurow verantwortlich sein. Angebliches Motiv für diese Tat soll der Tod ihrer zwei Brüder sein, die bei einem Anti-Terroreinsatz von russischen Sicherheitskräften umgebracht wurden.
Doch nicht nur das harte Vorgehen gegen die islamischen Separatisten, deren Kampf an Aggressivität zugenommen hat, steigert die Sympathien der Bevölkerung für die Gotteskämpfer. Auch die miserable Wirtschaftslage in den nordkaukasischen Republiken bringt die Menschen gegen die Regierung in Moskau auf. So wird allein in Inguschetien die Arbeitslosenquote auf 80 Prozent beziffert. Ein Umstand, der die Teilrepublik, in der 100.000 Kriegsflüchtlinge leben und in der Polizeiwillkür und Korruption zum Alltag gehören, zu einem Pulverfass macht.
Nicht besser sieht die soziale Situation in den anderen russischen Republiken des Nordkaukasus aus. So leiden auch die Menschen in Dagestan und Kabardino-Balkarien unter Arbeitslosigkeit und Armut. Und dass dies mitverantwortlich ist für die Zunahme des Terrors, erkannte sogar Dimitrij Medwedew. Während eines Besuchs in Dagestan Anfang Juni rief der russische Präsident zur Bekämpfung der Armut im Nordkaukasus auf.
Der Ort und der Zeitpunkt dieses Appells waren nicht zufällig. Am 9. Juni tagte in Dagestan der russische Sicherheitsrat über das weitere Vorgehen gegen den Terrorismus. Anlass für dieses Treffen war der Tod des dagestanischen Innenministers Adilgerej Magomedtagirow, der wenige Tage zuvor bei einer Hochzeitsfeier erschossen wurde. Auch wenn hinter diesem Anschlag Teile der Sicherheitskräfte vermutet werden, verharmlost dies nicht den Terrorismus in der russischen Teilrepublik. Fast täglich finden in Dagestan Anschläge auf Milizionäre und andere Sicherheitskräfte statt. Mit für die Sicherheitsorgane hohen Verlusten. Wie Medwedew in Dagestan erklärte, gab es allein im letzten Jahr 308 Terrorakte im gesamten Nordkaukasus, von denen über hundert Sprengstoffanschläge worden, bei denen 75 Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden und 48 Zivilisten ums Leben kamen. Die Zahl der „liquidierten“ Terroristen gab der russische Präsident mit 112 an.
Und weitere Todesopfer dürften hinzukommen. Sowohl in Dagestan als auch in Inguschetien finden schon seit Wochen Sonderaktionen der Sicherheitsbehörden statt. Allein in Inguschetien, wo auch tschetschenische Sicherheitsorgane operieren, sollen nach Angaben des dortigen Innenministeriums zwischen dem 16. Mai und dem 4. Juni 22 Terroristen umgebracht worden sein. Und die Zahl dürfte in den nächsten Monaten steigen.
Als Antwort auf die jüngsten Ereignisse kündigte Moskau harte Maßnahmen gegen die Terroristen in Inguschetien an. Und diese Maßnahmen soll kein geringerer als der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow durchführen. Ein Mann, der nicht nur die einst abtrünnige Republik mit seinem Regime terrorisiert, sondern politische Gegner und Kritiker auch im Ausland verfolgt (Es geschah am hellichten Tag). Es ist eine Entscheidung, die im Nordkaukasus noch mehr zur Eskalation beitragen dürfte.