Notabene Corona

49. Frankfurter Römerberg-Gespräche zur Pandemie: noch ein paar Auskünfte über die Wissenschaft statt von ihr (Teil 2 und Schluss)

Philosophische Vorbehalte

Auch die Berliner Philosophin Romy Jaster erläuterte ihre zentrale These an einfachen Beispielen. Ihre "Take-Home-Message" laute, dass es trotz gegenteiliger Bekundungen ihres Fachs eine objektive Wahrheit gebe, und dass sie das sei, "was der Fall ist". Die Aussage "Es regnet in Berlin" sei deshalb entweder richtig oder falsch, aber keineswegs wahrheitsmäßig unentscheidbar. Das gelte auch für eine Fliege auf Napoleons Nase, die entweder dort saß oder nicht, selbst wenn keiner das wisse. Den fraglichen Zusammenhang zum Pandemie-Thema wollte Jaster darin sehen, dass die Wissenschafts-Skepsis von der Universität in die Gesellschaft eingesickert sei und es dort den Theorien der Corona- und Maßnahmen-Kritiker leicht mache.

Das engagierte, aber recht banale Plädoyer der Philosophin für die Erkennbarkeit der Wahrheit kündet auf seine Weise davon, wie zerredet und bestritten dieselbe an Universitäten und anderswo inzwischen ist. Forschung und Lehre haben sich in hinreichenden Teilen und nachhaltig um den Skeptizismus verdient gemacht. Nicht nur die Objektivität des Erkennens wurde erfolgreich bezweifelt, sondern die der Wirklichkeit selber. Sie sei vermutlich ein Konstrukt, Ergebnis eines Verfahrens, das inzwischen auf den Namen "Narrativ" getauft und unter ihm popularisiert wurde.

Dem zufolge sollen sogar das Patriarchat oder die Nation aus so einer Erzählung hervorgehen. Der Sprache wird dabei die Leistung zugeschrieben, Realitäten, Gender und Geschlecht zum Beispiel, performativ zu erzeugen. Wobei die Skepsis ebenfalls und im Kontrast dazu lehrt, wie unzuverlässig die Bedeutung der Wörter sei.

Als treffendes Beispiel einer solchen Denkungsart holte Jaster ein Zitat ihres Gesprächspartners Stichweh hervor: "Wir reden eigentlich nie über Wirklichkeit, sondern über bestimmte Sätze, die Wissenschaftler über Wirklichkeit produzieren. Eigentlich sprechen wir nur über Kommunikation, die andere Kommunikation zu beeinflussen versucht."1

Leider kam Jasters Kritik daran über ihren Satz vom Wahren, das der Fall sei, nicht hinaus. Sie handelte sich damit Stichwehs Replik ein, die Relativitätstheorie zum Beispiel sei "an der Wirklichkeit gar nicht ablesbar", also wie alle Wissenschaft nur Hypothese und Konstruktion. So geht der Fehlschluss aus dem Umstand, dass Theorien im Kopf stattfinden und nicht ihrem Gegenstand aufgeschrieben sind, worin dessen Unerkennbarkeit begründet sein soll und sich - Stichwort Kommunikation - nur Mutmaßungen austauschen und abwägen ließen.

Stichweh wäre auch zu sagen gewesen, dass er sich bei seiner Bezweiflung objektiver Erkenntnis nicht nur auf die Eindeutigkeit der Sprache verlässt, in der er das tut, sondern auch darauf, dass wenigstens der Satz vom ungesicherten Wissen gesichertes Wissen sein muss, um ihn geltend zu machen.

Das intellektuelle Milieu der beschriebenen Art ist eine Quittung für den staatlich geforderten und akademisch eingesehenen Wissenschaftspluralismus. Er besteht in der Koexistenz differenter Aussagen, die sich als Lehrmeinungen behaupten, indem sie sich im Wahrheitsanspruch zurücknehmen - und damit das anerkennen, was eine erfolgreiche Herrschaft verfügt. Die vom demokratischen Staat etablierte Kultur des freien Meinens - und nicht die von Jaster angeführte Wissenschaftsskepsis - ist dann auch der Hebel, den die Querdenker für sich zum Einsatz bringen wollen.

Auch sie beharren nicht auf der Wahrheit ihrer "Narrative", sondern darauf, dass man sie doch "wohl sagen dürfen" muss. Staatliche Lockdowns gelten ihnen dann getrennt vom seuchenpolitischen Zweck als Corona-Diktatur.

Demokratische Infektionsabwehr

Der eingeladene Autor Thomas Brussig ("Sonnenallee") konnte dem Diktatur-Begriff sogar etwas abgewinnen, dergestalt, dass er "keine Angst hätte, wenn Experten das Sagen haben". Die Demokratie jedenfalls sei "kein guter Pandemiebekämpfer".

Es war klar, dass sich solchen Äußerungen keine Sachdiskussion anschloss, die sich um die medizinische Logik, die demokratischen Eigenheiten oder die staatliche Praxis andernorts gekümmert hätte. Der wird im Fall von "autokratischen Staaten" demokratischerseits oft kein eigentlich gesundheitspolitischer, sondern im Grunde der negative Zweck der Freiheitsberaubung unterstellt. Die zu Beginn der Epidemie vorhandene Überzeugung, "auch bei Viren hat die Demokratie Vorteile", denn "Demokratien sind resistenter"2, hat die Infektionswellen überlebt und landet ohne Umschweife im Systemvergleich.

Ob es die DDR denn besser gemacht hätte, fragte der Moderator, und die FAZ3 ergänzte "ohne die Zivilbevölkerung zu drangsalieren". Früher hätte man "Geh‘ doch rüber!" gesagt. Brussigs Gesprächspartner, der Frankfurter Rechtsphilosoph Günter Frankenberg, präsentierte die demokratische Alternative, "mehr Freiwilligkeit zu wagen" und "mehr Realangst zuzulassen" - also "mit Luhmann den Staat durch sein Verfahren zu legitimieren". In Sachen Virusbekämpfung sind solche Forderungen zwar disparat, was als Einwand aber deplatziert wäre, wenn es darauf ankommt, dass ein Rechtsgut und sein Stifter sich von der Pandemie erholen.

Angstmanagement

Von Angst handelte auch die Berliner Historikerin Birgit Aschmann. Schon die Geschichte von Pest und Cholera habe gezeigt, dass ein "Staat mit seinen Sicherheitsversprechen Ängste managen" kann. Das ist zwar kein herrschaftlicher Zweck, noch nicht einmal ein Verfahren, auch wenn Spin Doctors daran herumdenken.

Die Staatsräson ist keine angewandte Massenpsychologie. Aschmanns akademischer Gesichtspunkt lässt sich aber zu einem staatlichen Ordnungsproblem ausbauen, das wie selbstverständlich vorzuliegen scheint. Demnach gelte es, die "Ambivalenz" zu beachten, dass der Staat ein Maß an Angst brauche, um seine Maßnahmen zu rechtfertigen, ein Übermaß aber fatal sei, weil es ihn delegitimiere. Auch eine Deutung der Widersprüche kapitalistischer Pandemie-Politik und eine Auskunft, in welcher Art die Wissenschaft sich mitsorgt.

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