Nutzung freier Technologien: "Da sehe ich ein Wissensdefizit in der Bevölkerung"

Seite 2: Die produktive Rolle von Open-Source-Geschäftsmodellen

Spielt die berüchtigte "Tragödie der Allmende" (engl. tragedy of the commons), die Verwahrlosung von Gemeinschaftsbesitz durch widerstreitende Nutzerinteressen, eine Rolle?

Stefan Mey: Nein, das klassische Allmende-Problem gibt es in der digitalen Welt nicht. Anders als bei einer öffentlichen Grünfläche macht man sich bei der Nutzung digitaler Güter keine Konkurrenz. Mein eigener Nutzen von Wikipedia, LibreOffice oder Linux wird nicht dadurch geringer, das Millionen andere Menschen dieses Gut zeitgleich konsumieren.

...aber problematisch ist es, wenn nur wenige den Wert schaffen, von dem alle profitieren.

Stefan Mey: Ja, das ist natürlich das alte Problem. Ich habe allerdings den Eindruck, dass das erstaunlich gut klappt. In Wikipedia-Communities hört man regelmäßig die Klage über zu wenig Nachwuchs. Trotzdem enthält die deutschsprachige Wikipedia mehr als 2,8 Millionen Artikel, die oft sehr ausführlich, detailliert, korrekt und auch aktuell sind.

Hinzu kommt die produktive Rolle von Open-Source-Geschäftsmodellen. Die digitale Gegenwelt ist auch deshalb so groß, weil Unternehmen bereitwillig Ressourcen bereitstellen. Hinter dem freien Content-Management-System Wordpress steht maßgeblich das Milliarden-schwere Unternehmen Automattic.

Im Linux-Kosmos tummeln sich zwar viele Menschen, die sich als anti-kommerzielle Hacker verstehen, Hoodies tragen und am liebsten in Hacker Spaces abhängen. Unternehmen spielen aber ebenfalls eine Schlüsselrolle. Linux Ubuntu, Fedora sowie openSuse sind allesamt Gemeinschafts-Entwicklungen von Firmen und Communities.

Und auch auf der Ebene von Einzelpersonen gibt es Open-Source-Geschäftsmodelle.

Wie geht das?

Stefan Mey: In den Communities freier Softwareprojekte sind viele IT-Freelancer aktiv. Denen gelingt es oft sehr gut, ihre ehrenamtliche Arbeit mit ihrer Erwerbsarbeit zu verbinden. Durch das Know-how, das sie im Projekt erwerben, und durch das Netzwerk kommen Sie leichter an gut bezahlte Aufträge.

Leute in der analogen Zivilgesellschaft können von einer solchen Dynamik nur träumen. Wer sich bei der Letzten Generation, der Freiwilligen Feuerwehr oder der Antifa engagiert, profitiert davon nicht automatisch in seinem Erwerbsleben.

"Viel läuft in IT-Projekten über Meritokratie"

Eine Frage, die sich bei den Alternativprojekten auch aufdrängt: Wie kommt (zielgerichtete) Ordnung in dezentrale Systeme? Wie schützen sich Initiativen wie das, wie Sie schreiben, "glamouröseste" Vorzeigeprojekt Wikipedia gegen Einflussnahme und schließlich dagegen, dass die versprochene Demokratisierung nur ein Scheinversprechen ist?

Stefan Mey: Die digitalen Communities stehen vor der gleichen Herausforderung wie analoge Bewegungen. Man will möglichst offen und partizipativ sein.

Andererseits geht es aber nicht gänzlich ohne formale Machtstrukturen. Die stellen sicher, dass die Qualität der Software oder des Inhalteprojekts stimmt und dass nicht undemokratische, informelle Strukturen den Ton angeben.

Viel läuft in IT-Projekten über Meritokratie. Dieses "Wer mitmacht, darf mitbestimmen"-Prinzip ist meiner Meinung nach der sinnvollste und fairste Mechanismus, Macht zu verteilen. Auf der deutschsprachigen Wikipedia beispielsweise hat man ab 150 eigenen Beiträgen Schreibrecht: Eigene Veränderungen sind sofort sichtbar und müssen nicht erst von anderen freigeschaltet werden. Ab 300 Beiträgen ist man "Sichter" und kann Änderungen von Neulingen freischalten oder verwerfen.

Das wichtigste Machtgremium bei Libreoffice ist das Mitglieder-Kuratorium, das den Vorstand der Stiftung The Document Foundation wählt. Anspruch auf einen Sitz in diesem Kuratorium hat laut Satzung, wer "dem Stiftungszweck über mehr als drei Monate nachweisbar Zeit und geistige Arbeit gewidmet hat."

Neben den Communities gibt es oft Organisationen als zweite Säule des Projekts. Bei denen muss man genau hinschauen, wie offen oder geschlossen die Machtstrukturen sind.

Offene Machtstrukturen

Was verstehen Sie unter einer "offenen" Machtstruktur?

Stefan Mey: Die Wikimedia Foundation zum Beispiel, die hinter Wikipedia steht, bemüht sich um eine Einbeziehung der Community. An der Spitze steht ein Vorstand, der sich zur Hälfte selbst wählt, die andere Hälfte der Sitze wird über Community-Wahlen vergeben.

Bei der Organisation hinter dem Browser Firefox hingegen ist das oberste Machtgremium ein Vorstand, der sich ausschließlich selbst ernennt und kontrolliert.

Die Strukturen bei den freien Projekten sind nicht immer so offen und partizipativ, wie man es erwarten könnte. Auch das ist in der analogen Zivilgesellschaft nicht per se anders.

Der Kampf um das Internet – Wie Wikipedia, Mastodon und Co. die Internet-Giganten herausfordern
236 S. C. H. Beck, 2023, 18 Euro
ISBN 978-3-406-80722-0

Zuletzt erschien von Stefan Mey ("Darknet", 2017) das Buch "Der Kampf um das Internet – Wie Wikipedia, Mastodon und Co. die Internet-Giganten herausfordern" (C. H. Beck, 2023). Darin entwirft er eine "Typologie der Digitalen Gegenwelt", die die Errungenschaften der Informationstechnologie gegen staatliche sowie privatwirtschaftliche Angriffe verteidigt und dem kommerziellen Softwareangebot der digitalen Großkonzerne eine gemeinfreie Alternative entgegensetzt.

Neben Kurzporträts einzelner Initiativen und Anwendungen sowie einem Anhang, der Interviews mit bedeutenden Protagonisten der "Commons"-Szene enthält, liefert Meys Buch zugleich einen Einblick in die Organisationsstrukturen, die Herausforderungen und die soziale Dynamik innerhalb der non-kommerziellen, meist ehrenamtlichen Projekte der digitalen Zivilgesellschaft.

Telepolis hat einen Auszug veröffentlicht: "Wer das freie Internet gegen Staat und Konzerne verteidigt"