Obdachlos und systemrelevant: Warum das kein Widerspruch ist

Der Mythos von der "freiwilligen" Obdachlosigkeit hat viel mit den Zuständen in Notunterkünften zu tun. Symbolbild: Magdolna Krasznai V / Pixabay Licence

Wenn in Deutschland Menschen auf der Straße leben, ist das politisch gewollt. Billig ist es nicht. Wofür mit ihrem Elend geworben wird.

Nicht allen ist es sofort anzusehen, aber auch diejenigen, die es aufgegeben haben, sich zu tarnen, oder nicht mehr dazu in der Lage sind, werden mehr: 607.000 Menschen waren in Deutschland letztes Jahr mindestens zeitweise wohnungslos, so die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Das entspricht ungefähr der Einwohnerzahl Stuttgarts.

Eine schockierende Zahl, die noch dazu stark im Steigen begriffen ist: Von 2021 auf 2022 ist sie um etwa 50 Prozent gestiegen. Rund 50.000 Betroffene leben ohne jede Art von Notunterkunft auf der Straße, Wind und Wetter ausgesetzt.

Was tut die Bundesregierung dagegen? Offizielles Ziel ist es, pro Jahr 100.000 Sozialwohnungen zu bauen. Das wäre an sich schon völlig ungenügend, aber auch dieses Ziel wird nicht einmal ansatzweise erreicht: Tatsächlich wurden in den letzten Jahren in Deutschland pro Jahr maximal etwa 25.000 neue Sozialwohnungen gebaut.

Zahl der Sozialwohnungen mehr als halbiert

Das ist zu wenig, um auch nur das weitere Absinken der Zahl der Sozialwohnungen aufzuhalten, denn sozialgebunden sind diese Wohnungen nur für einen begrenzten Zeitraum, bevor sie zu horrenden Mieten auf den wahnsinnig aufgeheizten regulären Wohnungsmarkt geworfen werden können.

1990 gab es in Deutschland noch 2,8 Millionen Sozialwohnungen. 2006 waren es dann 2,1 Millionen. Heute gibt es nur noch eine Million. Dieses drastische Absinken der Zahl der Sozialwohnungen in Verbindung mit der Explosion der Mietpreise erzwingt eine Explosion der Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen.

Ein Zustand, der kontinuierlich immer schlimmer werden wird, denn das deutsche System der zeitlich befristeten Sozialbindung von Sozialwohnungen garantiert bei den aktuell viel zu niedrigen Neubauraten, dass die Zahl der Sozialwohnungen jedes Jahr weiter schrumpfen muss.

Kampf gegen Obdachlose statt gegen Obdachlosigkeit

Diesem systemischen, vorprogrammierten Anstieg der Obdachlosigkeit begegnet man vor allem mit Repression und polizeilicher Schikane. Beispielhaft dafür steht in Berlin der "Leitfaden Obdachlosigkeit", den der damalige Neuköllner Sozialstadtrat und heutige Staatssekretär für Jugend und Familie in der Senatsverwaltung für Bildung, Falko Liecke (CDU) im Frühjahr 2023 vorstellte.

Darin wird die polizeiliche Vertreibung der Obdachlosen von Friedhöfen, Plätzen und Grünanlagen in der Nähe von Schulen gefordert und Obdachlosigkeit zum "Sicherheitsrisiko" erklärt.

Legitimiert wird dieser Law-and-Order-Ansatz damit, dass es sich schließlich um "freiwillige Obdachlosigkeit" handle, wenn jemand im Freien schläft, obwohl er "Hilfsangebote" erhalten und diese abgelehnt habe.

Warum manche "Hilfsangebote" keine Hilfe sind

Bei diesen "Hilfsangeboten" freilich handelt es sich üblicherweise um die Unterbringung in einer Notunterkunft. Notunterkünfte, in die man Haustiere nicht mitbringen darf und in die man meistens seine PartnerIn nicht mitbringen kann.

Notunterkünfte, die oft komplett überbelegt sind, keinerlei Privatsphäre und katastrophale Wohnbedingungen bieten, von schimmligen Wänden bis zu völlig verdreckten Sanitäranlagen. Notunterkünfte, die oft von Gewalt und Konflikten mit psychisch erkrankten Zimmergenoss:innen geprägt sind.

Notunterkünfte, in denen man meistens sowieso nur ein paar Stunden pro Nacht bleiben darf und am frühen Morgen völlig unausgeschlafen wieder hinausgeworfen wird.

Was als "Freiwilligkeit" durchgeht

Wer sich nicht zutraut, diese Zustände aushalten zu können und deshalb immer noch lieber im Schlafsack im Freien zu übernachten, ist für Liecke und unzählige geistesverwandte Kommunalpolitiker:innen also "freiwillig obdachlos".

Das scheinbar Verrückte an der Bereitwilligkeit, mit der der deutsche Staat der sich ständig ausweitenden humanitären Katastrophe der explodierenden Obdachlosigkeit zuschaut, ist die Tatsache, dass die Aufrechterhaltung dieser Obdachlosigkeit ihn sogar sehr viel Geld kostet.

Was Obdachlosigkeit teuer macht

Erstens, weil Notunterkünfte und ihr Personal tatsächlich teurer sind als den Menschen eigene kleine Wohnungen zur Verfügung zu stellen.

Zweitens, weil die entsetzlichen Lebensbedingungen auf der Straße dafür sorgen, dass Obdachlose ständig in Krankenhäusern und Psychiatrien landen oder in die Kriminalität rutschen und ins Gefängnis kommen, was alles mit extrem hohen Kosten verbunden ist.

Und drittens, weil Obdachlosigkeit nahezu ausschließt, dass die Betroffenen wieder erwerbstätig werden können - ohne einen festen Wohnsitz gibt es nicht nur kaum einen Job, Obdachlosigkeit macht auch Behandlung psychischer Erkrankungen oder einen erfolgreichen Drogenentzug unmöglich.

Housing first – warum nicht flächendeckend?

Alle Studien zum Thema zeigen eindeutig, dass die Verwaltung von Obdachlosigkeit nicht nur unmenschlich ist, sondern auch weitaus höhere Kosten verursacht als die Beendigung von Obdachlosigkeit durch einen "Housing first"-Ansatz, der jedem Obdachlosen zuerst einmal bedingungslos eine eigene Wohnung zur Verfügung stellt.

Zweifellos werden diese Studien von der kommunalen bis zur Bundesebene allen verantwortlichen politischen EntscheidungsträgerInnen bekannt sein. Der deutsche Staat weiß, dass die Aufrechterhaltung der Obdachlosigkeit ihn sehr viel Geld kostet.

Warum gibt es in Deutschland – abgesehen von Modellprojekten für wenige Dutzend Personen – trotzdem keine Housing-first-Politik?

Warum lässt der Staat zehntausende bis hunderttausende Menschen langsam auf der Straße und in Notunterkünften verkommen und zugrunde gehen, statt ihnen für weitaus weniger Geld einfach neue Sozialwohnungen zu bauen?

Menschenfeindliche Leistungsideologie

Schlichte reaktionäre, menschenfeindliche Leistungsideologie wird sicher eine Rolle spielen: Wer sich nicht aus eigener Kraft bemüht, an ein ausreichendes Einkommen für eine reguläre Wohnung zu gelangen, hat es nicht anders verdient und es wäre ungerecht, wenn "die Gesellschaft" ihm eine Wohnung zur Verfügung stellen muss.

Aber es mag bis zu einem gewissen Grad auch rationales Kalkül hinter der Entscheidung stehen, durch die faktische Abschaffung des sozialen Wohnbaus die Aufrechterhaltung der Obdachlosigkeit zu erzwingen.

Wenn der Staat zur Lösung der Wohnungskrise unkompliziert Millionen öffentliche Sozialwohnungen für alle Bedürftigen zur Verfügung stellen würde (Was ein Staat, der gerade 100 Milliarden zusätzliche Euro für das größte Aufrüstungsprogramm seit dem dritten Reich beschlossen hat, ohne Zweifel finanziell könnte), wäre das eine Kriegserklärung an das Immobilienkapital.

Verhandlungspositionen

Wer würde an einen privaten Immobilienkonzern noch die in deutschen Großstädten aufgerufenen Mondpreise für Mini-Wohnungen bezahlen, wenn er für einen Bruchteil davon auch eine mindestens genauso große und genauso gut ausgestattete staatliche Wohnung haben kann?

Ein staatliches Wohnbauprogramm in dem Ausmaß, das zur Lösung der Wohnungskrise notwendig wäre, würde zwangsläufig zu einem deutlichen Absinken der Mieten auf dem freien Markt führen - und das kann kaum im Interesse einer Regierung liegen, in der mit der FDP die fanatischste Lobbypartei des Immobilienkapitals überhaupt sitzt. Ein anderer Aspekt kommt dazu.

Wenn jeder jederzeit unkomplizierten, bedingungslosen Anspruch auf eine Wohnung und eine Grundversorgung hat, wenn also das Absinken in existenzbedrohendes Elend kategorisch unmöglich ist, dann verbessert sich die Verhandlungsposition von Erwerbslosen.

Erpressbar für den Standort Deutschland

Wer nicht mehr davon bedroht ist, durch Leistungskürzungen oder gar eine Leistungsstreichung seine Wohnung zu verlieren und ins nackte Elend zu stürzen, der kann vom Jobcenter schwer dazu genötigt werden, völlig unterbezahlte Jobs mit kaum zumutbaren Arbeitsbedingungen anzunehmen.

Um Erwerbslose, die dank gesicherter Existenzgrundlagen selbstbewusster auftreten können, zur Annahme ihrer undankbarsten Jobs zu bewegen, müssten KapitalistInnen höhere Löhne zahlen und bessere Arbeitsbedingungen bieten.

Das würde also höhere Lohnkosten und damit potenziell niedrigere Wettbewerbsfähigkeit des "Standorts Deutschland" bedeuten, wäre also schlecht für das deutsche Kapital. Ein Absenken der Lohnkosten, um dadurch die Produktion in Deutschland billiger und Exporte somit wettbewerbsfähiger zu machen, war aber gerade das Ziel der Agenda 2010.

Umbau zum Niedriglohnland

An den Grundlinien dieses Sozialkahlschlagsprogramms hält jede Bundesregierung fest, seit es unter einer "rot-grünen" Regierung durchgesetzt wurde – ob mit oder ohne Umbenennung von Hartz IV in "Bürgergeld".

Arbeitslosigkeit sollte so schrecklich, so abschreckend werden, dass die Menschen eher bereit sind, jeden noch so miesen Job anzunehmen, um nicht in die Hände des Jobcenters zu geraten.

Dadurch wurde Deutschland in ein Niedriglohnland umgebaut, dessen Bevölkerung zwar zunehmend verarmt, dessen Kapitalist:innen aber trotzdem Rekordprofite machen, weil sie dank niedriger Lohnkosten günstig exportieren können.

Volkspädagogik der Abschreckung

Das Erfolgsmodell des "Exportweltmeisters Deutschland" beruht darauf, die eigene Bevölkerung durch Drohung mit Entzug aller Existenzgrundlagen zur Annahme mieser, niedrig bezahlter Jobs gefügig zu machen.

Ein gewisses Maß von Obdachlosigkeit erfüllt, ob geplant oder nicht, dabei eine unterstützende volkserzieherische Funktion: Der frierende Obdachlose unter der Brücke erinnert den Arbeitslosen, dem das Jobcenter auf die Pelle rückt, daran, dass es, wenn er sich querstellt, auch noch schlimmer kommen könnte.

Daran, dass auch er nicht davor geschützt ist, alle Existenzgrundlagen zu verlieren, wenn er sich hartnäckig weigert, sich in einem Knochenjob für Mindestlohn ausbeuten zu lassen.

Der Obdachlose – Werbefigur für das Deutschland der Agenda 2010. Vielleicht steht die Obdachlosigkeit in diesem Staat auch darum unter Schutz, und sei es mit hohen Kosten verbunden.

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