Obstpflücker, Näherinnen und Software-Ingenieure

Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Arbeitsverhältnisse im globalen Kapitalismus

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Wieder hat in Südasien eine Fabrik gebrannt - in Neu-Delhi sind vor ein paar Tagen 43 Arbeiter, die im winzigen Produktionsraum des Spielwarenfabrikanten geschlafen hatten, im giftigen Qualm erstickt. Dergleichen stellt keine Ausnahme dar:

Unfälle und Brände in indischen Fabriken gibt es immer wieder, da Sicherheitsstandards häufig missachtet werden. Mangelhafte Brandschutzvorrichtungen, fehlende Notausgänge und veraltete Elektrik sind keine Seltenheit, die Opferzahlen dadurch oft hoch. Erst im September kamen bei mehreren Explosionen in einer Chemiefabrik im Westen des Landes mehr als ein Dutzend Menschen ums Leben, die Zahl der Verletzten lag um ein Vielfaches höher.

n-tv

Die trostlosen Lebensverhältnisse der Textilarbeiterinnen in Bangladesch1 beschäftigen in schöner Regelmäßigkeit die deutsche Mainstream-Presse. Ob in den Bäuchen von Kreuzfahrtschiffen, in denen die philippinischen Beschäftigten, einer Armee billiger und williger Lohnsklaven gleich, die überbordende Esskultur an Oberdeck sicherstellen, ob in den Hotelketten von Spanien bis Griechenland, in denen die Kellner, Zimmermädchen und das sonstige Dienstleistungspersonal mit Grundlöhnen von um die drei Euro die Stunde abgespeist werden, ob in den Lagerhäusern und Verkehrsadern des global mobilen Warenkapitals, in denen ebenfalls für wenig Geld unter hohem Druck gearbeitet werden muss - die moderne Arbeitswelt ist für die Mehrzahl der Beschäftigten dieses Planeten eine ziemlich ungesunde und wenig einträgliche Angelegenheit.

Groß ist dabei die Bandbreite der Berufe, Qualifikationsniveaus, Arbeitsbedingungen und Entlohnungssysteme, die der moderne Kapitalismus, der zum ersten Mal in seiner Geschichte nun wirklich den ganzen Erdball umspannt, weltweit etabliert hat: Da findet sich erbärmlichste Lohnsklaverei von Südasien bis Nordafrika neben mäßig bezahlten Industriearbeitsplätzen in Osteuropa. Vergleichsweise gut verdienende Ingenieure und Software-Entwickler in den industriellen Zentren bereiten die Produktion von Waren und Dienstleistungen vor, die in der sogenannten "Dritten Welt", inzwischen in "Schwellenländer" und "Vierte Welt" sortiert, billig in riesigen Fertigungsstätten montiert, zusammengenäht oder programmiert werden. Danach gelangen sie in den Vertrieb von Amazon und ähnlichen Internet-basierten Handelskonzernen, die ein Heer schlecht bezahlter Logistikmitarbeiter in riesigen Lagerhallen umherscheuchen, um über eine Armada oft scheinselbständiger Auslieferer die Ware so schnell und billig wie möglich an den Mann zu bringen.

Ganze Produktionszweige haben ihre Fertigung und Montage in darauf spezialisierte Länder verlagert. So ist z.B. Kambodscha zur zentralen Montagestätte der weltweiten Fahrradhersteller mutiert - dank der rücksichtslosen Ausbeutung von "Mitarbeitern", die seit Jahren keinen Tag Urlaub gesehen haben und durch niedrigste Löhne die weltweite Konkurrenz ausstechen.2 Die Gesundheitsgefährdung für die Arbeiter in den Textilfabriken der Türkei und des Maghreb wird durch immensen Leistungsdruck und die mäßige Bezahlung ergänzt.3

Arbeiten bis zum Umfallen

Generell gilt, dass der Lohn in den Ländern an der Peripherie des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems oft nicht zum Leben reicht, also die Erhaltung von Gesundheit und Motivation der Arbeitskräfte, die im Überfluss vorhanden sind, von den Unternehmern dort nicht als notwendig erachtet wird: Nach dem Rana-Plaza-Vorfall, als 2013 in Bangladesch ein Fabrikgebäude einstürzte, über 1100 Arbeiter unter sich begrub und weitere 2500 verletzte, bemerkte in einem Fernsehbeitrag ein Vertreter der Fabrikanten, dass keine Motivation für Arbeiterschutz bestünde, da, egal was passiert, am nächsten Tage wieder Schlangen von Bewerbern vor dem Personalbüro stünden.

Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, die im Zuge der öffentlichen Empörung in Bangladesch daraufhin zaghaft stattfanden, finden ihre Schranke im Prinzip des kapitalistischen Wettbewerbs der als monopolistische Auftraggeber agierenden Textilhandelskonzerne um Marktexpansion durch Preissenkungen, wie er die ganze Produktionsweise durchzieht, was eindeutige Folgen für die Beschäftigten in den auswärtigen Zulieferbetrieben beinhaltet:

(…) vom Mindestlohn für Textilarbeiter von monatlich 5300 Taka (etwa 51 Euro) könne man nicht leben - "nicht einmal, wenn man keine Familie hat". Regierung und Arbeitgeber verweisen hingegen auf den massiven Preisdruck der Kunden aus den westlichen Industrieländern. Große Auftraggeber wie Primark, Aldi, Lidl, Kik und H&M drückten die Preise, sagt Fabrikbesitzer Mia.

Spiegel

Aber auch in den besser bezahlten Berufen aus den Bereichen IT und Naturwissenschaften, die in den sogenannten "Industriestaaten" einen ausreichenden Lebensunterhalt auf dem gegebenen historisch-kulturellen Niveau gewähren, wächst der Leistungsdruck. In seinem "Lagebericht zur Guten Arbeit" kommt der DGB für Deutschland zu folgendem Ergebnis: "40 Prozent der Angestellten gehen davon aus, dass sie es wahrscheinlich nicht schaffen werden, ihre jetzige Tätigkeit bis zum Rentenalter fortzusetzen."

In Frankreich stöhnen insbesondere die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die Lehrer, Polizisten, Ärzte und Pflegekräfte über wachsenden Arbeitsdruck, der sich in einer Reihe spektakulärer Selbstmorde bemerkbar machte. Präsident Macron setzt sich darüber knallhart hinweg und beharrt auf einer marktradikalen Umkehr im Bereich staatlicher Dienstleistungen, die gegen alle Erfahrung als Heilmittel für die angebliche "Ineffizienz" der öffentlichen Daseinsvorsorge in Anschlag gebracht werden soll - auf Kosten der werten "Mitarbeiter", versteht sich. Arbeiten bis zum Umfallen, wo man auch hinschaut.

Das globale System der Ausbeutung von Lohnabhängigen

Das offenkundig globale System der Ausbeutung von Lohnabhängigen, das hier betrachtet wird, existiert in mannigfaltigen Formen: In wohl fast allen "modernen Industriestaaten" des Westens gibt es sie, die "Irregolari", die als illegale Beschäftigte in der Hierarchie noch unter dem regulär angestellten Niedriglöhnern stehen.

In Spanien , Griechenland und Italien sind es überwiegend die Afrikaner, die in der Landwirtschaft schuften (während die Afrikanerinnen oft in die Prostitution gezwungen werden); in Portugal findet man ebenfalls Afrikaner auf fast jeder Baustelle, manchmal dank der kolonialen Vergangenheit sogar als reguläre Bürger, was die Bauunternehmer nicht davon abhält, sie unterirdisch zu bezahlen oder ohne Sozialversicherung außerhalb der Legalität zu beschäftigen. In den USA sind es die Mexikaner, die als Illegale oft schon über Generationen die Haushaltsgehilfinnen, Wäscherinnen, Erntearbeiter und Imbissbudenverkäufer abgeben; selbst in Schweden war letztes Jahr von einem Streik der importierten asiatischen Erntehelfer zu lesen, die zur Beerenernte jedes Jahr prekär beschäftigt und oft nur unregelmäßig bezahlt werden.

Generell entfaltet das hochzentralisierte Handels- und Dienstleistungskapital in Gestalt der großen Einzelhandels- und Touristik-Konzerne eine strategische Einkaufsmacht, die den Produzenten und Dienstleistern vor Ort, seien es Landwirtschafts- oder Hotelbetriebe, die Preise und Konditionen für ihre Angebote diktiert. Im Falle der Hotelketten, die von den großen Reiseanbietern ausgelastet werden, kommt ein permanenter Zahlungsaufschub, gewissermaßen eine Zwangskreditierung der zentralen Markt-Oligopolisten hinzu, die die "Lieferanten" als Dienstleister vor Ort in Gestalt möglichst niedriger Stundenlöhne und maximal verzögerter Lohnauszahlungen an ihre Angestellten als schwächstes Glied dieser gestuften Ausbeutungskette weitergeben.

Lohnarbeit als Gesamtsystem global differenzierter Arbeits- und Lebensverhältnisse

Insofern wird man dem modernen System des globalisierten Kapitalismus nur gerecht, wenn man die Lebens-, Arbeits- und Verteilungsverhältnisse in ihrer weltweiten Gesamtheit betrachtet. Ansonsten übersieht man nämlich leicht, dass die besser bezahlten, bisweilen erträglichen bis annehmbaren Arbeitsverhältnisse der gehobenen Fachberufe in den Zentren des ökonomischen Geschehens nur einen speziellen Mosaikstein in einem Gesamtsystem tief gestaffelter Arbeits- und Lebensbedingungen darstellen, die übelste Lohnsklaverei ebenso beinhalten wie eine Bezahlung qualifizierter Arbeitskräfte, die deren Lebensunterhalt auf niedrigerer oder höherer Stufenleiter sichert:

  • Bestimmte von den "Arbeitgebern" gefragte, hochqualifizierte Fachberufe wie Ärzte, Ingenieure oder innovative Computerspezialisten werden, solange die Nachfrage danach stimmt, überall gut bezahlt - auch wenn die Unternehmen sich stets bemühen, gewohnheitsmäßige Differenzen im Lebensstandard zwischen verschiedenen Ländern so lange wie möglich auszunutzen und ein Maximum an Leistung aus diesen teuren "High-Performern" herauszupressen.
    Am anderen Ende des Spektrums homogenisiert sich währenddessen die globalisierte einfache, zumeist angelernte Durchschnittsarbeitskraft im Preis der Arbeitskraft tendenziell nach unten, da sich ihr Einsatz und damit auch die aggregierte Nachfrage nach ihr schwerpunktmäßig immer mehr in Länder verlagert hat, in denen ein gewaltiger Überschuss an Beschäftigungssuchenden vorliegt, mit denen die (ehemals) Beschäftigten aus den verlagerten Industrien der alten kapitalistischen Industriestaaten nun konkurrieren müssen. Das erleben die "Hiesigen" als Entwertung bzw. Verschlechterung ihrer Bezahlungs- und Arbeitsbedingungen in Gestalt prekärer Arbeitsverhältnisse, eines immer größeren Niedriglohnsektors, überdurchschnittlicher Arbeitslosenraten im unqualifizierten Bereich etc..
  • Und dies betrifft beileibe nicht nur die Niedrigqualifizierten, wie die Standortpolitik der Autokonzerne zeigt, die z.B. gerne Victor Orbans unschlagbares Angebot annehmen, die Arbeitszeit bei Bedarf um ein paar Hundert Stunden im Jahr zu verlängern und die damit anfallenden Zusatzlöhne erst ex post, zu bezahlen - so denn dem betriebswirtschaftlich nichts entgegensteht, versteht sich. Die Türkei wegen der autoritär-nationalistischen Politik Erdogans verlassen? VW ziert sich, denn die "Standortbedingungen" sind gerade unter autoritärer Herrschaft besonders attraktiv: Renitente Arbeiter, die Forderungen stellen, kommen in Erdogans Türkei nicht weit. Die gegen ihre immer wieder verzögerten Lohnauszahlungen und die lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen protestierenden Arbeiter auf der Großbaustelle des neu eröffneten Istanbuler Flughafens wurden von der türkischen Polizei bekämpft, ihre Rädelsführer verhaftet.
  • Die politischen Akteure der "marktkonformen Demokratie" von Schröder bis Merkel reagieren vom Standpunkt der erfolgreichen nationalen Behauptung in der Konkurrenz der Staaten auf diese ökonomischen Prozesse, indem sie staatlicherseits gezielt Druck auf die Löhne des unteren Arbeitsmarktsegments ausüben, um auch hier wettbewerbsfähig zu bleiben, was zugleich die alimentierte Arbeitslosigkeit der Unqualifizierten senken soll - Hartz IV gehört in diese Schublade.
  • Dennoch können die hiesigen Niedriglöhner sich trotzdem bezüglich des Preises ihrer Arbeitskraft nicht mit den (Über)lebensbedingungen der Arbeitskräfte z.B. in Südostasien oder Ägypten vergleichen, da ihre Lebenshaltungskosten in den entwickelten Industriestaaten schon allein durch den exorbitanten Preis für Wohnen nicht nur absolut, sondern auch relativ höher sind. Zudem enthalten sie nach dreißig Jahren Nachkriegsaufschwung inkl. sozialstaatlichem Reformkapitalismus auch ein historisch-kulturelles "Wohlstandselement", das zudem von den Akteuren der Arbeiterbewegung erkämpft werden musste und immer wieder von der Gegenseite in Frage gestellt wird. Deshalb übernimmt der Staat bisweilen einen Teil der Lohnkosten und fördert dadurch die Kapitalseite direkt, indem er durch sein "Aufpolstern" dem Gegensatz von Löhnen und Profitansprüchen eine gangbare Verlaufsform gibt - übrigens ein "Markteingriff", gegen den die (Neo)liberalen ausnahmsweise nichts einzuwenden haben, da mit ihm die Subventionierung ihrer Unternehmer-Lobby einhergeht...
  • Die Forcierung globaler Umverteilungsprozesse hinsichtlich des Einsatzes und der Bezahlung insbesondere von gering qualifizierter Arbeitskraft sind wohl mit ein Ausgangspunkt für das unbegriffene Bedrohungsgefühl, das für die "einfachen Leute" von der sogenannten Globalisierung ausgeht. Sie stellt im Kern eine globale tendenzielle (also immer wieder durch politische Interventionen bzw. geographische und kulturelle Bedingungen vorübergehend gebremste) Freisetzung kapitalistischer Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Arbeitsmärkte im Rahmen eines in stets wachsendem Maße schuldenbasierten Finanzkapitalismus dar. Dabei müssen Schulden die Einkommens- und Nachfrageverluste kompensieren, die dieses "rat race" nach unten anrichtet, um den "Wachstumsprozess" in Gang halten zu können.

Genauso sicher ist daher, dass man vom Arbeiten im Normalfall nicht reich wird und dass das Bemühen der Konzerne, durch weitestmögliche Auslagerung diverser Arbeitsfunktionen ihrer Wertschöpfungskette in Niedriglohnländer die Gesamtlohnstruktur rentabel zu gestalten. Daraus ergibt sich der systemische Gegensatz zwischen den Profitinteressen der immer größeren, mit dem Finanzkapital eng verflochtenen Firmengruppen, Agrarkapitale, Minen-, Industrie-, Handels-,Dienstleistungs- und IKT-Konzerne einerseits und den Bedürfnissen der Arbeitenden nach einem weltweit auskömmlichen Lebensunterhalt andererseits.

Und wem hier die sogenannte "Managerelite" als Gegenbeispiel einfällt: Diese bekommen ihre Funktionen für die Kapitaleigner zwar in der Form eines Gehalts bezahlt, sind aber dem Inhalt nach am Zuwachs des Kapitals, also an der erfolgreichen Organisation rentabler Produktions- und Beschäftigungsverhältnisse, beteiligt. Diesen Kapitalzuwachs, auch bekannt als "Profitmaximierung", haben sie nämlich effektiv zu bewerkstelligen, da sich darum alles dreht. Das sieht man sowohl der Höhe der "Gehälter" an wie den Bedingungen, unter denen sie aufgestockt und bezahlt werden: Prämien, die oft höher sind als die vereinbarten Jahresgehälter; riesige Auszahlungen aus der Profitmasse des Unternehmens, sogenannte "Abfindungen", auch bei "Managementversagen". Das hat der Sache nach mit Lohnarbeit nichts zu tun.

Diese Leute betrachten qua Beruf den Lebensunterhalt der Arbeitskräfte als "Kostenfaktor", den sie zu begrenzen bis zu verringern trachten. Ihre "Arbeit" bestreitet daher den Lohnabhängigen im ungünstigsten Fall die Existenz, im günstigsten Fall, also bei gutem Geschäftsgang und angespanntem Arbeitsmarkt, werden diesen eine motivierende Prämien und Zulagen gewährt, die schnell wieder zur Disposition stehen, sobald die Gewinne nicht mehr die Erwartungen der Eigentümer bzw. "Investoren" erfüllen - aktuell zu beobachten in der deutschen Autoindustrie.

Dass genau wegen dieses Interessengegensatzes auch eine Unzahl von Beschäftigungslosen den Planeten bevölkert, die über keinen regulären ökonomischen Lebensunterhalt (mehr) verfügen, da sie im Rahmen der durch die Konkurrenz diktierten Rentabilitätsberechnungen der diversen Unternehmen und Branchen als überflüssig gelten, bedarf in diesem Zusammenhang ebenfalls der Erwähnung.

Schlecht bezahlte Arbeit und überhaupt keine Arbeit sind zwei Seiten, notwendige Ergebnisse derselben Kalkulation: Arbeit wird nur bezahlt, soweit sie rentabel ist und dann auch nur in dem Umfang und Maße, in dem sie rentabel bleibt. An der Rentabilität dieser Arbeit muss daher ständig gefeilt werden: Betriebliche Maßnahmen zur Senkung der Lohnstückkosten mittels Steigerung der Produktivität und/oder Intensität der Arbeit arbeiten stets an deren relativer Verbilligung im Verhältnis zum erstellten Output und versuchen, das Ausmaß an notwendiger bezahlter Arbeit bezogen auf das eingesetzte Gesamtkapital zu verringern.

Dass es bei der "Gestaltung" der Lohn- und Leistungsbedingungen immer auch gewisse Spielräume gibt, beweist der Kampf der Gewerkschaften, die das Interesse der Unternehmen an möglichst niedriger Bezahlung durch organisierte Gegenmacht zu konterkarieren versuchen; je nach Macht der Kapitalseite, die immer auch den Staat als Wahrer eines systemverträglichen Maßes an Lohnforderungen im Rücken hat, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Staaten, die ihr Geschäftsmodell im unschlagbar billigen Angebot ihrer Arbeitskräfte sehen, verbieten deren Gegenwehr daher lieber gleich ganz.

Die globale Konkurrenz der Unternehmen untereinander mit ihrem Verbilligungszwang sorgt schließlich dafür, dass auch den Interessenvertretungen der "besser verdienenden" Beschäftigten in den ökonomischen Zentren des Weltkapitalismus die Arbeit nicht ausgeht. Die Arbeitgeberverbände werden nicht müde, zu betonen, dass die erreichte Höhe der Löhne und Gehälter sowie die durchgesetzten zeitlichen und organisatorischen Beschränkungen der Beanspruchung der Arbeitskraft keine "Besitzstände" seien, auf denen sich die geschätzten "Mitarbeiter" ausruhen könnten - "Flexibilität" ist angesagt, immer und überall. Ständig schwebt die Modernisierung der Produktionstechnologien nicht als Angebot zukünftiger Erleichterungen der Arbeit, sondern als Drohung mit dem Überflüssigmachen der Arbeiter über deren Köpfen.

Dabei scheint fast niemand mehr die abstrakte Gleichförmigkeit, den gemeinsamen politökonomischen Charakter dieser Arbeitsverhältnisse wahrnehmen zu wollen; das berühmte "Proletariat" gilt als ein Phänomen des 19. und bestenfalls frühen 20. Jahrhunderts und existiert angeblich heute nicht mehr. Wahr daran ist, dass die Homogenität industrieller Massenarbeitsverhältnisse längst passé ist und die Lohnabhängigen sich selbst nicht mehr als gesellschaftliche Klasse mit eigenen Interessen wahrnehmen, die allen gemeinsam sind. Auch das Muster der Arbeitsbedingungen, Berufe, Tätigkeiten ist ungleich buntscheckiger als in den Phasen von der Industrialisierung bis zum fordistischen, von massenhafter Fließbandfertigung geprägtem Produktionsmodell. Aber existieren deshalb schon keine Lohnarbeit, keine spezifischen ökonomischen Charakteristika mehr, die allen denen eigen sind, die unter kapitalistischen Bedingungen als abhängig Beschäftigte arbeiten?

Freiheit auf dem Markt und Weisungsgebundenheit bei der Arbeit selbst als Charakteristika moderner Lohnarbeit

Aber wie immer wir diese so globalen wie vielgestaltigen "Beschäftigungsverhältnisse" bezeichnen: Es handelt sich um ein integriertes und zugleich in sich gestaffeltes System weltweiter Lohnarbeit, dessen Bandbreite entgegen aller "Marktmärchen" der neoliberalen Ökonomen ein genuiner Bestandteil des global entwickelten kapitalistischen Arbeitsmarkts ist, der als solcher der abhängig beschäftigten Arbeit ein paar Eigentümlichkeiten einbrennt.

Zwar verträgt das marktvermittelte System, das der moderne Kapitalismus darstellt, keine Sklaverei, da er als Ökonomie der Kapitalvermehrung unter Konkurrenzbedingungen auf die Fähigkeit der "Investoren" angewiesen ist, die Produktionssphären nach Maßgabe der Rentabilität zu wechseln, was freie Arbeitskräfte unterstellt, die man kündigen kann und die auch selbst den "Arbeitgeber" wechseln können. Darin steckt, wie schon Marx erläuterte, tatsächlich ein neues Moment der Freiheit gegenüber den historischen Zwangsarbeitsverhältnissen.

Darauf beruhen auch alle politischen Freiheitsideen vom modernen Staatsbürger, ja der ganze bürgerliche Freiheitsbegriff: Frei ist der moderne Mensch zuallererst als Marktteilnehmer, der seine besonderen sozialen Zugehörigkeiten abgestreift hat, wenn er den Markt betritt. Er ist unabhängig von den Besonderheiten der von ihm angebotenen Ware zuvörderst Warenbesitzer und als solcher gleich allen anderen Marktteilnehmern frei, also in einem ziemlich abstrakten Sinne - eine Freiheit, die zumeist am Fabriktor endet, heutzutage bisweilen aber auch beim angestrebten Abschluss eines Mietvertrags, in vielen Fällen wegen der bescheidenen Verhandlungsmacht einer überzähligen Arbeiterschaft wie in den sogenannten "Entwicklungsländern" schon lange davor.

Die modernen Staaten schützen diese Freiheit je nach ökonomischem Entwicklungsstand und politischem Herrschaftsmodell mal mehr, mal weniger, eingebettet in ein System von Grundrechten, das diese Freiheit als grundlegenden Anspruch abstrakt, quasi als eine Art Naturrecht des Menschen kodifiziert. Die näheren Umstände regeln dann die jeweiligen staatlichen Gesetze und die vorherrschenden ökonomischen Lebensbedingungen, aus denen die Formen der praktischen Ausgestaltung dieser Freiheit resultieren.

Der formellen Freiheit steht die inhaltliche Seite gegenüber: Markfreiheit hin oder her - aus der alleinigen Verfügungsgewalt der Produktionsmitteleigentümer, ob als Kapitalgesellschaft oder persönliches Unternehmen organisiert, resultiert der ökonomische Sachverhalt, dass die materiellen Bedingungen für die Betätigung der formellen Freiheit als Person, als selbstständiger Vermieter seiner Arbeitskraft auf dem Markt, ganz und gar in der Hand der Kapitaleigentümer liegen, wenn der geschätzte "Arbeitnehmer" erst einmal das Fabriktor durchschritten hat. Ihnen wird das gesamte Produktionsergebnis, das Werk von vielen Händen und Kräften, damit der Wertzuwachs als exklusives Eigentum zugerechnet und ihnen obliegt es, über die Verwendung dieses Überschusses nach Abzug der Kosten, zu denen auch der freie Arbeitskraftbesitzer zählt, zu entscheiden.

Die Kapitaleigentümer bzw. ihre obersten betrieblichen Funktionäre bestimmen über Art und Umfang der Investitionen, die aufzunehmenden Kredite, die Standorte, ja die Unternehmensstrategie und Produktpalette überhaupt. Ziel ist es dabei, den Prozess der Kapitalvermehrung möglichst effektiv fortzusetzen, um in der Konkurrenz, die bekanntlich nie schläft und das gleiche beabsichtigt, erfolgreich zu bestehen. Diesem Zweck werden alle sachlichen und sozialen Aspekte des Produktionsprozesses bei Strafe des Untergangs als marktfähiges Unternehmen untergeordnet.

Die private Verfügungsmacht über die Produktionsbedingungen setzt ein asymmetrisches Machtverhältnis und einen ökonomischen Interessengegensatz in die Welt

Das Eigentum an den sachlichen Produktionsbedingungen und das damit etablierte Prinzip der Konkurrenz um Profitmaximierung als zentrale Bedingung des eigenen Erfolgs setzt dem Einfluss und der Entscheidungsfreiheit der bezahlten Dienstkräfte klare Grenzen, soweit nicht Interessenvertretungen der abhängig Beschäftigten die zusätzliche Berücksichtigung insbesondere ihrer sozialen Belange, die für die Kapitaleigner, die am Überschuss interessiert sind, nur zusätzliche Kosten verursachen, in einem historisch variablen, von politischen, technischen, ökonomischen und auch kulturellen Rahmenbedingungen beeinflussten Maße erzwingen.

Lohnarbeit als Beschäftigungsverhältnis stellt, betrachtet man die Arbeit selbst, stets ein asymmetrisches Machtverhältnis dar, was natürlich auch für die verstaatlichte Lohnarbeit gilt, wie sie die etatistischen "Hybridsysteme" des Ostens als behauptete Alternative zum Konkurrenzkapitalismus etabliert hatten. Da entfällt zwar die Konkurrenz der Kapitaleigner um die Märkte und Arbeitskräfte und damit der Druck, der von der Arbeitslosigkeit ausgeht; aber die Beschäftigten entscheiden ebensowenig über die Bedingungen der Produktion, deren Ziele und strategische Umsetzung; auch ihr Anteil daran wird von Politbürokraten nach Maßgabe ihrer zentralen Vorgaben bestimmt. Die den Betrieben staatlich verordneten Erfolgsziffern, an einer Art Simulation eines kapitalistischen Betriebsgewinns orientiert, geraten da ebenfalls schnell mit den Lebensansprüchen der Lohnabhängigen in Konflikt, die vom gezahlten Lohn bestritten werden müssen, der sich auch hier als Abzug vom Betriebsergebnis darstellt.

Der besondere politökonomische Charakter der Lohnarbeit, ihre historische Gesellschaftlichkeit, gibt DEN "blinden Fleck" des modernen Systems ab - etwa vergleichbar mit der Sklaverei in der Antike, die damals als das allerselbstverständlichste Fact des sozialen und ökonomischen Lebens angesehen wurde. Gestritten wurde höchstens über die angemessene Behandlung der Sklaven und die Anlässe und Bedingungen ihrer vereinzelten Freilassung. Lohnarbeit gilt als das Naturgesetz der vornehm zur "Globalisierung" vernebelten Ökonomie. Alle wollen einen "Arbeitsplatz", aber niemand scheint mehr die gesellschaftliche Organisation von Produktion und Verteilung gemeinsam in die Zuständigkeit, daher Verantwortung und Hände aller geben zu wollen. Denn wie sollte das auch gehen?!

Der Logik der abstrakten, privaten Reichtumsvermehrung entspricht, dass die beschäftigenden Kapitaleigentümer, zumal die transnational aktiven unter ihnen, zum einen versuchen, die berüchtigten "Lohnkosten" in enge Grenzen zu bannen, da sie in Gegensatz zu ihrem Geschäftszweck stehen; zum anderen nehmen sie auf die vorfindlichen Rechts- und Abhängigkeitsverhältnisse, auf kulturelle Abgrenzungen und politische "Sortierungen" der Menschen Bezug und richten weltweit das beschriebene System gestaffelter Abhängigkeitsverhältnisse ein, das sich nur irgendwie insgesamt lohnen muss.

Böse gesagt: Man kann sich die (teilweise) bessere Bezahlung in den Weltzentren des ökonomischen Geschehens letztlich gerade deswegen leisten, weil man den anderen nicht einmal ein Einkommen ermöglicht, das den Lebensunterhalt sicherstellt - letzteres hat Marx umständlich, aber theoretisch konsequent als "Wert der Arbeitskraft" charakterisiert. Insofern hat der Bolschewik Leo Trotzki mit seiner These von der "Arbeiteraristokratie" in den führenden kapitalistischen Industriestaaten schon ein wenig Recht, auch wenn hier niemand an "Bestechung" denkt.

Perspektiven für die Überwindung der Lohnarbeit: Was ist utopischer - ein Systemwechsel oder der Glaube, so weiter machen zu können wie bisher?

Aber was folgt daraus? Soll man sich ausruhen auf der Differenz zu den Elendsgestalten des globalisierten Arbeitsmarktes und nur froh sein, dass es einen nicht dorthin verschlagen hat? Damit übersieht man, dass, sollte diese knappe Analyse im Kern stimmen, man schon mal eine nicht unwesentliche Gemeinsamkeit mit den Leuten aus den "Flucht"- und Armutsstaaten hat: Man hat fast nichts zu melden bezüglich der Art und Weise, wie, in welchem Umfang und zu welchen Bedingungen im Lande produziert wird, wofür das Zeug verwendet wird und welche Zukunftsprojekte und Ziele verfolgt werden. Auch wenn man Merkel oder wen auch immer wählen darf.

Damit ist man der gleichen Existenzunsicherheit unterworfen, selbst wenn man gegenwärtig gut verdienen sollte. Und auch dies entzieht sich dem eigenen Zugriff, damit der persönlichen Zukunftsplanung: So war kürzlich zu lesen, dass viele im Laufe ihres Lebens in wachsendem Maße mit Einkommenseinbußen konfrontiert werden - z.B. bei Betriebs- oder Berufswechsel im späteren Lebensabschnitt. Auf dieser Basis ist es gar nicht vernünftig, auf die potenziellen Konkurrenten einzuprügeln, sondern sich die Maßstäbe klarzumachen, unter denen heutzutage gewirtschaftet wird, und ihnen politisch die Gegnerschaft anzutragen.

Der Erfolg der Rechten beruht ja auch darauf, dass man die Konkurrenten - so sie denn überhaupt welche sind! - und nicht das System der Konkurrenz angreift, das die diversen Kategorien von Lohnabhängigen, die die Kapitalseite geschaffen haben, gegeneinander ausspielt und, wie beispielsweise aktuell in Italien, den verzweifelten Migranten selbst, die bestenfalls als "Irregolari" ausgebeutet werden, ihr trostloses Schicksal anlastet. Der Fehler wird nicht im herrschenden ökonomisch-politischen System, sondern in dessen ärmsten Opfern gesucht, die durch ihre Hautfarbe auch gut zu brandmarken sind - mit dem Nebeneffekt, der jeden Rassisten seit jeher begeistert: Man kann sich unabhängig von jedem begründeten Gedanken und jeder eigenen Leistung den diskriminierten Fremden schon qua Natur überlegen fühlen - für alle Dummköpfe des Planeten ein ungemein reizvoller Standpunkt, der von allem wegführt, um was es ökonomisch und politisch wirklich geht.

Vielleicht kommt bei einer rationellen Kritik der gegebenen Wirtschafts- und Lebensweise dann ja die Möglichkeit ganz anders gearteter Arbeitsverhältnisse für alle in Sichtweite. In einer Welt, in der immer weniger menschliche Arbeit nötig ist, um die notwendigen Gebrauchsgegenstände und Dienstleistungen zu produzieren, müsste doch eine neue und für alle erträgliche bis ersprießliche Organisation der Arbeit möglich sein, sollte man meinen. Die Verwissenschaftlichung und Immaterialisierung der Produktion führen die Geldvermehrung durch Steigerung der abstrakten Leistungseffizienz des Arbeitseinsatzes als Motor und Zweck des Wirtschaftens ad absurdum.4 Ein Zweck, der noch dazu nicht nur die diskutierten problematischen Arbeitsverhältnisse der kapitalistischen Globalwirtschaft hervorbringt, sondern auch rücksichtslos die natürlichen Lebensgrundlagen ge- und verbraucht, wie wenn es kein Morgen gäbe. Mit den ruinösen Auswirkungen der alle ökonomischen Aktivitäten beherrschenden Profitmaximierung auf Umwelt und Klima hat sich die Menschheit gerade in wachsendem Maße herumzuschlagen - mit ungewissem Ausgang.

Allerdings setzen solche neuartigen Arbeitsverhältnisse eine komplett andere politische und ökonomische Ordnung voraus, die man erst einmal hinkriegen muss. Ein Widerspruch, der nur durch gemeinsame politische Arbeit von vielen Betroffenen aufgelöst werden kann - falls überhaupt, d.h. mit ungewissem, riskantem Ergebnis wie bei jedem anspruchsvollen Zukunftsprojekt.

Wie auch immer diese Welt aussehen könnte - darüber gibt es die letzten Jahre eine inhaltlich breit gestreute Debatte, die von Masons "Postkapitalismus"-Ideen über Felbers "Gemeinwohlökonomie" und Cockshott/Cotrells "Sozialismus aus dem Rechner" bis zur Neuauflage rätekommunistischer Ansätze reicht, eines hätte sie sicher hinter sich zu lassen: Ökonomische Prinzipien, in deren Rahmen die Einkommen der Arbeitenden zu senkende Kosten darstellen, um einen Überschuss an abstraktem Reichtum, Geld zu erzielen, obwohl gerade diese Arbeitenden mit ihrem Arbeitseinkommen diese Überschüsse erst realisieren, indem sie einkaufen.

Ein wachsender Widerspruch, der inzwischen sogar manche Arbeitgeberverbände mit dem "bedingungslosen Grundeinkommen" liebäugeln lässt, was nicht verwundert: Die Eigentumsverhältnisse und der wirtschaftliche Zweck, die Gewinnerzielung, blieben intakt, aber die Gesellschaft zahlt die Einkommen, die die Kapitaleigner im Rahmen ihrer Rationalisierungsprozesse nicht mehr zahlen können und wollen, die sie aber brauchen, damit ihre Gewinne durch den Verkauf der Waren auch realisiert werden.

Der Haken ist dann natürlich, woher das Geld dafür kommen soll - die Arbeitnehmer verdienen es als Arbeitslose eben nicht mehr, der Staat nimmt weniger Lohn- und Einkommensteuern ein. Die Finanzmärkte? Wer dies für realistisch hält, übersieht, dass die Finanzmärkte letztlich immer auf die Erträge der "Realwirtschaft" bezogen bleiben, die von ihnen nur spekulativ in die Zukunft phantasiert werden. Da ist der Crash nie weit. Bezahlen mit Kreditgeld, das sich stets als fiktives Kapital herausstellen kann, ist insofern keine nachhaltige Idee.

Die interessantere Lösung - anspruchsvoller, weil utopischer, aber dennoch rationeller, da der Sache nach nicht per se unrealistisch -, den Kapitalismus abzulösen, nachdem er wohl die produktiven Kräfte so weit getrieben hat, dass er sich selbst ad absurdum führt, steht leider nur selten auf der Agenda der Debatte.

Wie bemerkte der Philosoph Alain Badiou vor einiger Zeit? Die Leute können sich absurderweise eher den Untergang der Welt vorstellen als das Verschwinden des Kapitalismus. Die umfassende Propaganda für das "beste System aller Zeiten" hat insofern ganze Arbeit geleistet.

Aber: Auch die Sklaverei war irgendwann als herrschendes Produktionsverhältnis der Gesellschaft verschwunden. Andersherum: Eine grundsätzlich andere Art zu produzieren, zu arbeiten, Ökonomie zu betreiben mag utopisch sein; aber noch utopischer ist es, darauf zu setzen, dass es einfach immer so weiter gehen kann.