Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit.
Öffentlichkeit gibt es immer dann, wenn Menschen Informationen oder Signale austauschen oder wenn Menschen andere beobachten bzw. von anderen beobachtet werden. Es gibt also ein ungeheuer komplex verschachteltes System von kommunikativen und räumlichen Öffentlichkeiten ganz verschiedener Größenordnungen und Reichweiten, ein <font color=#FF0000>Gewebe aus Öffentlichkeiten, die sich überschneiden, überlagern, ausschließen, sich wechselseitig beeinflussen oder unabhängig voneinander sind. Öffentlichkeit, das wird meist zuwenig beachtet, basiert auf Aufmerksamkeit und deren Formierung. Einige Aspekte der Öffentlichkeit unter der Perspektive der Aufmerksamkeit werden diskutiert.
Öffentlichkeit findet nicht nur statt, sie wird natürlich auch inszeniert und über soziale Normen und Regeln hinaus durch die Konstruktion von Medien und Räumen kanalisiert. Eine transparente und für jedermann zugängliche Öffentlichkeit ist überdies einerseits das Lebenselixier demokratischer Gesellschaften und andererseits ein erstrebter idealer Zustand, der immer wieder hergestellt werden muß. Diese hier nur angedeuteten vielfältigen Schichten des Begriffs der Öffentlichkeit machen die Auseinandersetzung mit ihm so schwierig.
In der Cyberkultur, unvermeidlich mit Marshall McLuhan beginnend, wächst derzeit die Vorstellung, daß die Computernetze eine neue, freiere, dicht verwobene und vor allem global synchrone Öffentlichkeit herstellen. Die Metapher vom globalen Dorf hat dieses Zusammenrücken der Menschen als einer globalen Gemeinschaft in einem durch elektronische Medien zugänglichen Raum zum Ausdruck gebracht. Gleichzeitig hatte McLuhan damit darauf hinweisen wollen, daß die globale, technisch bedingte Öffentlichkeit das Leben der Menschen tiefgreifend verändern wird, weil die räumliche Distanz und damit die Ungleichzeitigkeit, die bislang Öffentlichkeiten trennten, zusammenbricht und sie deswegen all den Ereignissen, die irgendwo auf der Welt stattfinden, und allen Informationen ausgesetzt sind. McLuhan hat das globale Dorf aber noch in weiteren Zusammenhang eingefügt: dem eines globalen Zentralnervensystems oder Gehirns, das sich durch die magischen Kanäle bildet und deren Neuronen die Menschen und deren Medien sind. Nach dem globalen Dorf setzt sich jetzt eben diese Metapher durch, mittels derer man versucht, einen neuen, diesmal elektronisch verwobenen Leviathan zu beschreiben. Durch die menschlichen Muskeln, Maschinen und Gehirne nehme, so etwa Joel de Rosnay, ein "unermeßlich großes planetares Wesen" zunehmend Gestalt an und erwache zum Leben. Einen Namen hat er auch dafür geprägt: KYBIONT heißt für ihn das neue Wesen, dessen Öffentlichkeit gewissermaßen in sein Gehirn einzieht und gemäß den biologischen und/oder wirtschaftlichen Selektionsmechanismen des Marktes die Zellen verschaltet.
"Was die Kommunikationszeit betrifft", so Peter Russell, "ist die Erde so klein geworden, daß die anderen Zellen des globalen Gehirns nicht weiter von unserem Gehirn entfernt sind wie die Glieder unseres Körpers." Die Menschen werden sich für ihn durch dieses eng verflochtene und schnelle Kommunikationsnetz nicht mehr als isolierte Individuen wahrnehmen, sondern sie wissen, daß sie Teil eines schnell zusammenwachsenden Netzes sind, "die Nervenzellen eines erwachenden globalen Gehirns." In gewissem Sinne schließen sich meine Ausführungen an solche Gedankengänge an, wenn ich die Aufmerksamkeit als Medium der Öffentlichkeit thematisiere, die ja selbst das kognitive "Organ" eines Organismus ist und dessen Öffentlichkeit reguliert.
Öffentlichkeit, Paradigma für einen nicht privaten Raum, wird in solchen Spekulationen und Träumen einer vereinten Menschheit seltsamerweise zum Bewußtsein eines Superorganismus und damit zu einem inneren Phänomen. Gleich ob man das globale Gehirn buchstäblich als Utopie versteht oder als neuen Schrecken einer panoptischen globalen Überwachungsgesellschaft, so fand jedenfalls mit dem Fortschritt der Kommunikations- und Informationstechnologien und mit deren Durchdringung der Gesellschaft ein Übergang von einer stärker im wirklichen Raum verankerten und daher lokalen Öffentlichkeit zu virtuellen, gleichzeitig globaleren und homogeneren Öffentlichkeiten in medialen Räumen statt. Ihre Konstitution schließt viele soziale, politische und ökonomische Faktoren ein, sie setzt räumliche und/oder technische Gegebenheiten voraus, von denen sie zugleich aber auch determiniert wird. Diese Öffentlichkeiten beruhen allesamt auf einer erfolgreichen Erzeugung von Aufmerksamkeit, und deren erstes Gebot ist jeweils die Stabilisierung dieser Aufmerksamkeit gegen Konkurrenz.
Bislang sind politische Gemeinwesen noch immer territorial verankert und geopolitisch strukturiert, auch wenn die politische Bedeutung der Grenzen mit der Durchsetzung der Informationsgesellschaft, durch die auf schnelle Transport- und Kommunikationsmittel gestützte Globalisierung der Wirtschaft und der Finanzströme sowie durch die Existenz von transnationalen, geographisch weit verstreuten und nicht mehr an einzelne Standorte gebundene Unternehmen zu sinken beginnt.
Anders als Herrschaftsstrukturen, die hierarchisch von oben nach unten gehen, die Öffentlichkeit weitestgehend kontrollieren und die Entscheidungsfindung möglichst im Geheimen stattfinden lassen, basieren liberale parlamentarische Demokratien auf sukzessive, von unten nach oben gehende Formen der politischen Diskussion und Entscheidungsfindung. Sowohl räumlich als auch quantitativ werden sie zunehmend größer und reichen von einer lokalen bis zur allgemeinen Öffentlichkeit eines politischen Gemeinwesens - und darüber hinaus zu einer globalen Öffentlichkeit.
Neben der größeren Transparenz der politischen, durch Regeln kanalisierten demokratischen Organe gibt es aber stets eine Öffentlichkeit der Privatleute, die sich ähnlich wie der freie Markt der Waren und Finanzen durch Konkurrenz reguliert. Sie wird vor Eingriffen der staatlichen Macht durch verfassungsrechtlich garantierte Gesetze geschützt und stellt zugleich ein Korrektiv gegenüber der staatlichen Macht dar. Ob die Öffentlichkeit sich im Medium eines argumentativen Diskurses oder mit anderen Mitteln realisiert, ist hingegen weitgehend unbedeutend. Öffentlichkeit war stets mehr als ein argumentativer Diskurs im Medium der Diskussion oder des Schreibens und Lesens von Texten. Sie ist ein Raum, der von Erzählungen, Nachrichten, Gerüchten, Bildern, Symbolen, Gewalt, körperlicher Präsenz und natürlich von Menschen, Gemeinschaften und Interessengruppierungen durchzogen ist, der durch mediale, technische und architektonische Vorgaben, die sie kanalisieren und begrenzen, strukturiert wird.
Die durch argumentative Regeln gekennzeichneten Diskurse stellen daher nur einen Ausschnitt der Öffentlichkeit dar. In ihm wird versucht, die Konkurrenz um Aufmerksamkeit durch Reduktion der Mittel auf die der Konkurrenz von begründungsfähigen und überzeugenden Argumenten zu beschränken. Aber schon im argumentativen Diskurs geht es nicht allein, soll ein Begründungsgang beim Publikum "ankommen", um die Logik der Beweisführung oder die Wahrheit, sondern auch um die Rhetorik der Plausibilität, die Eleganz der Ausführung und die Ausstrahlung des Menschen, der spricht oder schreibt. Die schwer kontrollierbare Macht der Ästhetik könnte man diesen Faktor nennen, und Ästhetik hat stets mit der Wirkung auf Aufmerksamkeit und durchaus auch mit dem Unterhaltungswert der Mitteilung zu tun.
Die Institutionen eines an territoriale Grenzen gebundenen demokratischen Gemeinwesens sollen auf der öffentlichen, d.h. aufgrund einer Mehrheitsentscheidung legitimierten Repräsentation des Volkswillens beruhen, ihre Entscheidungsfindung sowie ihre Machtausübung in den Grenzen der als ewig gültig beschlossenen Verfassungsgrundsätze im Medium der nationalen Öffentlichkeit verwirklichen. Da der Volkswille in repräsentativen Demokratien vorwiegend vom Zyklus der Wahlen geprägt wird, müssen deren Vertreter, sofern sie an der Macht bleiben wollen, auf dem Markt der Öffentlichkeit für sich und ihre Politik um Aufmerksamkeit und Präsenz werben. Sie müssen mithin ständig versuchen, die eigenen Intentionen mit denen der Öffentlichkeit und den dort existierenden Alternativen in Übereinstimmung zu bringen oder ihnen gegenüber hinreichend attraktiv erscheinen zu lassen. Daher ist Werbung, also das gezielte Unterlaufen der Filter selektiver Aufmerksamkeit, stets - und nicht erst seit kurzem - eine überlebenswichtige Strategie im Markt der Öffentlichkeit gewesen.
Öffentlichkeit und öffentliche Räume sind stets nur unscharf von privaten oder exklusiven Sphären oder Räumen abzutrennen. Fragen ließe sich beispielsweise, ab welcher Wahlbeteiligung eine Wahlentscheidung überhaupt Gültigkeit haben, ab welcher Frequenz ein öffentlicher Raum als solcher bezeichnet werden kann oder welche räumlichen, kulturellen, sozialen, finanziellen oder technischen Umstände die Teilnahme an einer Öffentlichkeit erschweren, ungeachtet des Umstands, daß prinzipiell jeder Zugang hat. Öffentliche Telefonzellen oder Toiletten, aber auch öffentliche Parks, Plätze, Straßen, die beinahe nahtlos in öffentliche Gebäude, Einkaufspassagen, Kaufhäuser und Malls übergehen, markieren die Schwierigkeiten mit dem Begriff des Öffentlichen.
Was unterscheidet beispielsweise einen Platz als öffentlichen Raum von der Öffentlichkeit innerhalb medialer Räume? Zwar kostet der Zutritt zu einem Platz nichts. Doch müssen, um zu ihm zu gelangen, Entfernungen überwunden, Zeit und Geld aufgewendet werden. An der medialen Öffentlichkeit kann man wiederum nur teilhaben, wenn man über die entsprechende Kompetenz (z. B. Lesen, Beherrschung einer Sprache, Bedienen eines Computers), oder über diesbezügliche technische Geräte und Geld verfügt, um sich die Angebote auch kaufen zu können (Zeitungen, Bücher, Radio-, Fernseh-, Provider- und Leitungsgebühren).
Salons, Kaffeehäuser, Lesegesellschaften, Clubs, Korrespondenzen, Wissenschaftsgemeinschaften und Publikationsorgane, um die herum die bürgerliche Öffentlichkeit entstanden ist, waren nur halböffentliche Räume. An ihnen hatte nicht jeder teil. Gleichwohl erwuchs aus diesen halböffentlichen Räumen, die damals, wie heute die virtuellen Gemeinschaften, explosiv zunahmen, die Forderung nach einer uneingeschränkten Teilhabe an der Öffentlichkeit und einem freien Zugang zu Informationen. Andererseits bleibt die Öffentlichkeit stets nur ein abstraktes Konstrukt aus vielen lokalen, auf bestimmte Gemeinschaften oder Teilhaber bezogenen, räumlich oder technisch unter gewissen Bedingungen verwirklichten oder anderweits beschränkten Öffentlichkeiten, die nebeneinander oder gegeneinander sich entwickeln.
Die Fluchtlinie der Öffentlichkeit ist die Konstruktion eines globalen Raumes, der unabhängig vom Ort, an dem sich die Individuen befinden, und unabhängig von jeweiligen ethnischen, sozialen, geschlechtlichen, nationalen, sprachlichen oder anderweitigen Besonderheiten betreten werden kann. Gerade wegen dieser dem Begriff der Öffentlichkeit innewohnenden Utopie und der mit ihr verbundenen, sich selbst organisierenden Dynamik scheinen heute die Computernetze mit ihrem Cyberspace die Einlösung des Versprechens darzustellen. Erneut wird hier für radikale Meinungsfreiheit, Freiheit, Gleichheit, Zugang für alle und Anschluß von jedem gekämpft, und erneut zeigen sich deutlich die Einschränkungen sowie Ausschlüsse und auch die Gesetze, die mit der realen Umsetzung von Öffentlichkeit einhergehen.
Obgleich heute im Internet prinzipiell jeder die Möglichkeit besitzt, seine Gedanken und Meinungen frei mitzuteilen, sie frei sprechen, schreiben und drucken kann; und obgleich jeder den Cyberspace betreten, neue öffentliche "Räume" auf ihm schaffen oder sich mit anderen vereinigen kann, wenn er über die entsprechenden Mittel verfügt und sich innerhalb der lokal gültigen, noch nicht global geregelten Grenzen bewegt, so tritt allein durch die Quantität dieser virtuellen Öffentlichkeit der Umstand deutlich hervor, daß Öffentlichkeit von den Gesetzen der Aufmerksamkeit regiert wird. Durch sie entstehen Bekanntheit, Begehrtheit und Prominenz, zuallererst aber die Wahrnehmung dessen, was in der Öffentlichkeit erscheint, was in ihr präsent ist. Publizität einer Mitteilung sichert allemal noch nicht ihre Bobachtung, sie muß banalerweise erst Beachtung finden, um wahrgenommen zu werden.
Heute, so sagte John Perry Barlow in einem Interview apodiktisch und ohne große Begründungsanstrengung, habe sich das grundlegende ökonomische Modell tiefgreifend verändert, wie Wert erzeugt wird. Früher sei es so gewesen, daß die Knappheit einer Ware oder eines Rohstoffes den Preis bestimmt habe, während es heute umgekehrt sei. Bei Informationen bestünde "keine Verbindung mehr zwischen Knappheit und Wert, sondern zwischen Bekanntheit und Wert."
Das klingt zunächst überzeugend. Barlow ist der Meinung, daß Urheberrechte eher die Verleger als die Autoren schützen und daß jeder im Netz seine Angebote unentgeltlich oder, sofern es eine Auftragsarbeit ist, gegen ein einmaliges Honorar verbreiten soll. Er jedenfalls würde seine Beiträge etwa für Zeitschriften, für die er Honorar erhalte, noch vorher ins Internet stellen. Dadurch habe er sich einen "Namen" gemacht, der dann auch die Auflage des Printprodukts steigere, wenn er auf dem Cover genannt sei, obgleich jeder, der will, den Text auch kostenlos im Netz abrufen kann. Deshalb glaubt Barlow, daß diese Praxis nicht nur bei ihm funktioniert habe, sondern daß sie einem allgemeinen Prinzip entspreche: "Anders als bei Rohstoffen bringt es nichts, die Informationen zu kontrollieren und knapp zu halten. Wenn Sie ihren Wert vergrößern wollen, können sie nichts besseres tun, als sie erst einmal weg zu geben und zu vervielfältigen. Und das kostet auf dem Netz so gut wie nichts."
Einige Denkfehler gibt es freilich auch hier. Sicher, Knappheit wird den Wert einer begehrten Ware steigern, aber großer Profit läßt sich vor allem durch Massenproduktion von billigen Waren erzielen, die gleichfalls als Markenprodukt einen Bekanntheitswert haben müssen. Und natürlich ist nicht alles, was knapp ist, auch schon wertvoll und begehrt, und nicht alles, was bekannt ist, besitzt großen Wert. Bekanntheit jedenfalls spielt in jedem Markt eine große Rolle - und Bekanntheit und die Quantität an Aufmerksamkeitszuwendung hängen eng zusammen. Das weiß auch der als kognitiver Dissident auftretende Barlow, wenn er in seinem Aufsatz "Die beste aller Welten" schreibt, daß "Aufmerksamkeit stets die beherrschende Währung einer Informationsökonomie" sei. Barlow war einer der Netzpioniere und überdies schon seit seiner Zeit als Textschreiber für die kalifornische Gruppe Greatful Dead bekannt. Als "Cowboy" hatte er in der Szene der Hippies sowieso den Bonus eines Außenseiters, was seiner Karriere nur nützte. Aufmerksamkeit wird durch Auffälligkeit, durch, was aus dem Rahmen des Gewohnten fällt, angezogen und geweckt. Seinen hier geformten "Namen", also die erzielte Aufmerksamkeitsbündelung, konnte er dann in seine Netzaktivitäten investieren. Seine Texte wurden gelesen, weil er bekannt war, mithin Aufmerksamkeit gefunden hat, weswegen man ihn auch zu gut bezahlten Vorträgen und Beiträgen einlädt, denn Prominenz - als Produkt der Aufmerksamkeit - heckt sich selbst, wie Marx dies vom Kapital gesagt hat.
Es war gewiß nicht die Verbreitung von Texten im Internet, die Barlow erst bekannt werden ließ. Es ist zwar richtig, daß Bekanntheit mit der Verbreitung gekoppelt ist, doch werden sich die Menschen nicht massenhaft auf der Web-Page eines völlig Unbekannten einloggen oder in positivem Sinn aufmerksam auf jemanden werden, der einen mit Mails überschüttet. Gerade in der Informationsflut wird Selektivität immer bedeutsamer, sind es relativ zur Gesamtmenge immer wenige "Namen", die prominent werden und sich durchsetzen können, weil man schlicht nicht alle zur Kenntnis nehmen kann. Diese Knappheit kommt nicht nur durch eine im jeweiligen Kontext begrenzte Ausgangsmenge etwa von kompetenten Schreibern oder Rednern zustande, sondern durch den Flaschenhals der Aufmerksamkeit der Individuen und der Medien, deren selektive Strategien sich gegenseitig stützen. Bekanntheit ist bereits ein entscheidendes, sich in aller Regel selbst verstärkendes Selektionskriterium. Sie ist abhängig davon, wie oft jemand die Aufmerksamkeit von einzelnen und von Medien gefunden hat, was sich im Web beispielsweise auch durch die Links zeigt, die auf eine Site verweisen. Wertschöpfung von Bekanntheit geschieht durch Aufmerksamkeit, die bei steigenden Informationsmöglichkeiten und Medienangeboten immer knapper wird und deswegen immer mehr zur Vorauswahl des Bekannten neigt.
Öffentlichkeit ist zunächst eine leere Struktur mit bestimmten Randbedingungen, zu denen auch und immer stärker solche technischer Natur gehören, die Auftreten und Beachtetwerden unter Bedingungen der Knappheit regulieren und selektieren. Wer oder was nicht beachtet wird oder keine Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist als öffentlicher Agent nicht vorhanden oder lediglich ein nicht individuierter Teil des Publikums als Resonanzkörper von Öffentlichkeit. Aufmerksamkeit geht jeder Beobachtung vorher und ist daher Grundlage jeder Kommunikation.
Aufmerksamkeit kann in Geld oder Prominenz, Achtung oder Macht umgesetzt werden. Sie ist Rohstoff und Basiswährung zugleich jeder Art von Öffentlichkeit (und natürlich auch von Überwachung und Regulierung). Aufmerksamkeit ist aber auch das verbindende Element, das Medium, der Äther, der kleine und große, exklusive und frei zugängliche, geordnete und ungeregelte Öffentlichkeiten durchdringt und sie konstituiert. Aufmerksamkeit ist endlich auch eine Leistung, die jede in der realen Welt agierende Maschine, soll sie denn intelligent werden können, besitzen muß. Künftig also wird es im öffentlichen Raum nicht nur registrierende Maschinen geben, die nach vorgegebenen Mustern oder Daten suchen, sondern auch aufmerkende. Und weil Aufmerksamkeit, gleich ob auf individueller oder kollektiver Ebene, stets selektiv ist, wird auch deutlich, daß Öffentlichkeit immer ein Grenzbegriff ist. Hier geht es darum, wie ausgewählt und inszeniert wird, und hier geht es um Erscheinungsweisen, die auf vielen Kanälen, verknüpft, geschichtet und parallel zueinander, um eine begrenzte Wahrnehmungs- und Verarbeitungskapazität kämpfen.
Je umfassender oder größer die öffentlichen Räume in einem politischen Gemeinwesen sind, desto weiter entfernt sind sie auch von den in bestimmten Regionen sich befindenden Individuen oder Agenten, desto weniger sind ein gemeinsamer Diskurs und eine direkte Demokratie praktizierbar, desto vermittelter ist die Kommunikation und desto wichtiger wird der Aufmerksamkeitsmarkt.
Das Merkmal der öffentlichen Sphäre und der kollektiven Meinung ist paradoxerweise aber, daß sie immer nur indirekt und lokal auftritt - in der politischen Sphäre etwa in Form von Wahlen, Volksentscheiden, Demonstrationen, Kundgebungen, Meinungsäußerungen und Medien, die Meinungen mit ihrer Öffentlichkeit aufwerten. Zwar gibt es auf jeder Ebene Teilöffentlichkeiten, in denen Repräsentanten des jeweiligen Gemeinwesens in einem gemeinsamen Raum tagen und durch Mehrheitsentscheid zu Beschlüssen kommen oder Gesetze innerhalb des Rahmens des Möglichen verabschieden. Aber insgesamt ist das geopolitisch strukturierte Feld der Öffentlichkeit ein Netz aus Netzen und Knoten, die, abgesehen vom territorialen Bezug, sehr unterschiedlich verknüpft sein können.
Selbstverständlich gibt es unendlich viele gruppenspezifische Öffentlichkeiten, die mehr oder weniger zugänglich sind und die sich dank steigender Mobilität und Verfügung von Medien und Kommunikationsmittel aus der Verankerung in einem gemeinsamen geographischen Raum lösen, eben mit der oben erwähnten Finalität einer globalen, dicht vernetzten Öffentlichkeit, in der die Echtzeit-Kommunikation funktional einen gemeinsamen Raum wiederherstellt. Dieser ist aber nun nicht mehr in der Geographie und Architektur, also in den Orten, an denen sich die Körper befinden, verankert, sondern wird von technischen Grundvoraussetzungen, d.h. von Kabel- und Satellitenverbindungen, Protokollen, Hardwarekonfigurationen und Programmen konstituiert.
Bis zur Einführung der Telekommunikationsmittel und elektronischen Massenmedien sind der mündliche Diskurs und damit die räumliche Lokalisierung und Zentralisierung schlicht eine Notwendigkeit gewesen, um Interaktions- und Kommunikationsprozesse zu verdichten und aktuell ineinandergreifen zu lassen. Bei Öffentlichkeit denkt man zuallererst an die antike Polis als Vorbild, an die Agora, auf der sich alle Bürger eines Gemeinwesens einfinden, miteinander diskutieren, Argumente austauschen und kollektiv Entscheidungen treffen.
Die klassische attische Demokratie war, so scheint es zumindest nachträglich, auf die Beteiligung von allen angelegt. Sie sah den schnellen Wechsel von Repräsentanten vor, wozu auch das Mittel des Ostrazismus gehörte, also die Verbannung von zu mächtigen Politikern aus der Polis durch das sprichwörtliche "Scherbengericht". Macht und Prominenz sollten sich nicht verfestigen, das Medium der Öffentlichkeit nicht von einzelnen dauerhaft besetzt werden. Massenmedien als kollektive Aufmerksamkeitsorgane und Steuerungsmedien für kollektive Aufmerksamkeit gab es in unserem Sinne noch nicht, wenn auch religiöse Institutionen, Dichtungen, Theateraufführungen, philosophische oder sophistische Schulen eine Vorform darstellten und die Exklusivität von Informationen auch dank der Schrift allmählich durchbrochen wurde.
Im wesentlichen basierte die athenische Polis auf zwei Medien: der Sprache und der Architektur. Um in der öffentlichen Sphäre hervortreten zu können, mußte man ein entsprechendes Aussehen und die notwendige Wortgewandtheit besitzen. Deswegen wurden Ästhetik und Rhetorik zu wichtigen Instrumenten auf dem öffentlichen Markt der Aufmerksamkeit. Normalerweise gab es auf der Agora keine gemeinsame Öffentlichkeit, die nur unter zentralisierenden Regeln des Sprechens und einer entsprechenden Ordnung der Körper erzeugt werden konnte. Die Öffentlichkeit der Agora zerfiel in viele Subzentren, Attraktoren, Angebote und Gruppen, zwischen denen die Menschen hin und her gingen - gesteuert durch das, was Aufmerksamkeit hervorrief und sie binden konnte.
An großen politischen Versammlungen sollten alle Bürger unmittelbar teilnehmen können. Sie fanden seit etwa 500 (v. Chr.) in einem anderen architektonischen Raum statt, auf der erhöht liegenden Pnyx. Dieser Raum war nicht wie die Agora flach und für die zirkulierende Bewegung offen, er war selbst konzentrierend, eine Art Massenmedium, das zwischen Sprechenden und Zuhörenden strikt unterschied und diese Unterscheidung räumlich markierte. Im Hinblick auf Massenmedien wie Fernsehen oder Radio unterschied es sich durch die körperliche Anwesenheit von Sprechern und Publikum im gleichen Raum. Prinzipiell erlaubte er zwar eine Zweiwegekommunikation. Von der Struktur des nach vorne ausgerichteten Raumes sollte diese aber gerade verhindert werden. Ähnlich wie ein Theater war die Pnyx ein aufsteigendes Halbrund mit der Öffnung hin zur Agora, in dessen Mitte eine Rednertribüne aufgeschüttet wurde. Die analogen Strukturen eines Theaters für Schauspiele und eines Raums für öffentliche politische Versammlungen nahmen bereits die Kommunikationsformen der elektronischen Massenmedien für lokal verankerte Gemeinschaften vorweg. Sie zeigen den Unterschied dieser Öffentlichkeit zu der der Agora oder der von virtuellen Gemeinschaften etwa in MUDs auf, an der sich prinzipiell jeder beteiligen kann, die aber gleichzeitig ungeordneter, kleiner, unübersichtlicher und flüchtiger ist.
Auch der Beratungsraum der 500 Männer, die die Vollversammlung vorbereiteten und im voraus die Themen selektierten, hatte wie ein Theater aufsteigende, auf die räumliche Mitte konzentrierte Sitzreihen. Richard Sennett bemerkt zu dieser - mit dem heute noch im Gebrauch befindlichen architektonischen Medium einhergehenden - Diskursordnung: "Diese Form", so Richard Sennett, "war der Garant dafür, daß der Redner von allen Hörern gesehen werden konnte und auch alle Hörer einander sehen konnten. Keine Ströme schlendernder Körper störten dieses Gegenüber von Sprecher und Publikum." Die Anordnung der Sitze fokussierte die Aufmerksamkeit der neben- und hintereinander Sitzenden auf den Redner im Mittelpunkt, während zugleich eine Art der visuellen Überwachung von vorne oder aus dem Zentrum möglich war, wie sie auf einer ebenen Fläche nicht realisierbar ist. Der Redner ist nicht mehr Teil der Gruppe, er wird aus ihr herausgehoben und erhält dadurch visuell und akustisch einen privilegierten Standort. Gleichzeitig muß er, der Kegel der kollektiven Aufmerksamkeit steht, Entsprechendes bieten, um die zu Empfängern gemachten mit ihren Erwartungen an Schau- und Wortspiele nicht zu enttäuschen, da sonst durch Aufmerksamkeitsschwund die Situation der Einwegkommunikation zusammenbricht.
Die Verselbständigung der Öffentlichkeiten geht einher mit der Spezifizierung der Räume. Wie Sitzordnungen, räumliche Situationen und technische Apparaturen gewollt oder unabsichtlich das Gespräch beeinflussen, ist jedem aus vielfältigen Situationen bekannt. Hat der Zuschauer oder Zuhörer in derart strukturierten öffentlichen Räumen zumindest noch in der Hand, seine Aufmerksamkeit anderswohin zu lenken, so wird sie innerhalb des Rahmens der Massenmedien stets direkt auf das inszenierte Ereignis gerichtet.
Interessant ist, daß mit der Durchsetzung der bürgerlichen Öffentlichkeit und in Vorbereitung der elektronischen Massenmedien, die die Menschen räumlich und kommunikativ vereinzeln, auch in den Theatern eine neue Ordnung einzog. Wegen der schwierigen Beleuchtungsverhältnisse (Kerzen) waren die Theater einigermaßen gleichmäßig erhellt oder dunkel. Erst das Aufkommen des elektrischen Lichts tauchte den Zuschauerraum ins Dunkle, schuf einen fokussierenden Projektionsraum und ermöglichte es, ihn aufmerksamkeitsanziehend durch Kulissen und veränderbare Lichtführung zu gestalten. Der methodische Versuch, die Aufmerksamkeit des distanzierten Zuschauers zu erregen und vor allem zu halten, ist seitdem der Mediengeschichte und ihren Effekten vom Panorama über den Film bis zur Virtual Reality eingeschrieben.
Alle Teleeffekte, vom Geschichtenerzählern und von Schauspielen über Bücher, Briefe und Zeitungen bis hin zu elektronischen Medien und Computernetzen, sich auch aus der Faszination weiter vorangetrieben worden, aus dem Alltag und dem gewohnten Raum auszubrechen und an einer anderen, entfernten Wirklichkeit teilzuhaben, während dieselben Techniken und Medien natürlich gleichzeitig den organisatorischen Handlungsraum erweitern, der wiederum die eben noch ungewohnte Wirklichkeit alltäglich macht. Zug und Zug wurde auch in der Freizeit trainiert, die Aufmerksamkeit über lange Zeit hinweg auf ein bestimmtes Geschehen zu richten und die Umwelt, gefördert durch Techniken und Sanktionen auszublenden. Je mehr die Maschinenbedienung mit der damit einhergehenden Beschleunigung und Verdichtung der Prozesse und die Aussetzung an Medien in die Lebenswelt des Menschen eindringen, desto stärker wird Aufmerksamkeit nicht nur zur Steuerung, Bedienung, Orientierung und Rezeption als dauerhafte Leistung nötig (und wachsen daher die Klagen über die Zerstreuung und Überforderung), desto mehr wird ihre Erforschung zum Gegenstand der Psychologie, der Gehirnforschung und allen Spielarten der Kommunikationswissenschaften und -praktiken, aber desto mehr wird auch die Umwelt, der die Menschen ausgesetzt sind, durch Aufmerksamkeitsattraktoren gestaltet, aus deren Konkurrenz sich eine Aufschaukelungsdynamik ergibt, stets neue Effekte oder Irritationen produzieren und konsumieren zu müssen, um die Aufmerksamkeit im Zustand permanenter Wachsamkeit zu halten.
Ästhetik und Ästhetisches, also die Lehre und Gegenwart von dem, was gefällt und Aufmerksamkeit erregt, spielte im antiken Athen bereits eine wichtige Rolle bei der Gestaltung des öffentlichen Raums. Öffentlichkeit war noch ein Ort in einem territorial begrenzten Gebiet von Menschen, die sich als Gemeinschaft verstanden. Geographische Nähe des öffentlichen Raums und quantitative Beschränktheit der teilnehmenden Bürger waren Grundvoraussetzungen für den politischen Diskurs und überhaupt die Präsenz im öffentlichen Raum. Sofern man Bürger war, konnte man sich in relativ kurzer Zeit dorthin begeben und, falls man der Sprache mächtig war und überhaupt Gehör fand, seinen Beitrag in dieser leicht überschaubaren Öffentlichkeit leisten.
Hingegen wird eine nicht mehr lokale Öffentlichkeit von anderen Gesetzen strukturiert. Der öffentliche Raum verlagert sich. Der Zutritt zu ihr wird abhängig von bestimmten technischen und kognitiven Voraussetzungen (Erwerb etwa von Zeitungen, Kompetenz des Lesens und Möglichkeit der Meinungsäußerung innerhalb der durch Medienselektivität bestimmten Öffentlichkeit) und einer Ungleichzeitigkeit, die auf der räumlichen Entfernung und auf medialen Strukturen basiert, die eine gemeinsam erzeugte Öffentlicheit nicht mehr zulassen. Der öffentliche lokale Raum zerfällt in viele Öffentlichkeiten und beginnt, sich mit dem privaten Raum zu überlagern, in den die Medien eindringen und in dem die Menschen an deren Öffentlichkeit partizipieren, ohne direkt auf sie zurückwirken zu können. Das Kommunikationsnetz und dessen virtuelle Öffentlichkeit wird weiträumiger und größer. Es bringt neue Filter und Auswahlmechanismen mit sich, die sich aus denen der lokalen Diskurs- oder Lebensgemeinschaft der Bürger, aber auch aus der Öffentlichkeit entwickeln, die von anderen Medien (der Religion, dem Theater, den Erzählungen) oder durch die Interaktionen zwischen Menschen abseits der Agora im Alltagsleben entwickeln, aus Gerüchten, Geschichten, Sensationen, Klatsch, Intrigen, Selbstdarstellungen, Meinungsäußerungen und anderen "privaten" Tätigkeiten in der Gemeinschaft.
Die Schrift und später die Möglichkeit der Vervielfältigung durch den Druck sowie der Verteilung der Schriften durch die Post und den Handel lassen andererseits mehr Menschen an der sich zersplitternden Öffentlichkeit partizipieren. Sie ermöglichen gleichzeitig eine freiere Artikulation, weil die Kontrolle der Nahgemeinschaft, in der man sich permanent befindet, auch schon durch die schriftliche Telekommunikation durchbrochen wird. Man agiert im größeren, nicht mehr lokalen Raum einer Öffentlichkeit, die eine eigene Dynamik entwickelt, auch wenn die Telemedien noch in den geographischen Grenzen einer Sprache gefangen sind, deren Weite und Umfang von der politischen und wirtschaftlichen Macht bestimmt wird. Erst heute beginnt mit dem digitalen Universalcode des Computers, der möglicherweise irgendwann automatisierte Übersetzungsprogramme verwirklicht, und der Durchsetzung der Weltsprache Englisch eine globale Öffentlichkeit. Sie beruht auf dem Weltmarkt, der freien Konvertierbarkeit von Währungen, der schnellen Transportmittel sowie der Massenmedien und Computernetze.
Manche sprechen, wie gesagt, davon, daß wir allmählich durch eine immer engere Vernetzung der Menschen durch die Telemedien nicht nur in eine globale Öffentlichkeit eintreten, sondern auch ein globales Gehirn verwirklichen, in dem viele Milliarden Zellen vielfältig miteinander verbunden sind und mehr oder weniger in Echtzeit über dieselben Informationen verfügen, miteinander kommunizieren und interagieren. Die Rede von einem globalen Gehirn suggeriert, daß die Menschen dank der neuen Teletechnologien zu Agenten eines größeren Organismus werden, so wie sich verschiedene Mikroorganismen zu einem Einzeller, Einzeller zu mehrzelligen Organismen, Organismen zu sozialen Verbänden durch eine Symbiose zusammengeschlossen haben. Die Menschen schließen sich, so die Hoffnungen, zu einer globalen Gemeinschaft zusammen, die, weil sie in Echtzeit Informationen austauscht, gleichzeitig eine demokratische und friedliche Öffentlichkeit stiftet.
Die aus diesem Hintergrund entstehenden bekannten Forderungen der Cyberkultur - Anschluß für alle und von allem, freie Meinungsäußerung, direkte Demokratie, absoluter Wert der Individualität, freier Markt - widersprechen sich nicht nur, sie machen auch deutlich, daß mit der biologischen Metapher des Gehirns auch andere Regeln in die Öffentlichkeit einziehen, die man bislang meist aus dem Bewußtsein verdrängt hat, weil man es selbst anders verstanden hat. Gehirne sind höchst selektiv arbeitende Maschinen, die auch intern nach darwinistischen Regeln des Wettbewerbs verfahren und stets Informationen aufgrund von Kapazitätsgenzen, also von Knappheit, verarbeiten. Ein ganz entscheidender Auswahlmechanismen ist dabei Aufmerksamkeit.
Im antiken Athen führten die Sophisten Techniken vor, wie sich im Medium des öffentlichen Diskurses die kollektive Aufmerksamkeit erregen, binden und steuern ließ, um die Meinung der Menschen jenseits einer durch "vernünftige" Argumente zu erzielenden Wahrheitsfindung zu beeinflussen. Heute bündeln Medien Aufmerksamkeit. Sie sind, gesellschaftlich gesehen, kollektive Aufmerksamkeitssysteme, die Informationen nach internen Kriterien selektieren. Sie inszenieren überdies ihre Inhalte wieder, daß sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen und diese binden.
Aufmerksamkeit ist zunächst eine Eigenschaft eines kognitiven Systems, das, darwinistisch gesprochen, kraft der Selektion von egoistischen Genen für deren Überlebensmaschinen ab einem hinreichenden Komplexitätsgrad der internen Struktur entwickelt wurde, um vermutlich eine Selektionsinstanz für die wachsenden Wahrnehmungs- und Handlungsoptionen und einen für das Lernen notwendigen Mechanismus zu bieten. Ähnlich wie man einst vom autonomen Individuum mit seinem Willen und seinem Bewußtsein sprach, glaubte man zunächst auch, daß es in jedem Organismus eine zentrale Instanz der Aufmerksamkeit gibt, die einen Filter für eintreffende Reize aus dem Organismus selbst oder aus einer Umwelt darstellt und die andererseits wie ein Scheinwerfer etwas durch Fokussierung aus der Umgebung der wahrnehmbaren Reize herauszuheben vermag.
Dieses Bild hat sich heute gewandelt. Im Gehirn hat man keine zentralen und übergeordneten Instanzen gefunden. Man geht von einem massiv parallel verarbeitenden, auf vielfältige Weise vernetzten System von vielen Neuronenverbänden mit jeweils spezifischen Verarbeitungsmodi aus, die auch intern verschiedene, miteinander konkurrierende Versionen etwa eines Wahrnehmungsinhaltes produzieren, deren Auswahl durch noch unbekannte Selektionsmechanismen geschieht.
Aufmerksamkeit ist gewissermaßen die interne Öffentlichkeit eines Organismus. Unterhalb ihrer kann eine Menge "automatisch" vom "Betriebssystem" der neuronalen Verschaltung und chemischen Transmitterstoffen für großflächiger induzierte Zustände prozessiert werden. Wo es aber um neue Situationen geht oder überhaupt etwas auf höheren Stufen wahrgenommen wird, setzt Aufmerksamkeit ein. Durch bestimmte Reize wird ein sogenanntes unwillkürliches Orientierungsverhalten ausgelöst, das bei anhaltender Irritation, mithin Abweichung vom Vertrauten und bereits Gespeichertem, zu Aufmerksamkeit führen kann. Auch wenn die selektive Aufmerksamkeit eine Art Flaschenhals darstellt, der sich ganz offensichtlich durch eine geringe und relativ langsame Verarbeitungskapazität auszeichnet, geht man doch heute davon aus, daß es verschiedene Formen der Aufmerksamkeit und vor allem verschiedene Aufmerksamkeitssysteme zu geben scheint. Sie ringen jeweils um einen Platz in einem übergeordneten Fenster der Aufmerksamkeit, das mehr oder weniger lange offenbleiben kann, sofern hinreichend Neues geboten und andere Reize nicht stärker sind. Andererseits werden Signale, die in verschiedenen Arealen des Gehirns verarbeitet werden, an denen visuelle, auditive oder andere sensorische bzw. körpereigene Information ankommen, verstärkt, wenn man auf die Reize achtet.
Auf bestimmte Veränderungen in der Umwelt reagieren oder sich bestimmten Dingen unter Absehung von anderen zuwenden zu können, ist zweifellos für jedes Lebewesen ein Mittel des Überlebens. Als soziales Wesen, das aus den genetischen Banden der Familie oder Sippe ausgebrochen ist, ist der Mensch unter normalen Bedingungen und meist auch in extremen Situationen verwoben in Aufmerksamkeitsnetzen: aus und durch Aufmerksamkeit ist er für sich und als soziales Wesen - und jede Religion ist nichts anderes als eine Ökonomie der Aufmerksamkeit. Daher läßt sich sagen: Was nicht in die Aufmerksamkeit fällt oder gefallen ist, gibt es nicht, weil es weder wahrgenommen noch erinnert oder bewußt wird. Breite Aufmerksamkeit ist daher nicht umsonst auch das maßgebliche Kriterium dafür, ob etwas im Markt der Medien, also in der Öffentlichkeit ankommt.
Interaktive und vernetzte Medien den Individualisierungsprozessen, die heute überall stattfinden und den Menschen aus Gründen der Steigerung ihrer Flexibilität auch aufgezwungen werden. Bindungen, Dauer und Konzentration - die Traditionen der bürgerlichen Öffentlichkeiten und Medien - werden zu Hemmschuhen. Schließlich ist auch einer der entscheidenden Reize, sich im Cyberspace zu bewegen, die darin mögliche Anonymität und daß man sich aus der Kommunikation mit anderen genauso schnell und problemlos zurückziehen kann, wie man mit einem Mausklick zum nächsten Link oder mit der Fernbedienung zum nächsten Programm hüpft. Ergebnis würde eine auf das jeweilige Individuum zugeschnittene "Öffentlichkeit" im Mensch-Maschine-Verbund sein.
Ebenso wie die Massenmedien - und die von ihnen noch gestiftete Öffentlichkeiten - zerfallen, zerfällt auch die Solidargemeinschaft, was man gegenwärtig im Zuge der Ausbildung der Informationsgesellschaft überall sehen kann, wenn wieder Kapitalismus pur eingeführt und die sozialen Sicherungssysteme abgebaut werden sollen. Netze fördern auch insofern die Individualisierung oder "Versingelung", als sie über Telearbeit, Teleshopping, Telelearning oder anderen Teletätigkeiten den Zwang abbauen, mit anderen Menschen in einer räumlichen Situation mit allen daraus entstehenden Problemen, Rücksichtnahmen und Kompromissen zurechtkommen zu müssen. Auf der anderen Seite führt die Notwendigkeit der Selektion von Informationen im wachsenden Datenberg zur Entwicklung von intelligenten Agenten, die autonom und von Aufmerksamkeit begleitet, durch die Netze surfen und mit anderen Agenten und auch Menschen kommunizieren. Die Maschinisierung der Aufmerksamkeit ist im Gange. Bald werden die Menschen nicht mehr nur untereinander und mit dummen Maschinen kommunizieren, sondern auch mit smarten Agenten, die ihr eigenes Leben und ihre eigene Öffentlichkeit entfalten.
Dann aber werden die Menschen möglicherweise allmählich aus einem Kernbereich der Informationsgesellschaft verdrängt werden. Wenn Maschinen und Agenten mehr und mehr miteinander ohne die Vermittlung des Menschen über die Netze "kommunizieren", so fallen die langsamen menschlichen "Prozessoren" der Informationsverarbeitung hinter dem Strom der binär codierten Daten zurück, den sie nicht mehr kontrollieren können und der ihrer Aufmerksamkeit entgeht, während die aufmerkenden Maschinen eine übergeordnete Öffentlichkeit bilden.