Ökologische Zeitbombe Indien: Ein hoffnungsvoller Ausblick

Ein Müllsammler in Kolkata Dhapa - Indien steht vor einem ökologischen Desaster. Foto: Gilbert Kolonko

Der Ausgang der Parlamentswahlen wird am ökologischen Desaster nichts ändern – es wird noch schlimmer werden. Aber es gibt Hoffnung: die indische Jugend.

Ich sitze in einem 90 Jahre alten Ding aus Eisen, das sich laut hupend durch den Stau der 15,5-Millionen-Einwohnerstadt Kolkata schiebt. Neben mir sitzt der 28-jährige Abith, Mitglied der Calcutta Tram Users Association (CTUA).

Mit Begeisterung erzählt er eine scheinbar schon 100-mal erzählte Anekdote: "Vor uns steht ein Armeefahrzeug auf den Schienen. Als der Tramfahrer hupt, schaut der Fahrer aus dem Fenster und zeigt winkend an, die Bahn soll doch außen um ihn herumfahren."

Mit einem Ruck kommt die Straßenbahn zum Stehen und dann bin ich Teil einer zukünftigen Geschichte von Abith: Ein Motorrad parkt auf den Schienen vor uns, vom Fahrer nichts zu sehen: Mit zwei anderen Passagieren tragen wir es fort. Aber nicht an die Seite, sondern in die Fahrbahnmitte: "Als Warnung", sagt Abith lachend. Nun hupt die Blechlawine neben uns noch lauter.

Passagiere legen Hand an, damit es für die Tram weitergehen kann. Foto: Gilbert Kolonko

Das gewachsene Selbstvertrauen der 10.000 Mitglieder starken Tram-Fangemeinde hat einen Grund, so Abith:

Im Dezember hat der High Court in Kolkata die Regierung von West Bengal aufgefordert, die Straßenbahn zu erhalten: Die Regierung hat sich nun verpflichtet, bis 2026 zehn stillgelegte Linien wiederzueröffnen, aktuell sind es drei.

Im Zeitalter des Klimawandels entdecken immer mehr Städte in aller Welt die Straßenbahn wieder, da sie nahezu emissionsfrei fährt. Nur unsere Regierung baut sie ab.

In den 1980er-Jahren hatte die Metropole noch 50 Straßenbahnlinien. Bis 2011 waren es 37 und ein 67 km langes Schienennetz. Damals wurden 89 Prozent der Wege zu Fuß, mit dem Fahrrad oder den öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt, heute sind es noch 60 Prozent.

An der Kreuzung Esplanade hat der Schaffner der Tram zu tun, dass es weitergehen kann.

Dass bis zu 80 Prozent des Stroms in Indien aus Kohle gewonnen werden, weiß auch Abith, aber er denkt weiter: Seit 13 Jahren regiert in Kolkata eine angeblich fortschrittliche, liberale Partei (der Trinamool Congress –TMC). Auf nationaler Ebene regiert seit 2014 eine nationale Hindupartei (die BJP von Narendra Modi).

Korruption

"Die Umwelt- und Wirtschaftspolitik dieser Parteien sind deckungsgleich", sagt Abith.

Wachstum durch Umweltzerstörung auf Kosten der Zukunft. Wir Jungen werden das später alles in Ordnung bringen müssen – und in Kolkata wollen wir bis dahin zumindest das Schienennetz erhalten.

Den Grund für den Abbau kennt so gut wie jeder in der Stadt, auch ein Teeverkäufer an der Kreuzung Esplanade:

"Korruption. Land ist teuer und die TMC hat in ihrer Zeit fünf der sieben verbliebenden Straßenbahn-Depots verkauft."

Der Teeverkäufer Hassan erzählt das genauso selbstverständlich wie er mittlerweile den Milchtee (Tschai) mit viel Wasser streckt – auch in Indien hat die Pandemie die Armen ärmer und die Reichen reicher gemacht.

Es darf bezweifelt werden, dass Hassan mit seinem Teeladen 2.733 Dollar Gewinn im Jahr erwirtschaftet: das indische Durchschnittseinkommen pro Kopf.

Wachstumsmarkt ...

Zudem will die Regierung Platz schaffen für den Autoverkehr, denn Autos sind ein Wachstumsmarkt. Von 2013 bis 2021 hat sich die Anzahl der Autos in Kolkata vervierfacht: auf knapp 680.000 Autos, bei nur 1.800 Straßenkilometern – Berlin hat 5.200.

Eine obdachlose Familie in Kolkata. Die finanzielle Ungleichheit steigt auch in Indien weiter an. Foto: Gilbert Kolonko

Warum in Kolkata ein existierendes Straßenbahnnetz nun durch ein Metro-System ersetzt werden soll, statt ergänzt, ist auch klar: Wachstum. Jeder Kilometer Metro gibt Bauaufträge im Wert von umgerechnet 75 Millionen US-Dollar.

Schon jetzt haben sich die Baukosten mehr als verdoppelt. Der Rest ist "Stuttgart 21" hoch sieben: Beim Bau der Metro stürzen neben der Strecke seit 2019 regelmäßig Häuser ein (siehe auch hier).

... auf unsicherem Grund

Wenn dann mal wieder eine Mauer auf einer schon fertiggestellten Metrostation zusammenbricht, wie im März dieses Jahres, sind die Bewohner schon froh, dass keiner von ihnen verletzt oder getötet wurde. Im Februar war auf dem gleichen Bahnhof eine Wand eingebrochen. Ein Passant wurde erschlagen, vier wurden verletzt.

Regelmäßig stürzen zudem Neubauten ein, die auf illegal zugeschütteten Stadtteichen gebaut werden. Dann gibt es jedes Mal Krokodilstränen der Chief Ministerin über die Toten und das Versprechen einer Untersuchung – dabei ist längst bekannt, dass allein in den letzten 12 Monaten 60 Teiche zugeschüttet wurden.

Auch die grüne Lunge Kolkatas, die östlichen Feuchtgebiete, schrumpft auf Betreibung der Immobilienbranche. 1980 gab es dort noch 60.000 Teiche und Seen, heute nur noch 2.800.

Kolkatas Wasserexperte P. K. Sikdar vom Indian Institute of Social Welfare and Business Management (IISWBM) verkündete eine weitere Schreckensnachricht: 75 Prozent des Grundwassers von Kolkata sind mittlerweile durch das Eindringen von Brackwasser versalzen.

Seit zwei Jahrzehnten warnt Sikdar davor, das Grundwasser weiter abzupumpen. Der Grundwasserspiegel ist laut Studien so tief gesunken, dass sich der Grundwasserfluss verändert hat und im Boden ein Unterdruck entstanden ist. In Zukunft besteht die Gefahr, dass Gebäude einfach wegsacken.

Umweltprobleme eng miteinander verzahnt

Kolkatas Umweltprobleme sind eng miteinander verzahnt. Diesen Winter hatte die Metropole wieder Feinstaubwerte, die an manchen Tagen die dritthöchsten aller Städte dieser Erde waren.

Dazu trägt auch der ständig kokelnde Müllberg der Stadt in Dhapa weiter bei. Er ist bis zu 90 Meter hoch und an seiner Basis 12 Hektar breit. Die indische Umweltbehörde Green Tribunal hat die Regierung von Westbengalen per Strafanordnung verpflichtet, den Müllberg bis zum Jahr 2026 abzutragen.

Ein Besuch vor Ort zeigte jedoch, dass alles beim Alten ist. Das hochgiftige Schwitzwasser des Abfallbergs läuft weiterhin in die umliegenden Gemüsefelder. Schon 2017 hat Regierung einen Ort für den neuen Müllberg festgelegt – in Joka-Rasapunja, 14 km außerhalb der Stadt.

Der ständig kokelnde Müllberg in Kolkata-Dhapa. Foto: Gilbert Kolonko

Ein Besuch dort lässt zweifeln. In Joka-Rasapunja weiß niemand etwas von einer neuen Müllhalde. Stattdessen zähle ich 15 im Bau befindliche Smart-Citys und Neubausiedlungen, deren Wohnungen einen Verkaufswert von mindestens einer Milliarde US-Dollar haben. Weitere Bauprojekte sind in Planung – in dieser Gegend, die noch zum Teil aus Wald, Teichen, Sümpfen und Dörfern besteht.

Der Wachstumswahn führt nicht nur in Kolkata in den nahenden Kollaps. Behörden finden keinen Platz für eine neue Müllhalde, das Grundwasser für ihre Bevölkerung geht ihnen aus. Und da, wo gebaut werden müsste, passiert so gut wie nichts.

Das große Problem: Wasser

"Indiens Großstädte brauchen endlich eine funktionierende Wasserinfrastruktur. Ohne diese, wird das kein gutes Ende nehmen", sagte mir – nicht zum ersten Mal – ein deutscher Wissenschaftler. Er hat die völlig verrottete Kanalisation und Wasserleitungen von Kolkata und Chennai begutachtet.

Den südindischen IT-Hochburgen Bengaluru (ehemals Bangelore) und Hyderabad könnten wegen Wassermangel bald jene Firmen davonrennen, denen die Städte ihren wirtschaftlichen Aufschwung zu verdanken haben.

Die Gründe sind ähnliche wie in Kolkata: 1973 waren 8 Prozent der Fläche Bengalurus urbanisiert. Heute sind es 93 Prozent. Der Monsunregen, der in den letzten Jahren hier immer weniger wird, kann wegen der Bodenversiegelung nicht mehr ins Grundwasser einsickern.

14 Millionen Menschen sind aufgefordert, Wasser zu sparen, inklusive die Mitarbeiter von 6700 IT-Firmen. In Hyderabad beobachten Experten Ähnliches, können es aber aktuell nicht mit Daten belegen, weil die Regierung seit 2021 keine mehr liefert.

Doch gesichert ist: Allein im Zeitraum von 2015 bis 2019 wurde in der 11-Millionen-Einwohner-Metropole eine Fläche von 56 Quadratkilometern mit Wohn- und Büroimmobilien bebaut.

Die Flüsse, Seen und Teiche in beiden Megastädten sind zum größten Teil vergiftet – oder schon mit Müll und Sand zugeschüttet worden.

Wirtschaft: Der neue Zeitgeist Indiens

Den neuen Zeitgeist eines Indiens, in dem die Bundesstaaten miteinander um mehr Wachstum wetteifern, untermauert der Industrieminister des benachbarten Bundesstaates Keralas, P. Rajeeve: Er schrieb die größten IT-Firmen in Bengaluru an und schlug ihnen vor, nach Kerala zu wechseln, denn Wasser habe sein Bundesstaat genug.

Fischer in den Feuchtgebieten Kolkatas - bedroht durch die Immobilienmafia. Foto: Gilbert Kolonko

Anstatt die Notbremse zu ziehen, baut die Regierung des Bundesstaates Telangana außerhalb der Hauptstadt Hyderabad den weltweit größten Gewerbepark für Firmen der Pharmaindustrie – auf einer Fläche von 78 km². Dabei sind die Umweltzerstörungen durch die bereits bestehenden Pharmabetriebe schon jetzt utopisch, wie auch eine Reportage auf Arte eindrucksvoll zeigt.

Klar: Die Regierung erklärte, dass der Gewerbepark modern und umweltfreundlich sein wird. Genauso wie die Regierung von Westbengalen den Bau des weltweit größten Gewerbeparks von Ledergerbereien vor den Toren Kolkatas anpries.

Ein neuerlicher Besuch vor Ort zeigt die Realität: Schon Kilometer vor den Gerbereien stinkt es bestialisch. In maroden Kanälen dümpelt über Kilometer das chromverseuchte Abwasser vor sich hin. Das Abwasser leckt auch aus den Fabriken.

Das Leder wird "modern" zum Trocknen auf die Wege gelegt oder über Mauern gehängt. Größter Ledereinkäufer Indiens: die Europäische Gemeinschaft, mit Deutschland als deren Nummer 1.

Der angeblich moderne Gerbereipark in Kolkata. Das chromverseuchte Abwasser rinnt bis auf die Wege. Foto: Gilbert Kolonko

In den anderen indischen Metropolen sieht es kaum besser aus – auch in Neu-Delhi trieben bei meinem letzten Besuch Schaumkronen auf dem Hausfluss Yamuna. Vor einem Monat stand der Müllberg in Delhi-Ghazipur mal wieder lichterloh in Flammen. Dort findet die Behörden ebenfalls keinen Platz für eine neue Müllhalde.

Im indischen Teil des Himalajas senken sich mittlerweile ganze Städte und stürzen Tunnel ein, nicht zuletzt, weil die Regierung gegen den Rat der Wissenschaft massenhaft Tunnel in die Berge haut. Ein Jahr vor dem Absinken der Stadt Joshimath, hatte eine Studie genau das schon vorausgesagt.

Wetterkapriolen

Neben den verheerenden Bausünden wird ein globales Problem virulent. Aufgrund der Erderwärmung haben sich die 130 großen Gletscherseen im indischen Himalaja seit 1984 stetig gefüllt, wie Satellitenaufnahmen zeigen. Und sie drohen jederzeit zu brechen, wie das Unglück in Sikkim im letzten Jahr bewies.

Dazu ist die Durchschnittstemperatur in Indien im Zeitraum von Juni bis September seit Anfang des letzten Jahrhunderts um 3,1 Grad gestiegen, im Januar und Februar hingegen um 4,3 Grad gesunken.

Die Wetterkapriolen führen zu einem "chaotisch werdenden Monsun" (Einschätzung des Potsdamer Klimainstituts, und zu Zyklonen, deren Intensität zunehmen.

Auli oberhalb der sinkenden Stadt Joshimath. Die Locals warten jetzt vergeblich auf Touristen. Foto: Gilbert Kolonko

Die verursachten Schäden fressen beinahe die Hälfte des Jahresbudgets von Bundesstaaten wie Odisha auf. Dazu kommen Probleme wie verseuchte Nahrungsmittel oder die nächste Zeitbombe: antibiotikaresistente Keime.

Zudem sterben in Indien jedes Jahr mehr als zwei Millionen Menschen an den Folgen von Luftverschmutzung.

Ja, es gibt wieder mehr Wildtiere in Indien, nachweislich Tiger beispielsweise. Aber welchen Preis haben diese im Ausland als "Good-News" verstandenen Nachrichten für die lokale Bevölkerung? Im letzten Jahr wurden allein im Bundesstaat Uttarakhand 43 Menschen durch Tiger, Elefanten und Leoparden getötet.

Dass die nahe Zukunft in Indien nicht gut aussieht, weiß nicht nur der Tram-Liebhaber Abith, sondern begreifen immer mehr junge Menschen in Indien, ob in der Stadt oder auf dem Land und dafür gibt es Gründe, auch überraschende.

In indischen Zügen oder am Teestand brauche ich nur zu fragen: "Kennst du Vir Das?" und am Grinsen meines Gegenübers erkenne ich, dass wir frei reden können ...