Österreich: Türkis-blaue Regierung steht

Sebastian Kurz. Foto: GuentherZ. Lizenz: CC BY 3.0

EU-Fragen sind künftig nicht mehr im Außenministerium, sondern bei Kanzler Kurz direkt angesiedelt

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Während in Deutschland Union und SPD noch verhandeln, ob ihr neuen Machtteilungsmodell "GroKo" oder "KoKo" heißen soll, sind sich die Koalitionspartner in Österreich, wo drei Wochen später gewählt wurde, schon einig. Das am Wochenende präsentierte gemeinsame Regierungsprogramm soll seiner Präambel nach "die Fleißigen belohnen", "die Steuer- und Abgabenlast nachhaltig senken", den "Sozialstaat vor Missbrauch schützen" und die "illegale Migration nach Österreich" ebenso wie die Aufnahme neuer Staatsschulden "stoppen".

Das "Fundament", auf dem die angekündigten Veränderungen stehen, setzt sich dem Papier nach "aus der österreichischen Verfassung, der immerwährenden Neutralität, den Grundprinzipien der Europäischen Union, aber auch den Grund- und Menschenrechten, den bürgerlichen Freiheiten sowie den Rechten von Minderheiten" zusammen.

Die Zuständigkeit für EU-Fragen liegt im neuen Kabinett nicht bei der parteifreien Außenministerin und Nahostexpertin Karin Kneissl, sondern im Kanzleramt. Dort will Sebastian Kurz vor, während und nach der österreichischen EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2018 darauf hinwirken, dass sich der Staatenbund künftig weniger in den Alltag der Bürger einmischt und dafür mehr um große kontinentale Fragen wie die Grenzsicherung kümmert. In diesem Zusammenhang sollen EU-Regelungen künftig ein Ablaufdatum erhalten, mit dem ein Weitergelten trotz erwiesener Ungeeignetheit vermieden wird (vgl. EU-Reform: Juncker vs. Kurz).

Rundfunkgebühren bleiben

Kurz' enger Vertrauter und Parteifreund Gernot Blümel wird als Kanzleramtsminister außer für die EU auch für den Bereich "Medien, Kunst, Kultur" zuständig sein. Dabei soll der 36-Jährige alle Kulturförderungen über 100.000 Euro "evaluieren" und dafür sorgen, dass die Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen ORF-Sender "transparent" und "objektiv" ist. Einer Abschaffung der Rundfunkgebühr und einer Privatisierung wird explizit eine Absage erteilt. Für andere Medien soll ein "Leistungsschutzrecht" die Einnahmelage verbessern, das man einführen will, wenn die EU es nicht vorher macht.

FPÖ-Parteichef Heinz-Christian Strache wird für den Sport und das Beamtenwesen zuständiger Vizekanzler, aber nicht Innenminister. Dieser Posten geht an den FPÖ-Generalsekretär und Chefstrategen Herbert Kickl. Dem 49-jährigen Kärntner Arbeitersohn und Spinoza-Kenner, der optisch ein bisschen an einen jungen Josef Hader erinnert, wird von der ÖVP als Staatssekretärin die 36-jährige Salzburgerin Karoline Edtstadler zur Seite gestellt, die vorher beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg tätig war. Das Innenministerium wird dem Regierungsprogramm nach zusammen mit dem Justizministerium darauf hinarbeiten, dass Österreich sicherer wird: Dazu sollen 2.100 neue Planstellen bei der Polizei geschaffen und Gewaltverbrechen härter bestraft werden. "Kultusstätten", in denen Imame für Terror werben, will man schneller als bisher schließen.

Google und Facebook sollen in Österreich Steuern zahlen

Den Wunsch des österreichischen Bundespräsidenten Alexander van der Bellen, dass Innen- und Justizministerium nicht von Politikern derselben Partei besetzt werden sollen, erfüllen ÖVP und FPÖ, indem sie dem parteilosen ehemaligen Rechnungshofpräsidenten Josef Moser das Justizministerium übertragen. Dass der 62-Jährige nicht Finanzminister wird, scheiterte Medienberichten nach am Widerstand von ÖVP-Landespolitikern.

Statt auf Moser einigte sich die ÖVP auf den ehemaligen Allianz-Manager Hartwig Löger als Finanzminister, dem von der FPÖ der Steuerberater Hubert Fuchs als Staatssekretär zur Seite gestellt wird. Die beiden sollen unter anderem eine Senkung der Lohn- und Einkommensteuer ausarbeiten und Unternehmen wie Google und Facebook zur Kasse bitten, die in Österreich zwar Geld verdienen, es aber anderswo versteuern. Damit so eine Besteuerung in Österreich möglich wird, soll das Steuerrecht um das Konzept der "digitalen Betriebsstätte" erweitert werden. Am liebsten wäre es Kurz, wenn dieses Modell in der gesamten EU eingeführt wird. Können sich deren Mitgliedsländer jedoch nicht innerhalb von sechs Monaten darauf einigen, will der künftige Bundeskanzler mit Österreich vorangehen (vgl. Österreicher bekommen ein "digitales Bürgerkonto").

Der im letzten Jahr bei der Bundespräsidentenwahl knapp unterlegene FPÖ-Politiker Norbert Hofer wird Infrastruktur- und Verkehrsminister: Hier haben sich ÖVP und FPÖ darauf geeinigt, Genehmigungsverfahren dadurch zu beschleunigen, dass man zukünftig nicht mehr verlangt als die EU-Vorgaben fordern. Dem 1984 in die Verfassung aufgenommenen Staatsziel Umweltschutz will man die Förderung der Beschäftigung und des Wirtschaftsstandorts entgegensetzen; der Verschleppung von Verfahren durch nachträgliche Beweisanträge einen Riegel vorschieben. Derart beschleunigt sollen dann unter anderem die Ladeinfrastruktur für Elektroautos und viele Bahnstrecken ausgebaut werden. Dabei bekennt man sich explizit zur Verlängerung der russischen Breitspurbahn nach Wien und zum chinesischen Bahnprojekt "Neue Seidenstraße". Den ÖVP-Gegenpol zu Hofer bildet die bisherige Nationalratspräsidentin Elisabeth Köstinger, die Ministerin für Nachhaltigkeit und Tourismus wird.

Rauchverbot und Volksabstimmung

Das Sozial- und Gesundheitsministerium übernimmt die steirische ÖVP-Politikerin Beate Hartinger. Ihr Ressort wird unter anderem von der von den Freiheitlichen durchgesetzten Entscheidung berührt, ein von SPÖ und ÖVP 2015 durchgesetztes strenges Rauchverbot nach bayerischem Vorbild, das ab Mai 2018 gelten sollte, nicht in Kraft treten zu lassen. Dass nun in "getränkeorientierten" Gastwirtschaften mit weniger als 75 Quadratmeter Fläche oder abgetrennten Raucherzimmern weiter geraucht werden darf, stieß auf öffentliche Kritik mehrerer ÖVP-Landespolitiker. Die sozialdemokratische Wiener Umweltstadträtin Ulrike Sima droht mit einer Klage.

Der freiheitliche burgenländische Landeshauptmannstellvertreter Johann Tschürtz hat deshalb angeregt, das Rauchverbot mit einer anderen FPÖ-Forderung zu verknüpfen: Der nach mehr direkter Demokratie. Hier setzte die ÖVP allerdings durch, dass Volksbegehren erst dann zu bindenden Volksabstimmungen führen, wenn mehr als 900.000 Wahlberechtigte dafür unterschreiben. Darüber hinaus will man sie erst zum Ende der Legislaturperiode zulassen.

Im Sozialbereich soll Hartinger dafür sorgen, dass Rentner nach 40 Beitragsjahren künftig 1.200 Euro Mindestrente erhalten. Das Arbeitslosengeld soll dagegen sinken, je länger es ein Arbeitsloser in Anspruch nimmt. Bei ausländischen Staatsangehörigen wird nach Ablauf des Arbeitslosengeldanspruchs geprüft, ob für die weitere Versorgung das Heimatland zuständig ist. Die Mindestsicherung will die neue Regierung österreichweit bei 1.500 Euro deckeln, die Familienbeihilfe soll gekürzt werden, wenn die Kinder in anderen EU-Ländern leben.

Geborener Deutscher wird Bildungsminister

Der in Deutschland geborene Geografieprofessor Heinz Faßmann übernimmt in der neuen türkis-blauen Regierung das Ressort Bildung und Wissenschaft. Hier soll der 62-jährige ehemalige Vorsitzende des Expertenrates für Integration unter anderem dafür sorgen, dass Kinder Deutsch beherrschen, bevor sie in die Regelschule kommen.

Der neue freiheitliche Verteidigungsminister Mario Kunasek, ein gelernter Kraftfahrzeugmechaniker und Stabsunteroffizier, wird sich mit den Erblasten der Eurofighteraffäre herumschlagen müssen.

Die ÖVP-Politikerin Juliane Bogner-Strauß könnte dem Regierungsprogramm nach als Ministerin für Frauen, Familie und Jugend einen eher ruhigen Posten antreten.

Und die parteilose (aber ÖVP-nahe) Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck wird womöglich froh sein, dass das von der FPÖ geforderte Ende der Pflichtmitgliedschaft bei den Kammern nun doch nicht kommt. Stattdessen fordert man die Kammern im Regierungsprogramm lediglich dazu auf, ihre Beiträge zu senken.