Offenheit und Geschlossenheit: Beobachtungen des digitalen Alltags

Seite 2: Der Digital Divide damals und heute

Für eine Gesellschaft, die ihr Wesen im Digitalen sieht, ändert sich der Hintergrund der Frage "Was geht mich das eigentlich an?" täglich. Seit den Anfängen des Internets hat die Frage des Zugangs zu diesem Medium eine wichtige Rolle gespielt. Früh war bereits von einem "Digital Divide" die Rede, dessen Beschreibung und Ausprägung im Laufe der Ausbreitung des Internets immer feiner und facettenreicher wurde.

Stets stand der Gedanke Pate, dass die Spaltung mit persönlichen und gesellschaftlichen Nachteilen für die "Offliner" einhergeht. Mit jedem Innovationsschub veränderte sich auch die Vorstellung von Mediengenerationen. Jedenfalls ist das Portfolio der Medienpräferenzen gut geeignet, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in einer Gesellschaft zu veranschaulichen.

Was allgemein als Zugang zu Informationen umschrieben wird, entpuppt sich als ein den Alltag vieler Menschen erfassendes Basisprogramm. Mit anderen Worten: Wer sein tägliches Pflichtenheft durchgeht, stößt ständig auf Selbstverständlichkeiten, die gar nicht so selbstverständlich sind. Wenige Beispiele mögen zur Veranschaulichung genügen.

Wer von Sozialisation spricht, denkt an einen Kompass für das Leben. Wer von Gesellschaft spricht, meint nicht eine Zusammenkunft, die auf "nackter Interessenlage" (Max Weber) beruht. Gesellschaft hieß bereits vor dem Internet: vernetzt zu sein – über soziale Rollen, Wertesysteme und Orientierungshilfen, die vermitteln.

Wer von einem "Führerschein" für das digitale Zeitalter spricht, meint in der Regel auch nicht nur technisches Können. Bereits für den Kindergarten und frühschulische Phasen wird ein solches Paket geschnürt. Die EU und die OECD denken im Rahmen ihres digitalen Entwicklungsplans (21st century skills/European Education Area) weit in die Zukunft und früh in das Leben hinein.

Immer mehr Ebenen werden ausgemacht und Fähigkeiten sortiert, so dass, ob Electronic Literacy oder Digital Literacy entscheidend ist, kein Mangel an neuen Skills zu herrschen scheint. Künstliche Intelligenz, im Besonderen die Funktionsweise von Algorithmen, befördern ein Nachdenken über Medienlogik. Stets stellt sich in einem solchen Umfeld das Gefühl ein, schnell in einem Zeitalter der Gestrigkeit angekommen zu sein.

Alles entwickelt sich also ständig weiter. Das gilt, um beim Führerschein zu bleiben, auch für den Straßenverkehr. Aber hier sind die Appelle vergleichsweise weniger verbindlich, obwohl doch gerade hier auch Leib und Leben von einer guten Kenntnis der Regeln abhängen.

Es gibt noch Angebote außerhalb des Internets

Selbst da ist das Internet mit allerlei Selbsttests sofort zur Hand und zugleich mehr als eine Zweitwelt. Es vermittelt eine diffuse Offenheit, auch an alle, denen der Zugang dazu noch fehlt. Und hier wie da lässt sich das Verhältnis von Theorie und Praxis trefflich studieren, selbstredend auch die Mauern und dunklen Ecken, die sich in Gestalt von Zahlungsbarrieren und/oder thematischen Präferenzen/Aversionen auftun. Eine große Scheibe ohne Hindernisse ist es jedenfalls nicht.

In dieser digitalen Sattelzeit ist die Wahrscheinlichkeit, auch außerhalb des Internets noch jene Angebote zu finden, die man sucht, relativ groß. Wer tägliche Besorgungen macht, erlebt diese Parallelwelten bereits am Point of Sale. Die einen kaufen klassisch und greifen zum Portemonnaie, die anderen üben sich an der Scannerkasse und zahlen anschließend mit einer smarten Uhr.

Wer die Dienstleistung einer öffentlichen Verwaltung benötigt, kann sich im Falle einer fortschrittlichen Bürokratie viele Wege sparen, aber das Schlange stehen ist auch in diesem Bereich nicht aus der Welt. Wer eine Reise plant und Angebote miteinander vergleichen möchte, kann sich nach wie vor den kompetenten Rat eines Reisebüros einholen oder sich im mehr oder weniger ambitionierten Umgang mit Vergleichsportalen trainieren.

So weit reichen die digitalen Assistenten in unseren Alltag hinein, dass die meisten mittlerweile verärgert reagieren, wenn diese Angebote einmal nicht zur Verfügung stehen. Im Jahr 2021 registrierte die ARD/ZDF-Onlinestudie einen Rekordwert von 94 Prozent mindestens seltener Nutzung.

Die Studie selbst wird nun seit einem Vierteljahrhundert jährlich durchgeführt. Auch wenn die Mehrheit der Gesellschaft immer nur einen Bruchteil all dieser Dinge wirklich in Anspruch nimmt, erleben alle den vorübergehenden Wegfall solcher Dienste als den Verlust von Selbstverständlichkeiten.

Egal, wie tief man eintaucht: Die Gelegenheitsstrukturen sind der Maßstab, nicht das Alles-Beherrschen-Wollen. In der Erzählung The Silence (Don DeLillo) wird das verstörende Element dieses Entzugs zur Gewissheit der Verschlossenheit vieler sozialer Beziehungen, von denen man doch meinte, dass sie von Offenheit leben.

Ebenso baut sich eine Vorstellung von "Digital Detox" auf, den unerwünschten Folgen einer mehr oder weniger zur Gewohnheit gewordenen technischen Verbundenheit mit der Welt da draußen.

Die Vorstufe dieser Enthaltsamkeit, also ein selbst verordneter Verzicht auf den (dauernden) Zugang, ist heute ebenso talkshowtauglich wie vor vielen Jahren der Fernsehverzicht. Alle klösterlichen Elemente der heutigen Mediennutzung lassen sich als Varianten einer profanen Beichte lesen, an die sich säkularisierte Formen von Bekenntnisritualen angeschlossen haben.

Man geht also offen damit um, dass man sich "verschlossen" zeigt. Das erfolgt eher selten gemeinschaftlich, gleichwohl mit dem Anspruch, für sich einen eigenen Qualitätsstandard zu setzen, den man mit anderen zu teilen bereit ist. Selbst der Auszug aus dem Netz hat daher immer etwas von neuen Verknüpfungen. Zwischen offen und geschlossen gibt es also viele Zwischenstationen.