Ohne BRAT bricht Chaos aus
Das Schlüssel-Gen für die Tumorentstehung
Fehlt ein einziges Gen, können Stammzellen zu Krebszellen werden. Das haben Molekularbiologen bei der Fruchtfliege beobachtet. Das Gen könnte der Schlüssel für neuartige Krebstherapien sein.
Lange Zeit galt in der Krebsforschung, dass ein Tumor aus einer Masse von Zellen besteht, die alle identisch sind und die Fähigkeit verloren haben, ihre Zellteilung zu kontrollieren. Seit einigen Jahren jedoch wird eine neue Theorie unter Forschern heiß diskutiert: Nach dem Konzept der Tumorstammzellen bestehen Tumoren nicht aus einem einheitlichen Haufen wild wuchernder Zellen, sondern sie sind wie Organe aufgebaut und bestehen aus unterschiedlichen, hierarchisch geordneten Zelltypen. Die Basis bilden Stammzellen, die jeden Zelltyp im Tumorgewebe erzeugen können.
Auch wenn sich bereits abzeichnet, dass das Konzept nur auf einige Krebsarten (z. B. Leukämie, Brustkrebs und einige Arten von Gehirntumoren) zutrifft, gehen die Meinungen darüber weit auseinander. Nicht zuletzt deshalb, weil die Entdeckung der Tumorstammzellen die herkömmlichen Krebstherapien in Frage stellt: Denn sie zerstören vor allem die Zellen, die sich rasch teilen. Stammzellen teilen sich hingegen meist langsam und entgehen deshalb einer solchen Strategie.
Wenn jedoch die Tumorstammzellen-Theorie stimmt, dann ist es für die Entwicklung neuer Therapien grundlegend, dass verstanden ist, wie aus einer normalen Zelle eine Tumorstammzelle wird und wie eine Stammzelle ihre Zellteilung reguliert. Dieser Vorgang ist jedoch noch weitgehend ein Rätsel. Hier nun sind Jürgen Knoblich und sein Team am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) in Wien einen wichtigen Schritt vorwärts gekommen. Sie konnten erstmals ein Gen beschreiben, dessen Fehlen aus einer Stammzelle eine Tumorzelle entstehen lässt. Die Experimente wurden an Nervengewebe der Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) durchgeführt. Ihre Ergebnisse haben die Wissenschaftler in der Zeitschrift Cell (Bd. 124, S. 1241, 24. März 2006) der Öffentlichkeit vorgestellt.
Zellteilung bei Drosophila
„Normalerweise teilt sich eine Zelle und bildet zwei identische Nachkommen“, erklärt Knoblich den Ausgangspunkt seiner Studie. „Der Spezialfall, der uns in unserem Labor interessiert, ist der, dass bestimmte Zellen bei der Zellteilung (Proliferation) zwei verschiedene Tochterzellen bilden können. Dieses Phänomen untersuchen wir schon länger. Wir haben es jetzt auf Stammzellen von Drosophila angewendet und uns dabei auf neuronale Stammzellen konzentriert. Wir wissen, dass bei der Fruchtfliege die Proliferation dieser Stammzellen so vor sich geht, dass dabei immer eine Zelle entsteht, die Stammzelle bleibt und eine zweite, die die Nervenzellen und damit das Gehirn ausbildet. Diesem Unterschied wollten wir auf den Grund gehen.“
Die Tumorbiologen suchten also gezielt nach Proteinen, die nur in einer der beiden Zellen vorhanden waren. Dabei stießen sie auf das Protein BRAT und untersuchten dann, wie sich dieses Protein verhält, wenn sich eine Stammzelle teilt: Es lokalisiert auf eine Seite dieser Stammzelle und wird bei der Zellteilung nur in eine der Tochterzellen vererbt (sehr anschaulich dargestellt am Beispiel eines anderen Proteins auf der IMBA-Startseite).
„Dann haben wir gefragt, was ohne dieses Gen passiert. Wir verwendeten eine Mutante, die BRAT nicht besitzt. Und wir stellten fest, dass diese Stammzelle sich zwar ganz normal teilt, doch jetzt reagierten beide Tochterzellen wie Stammzellen“, erklärt Knoblich. „Normalerweise wird nur eine Zelle zur Stammzelle und sorgt weiter für Stammzellennachschub, die andere spezialisiert sich und hört auf sich zu teilen. Doch ohne BRAT begannen beide Tochterzellen nach der Zellteilung zu wachsen und sich weiterzuteilen. Bleibt die Zahl der Stammzellen normalerweise gleich, verdoppelten sich die Zellen jetzt immer weiter. Wir konnten beobachten, dass die Stammzellen das Gehirn komplett überwucherten, bis sie schließlich das gesamte Volumen der Fliege ausfüllten. Dabei vollzieht sich ein Vorgang, der genauso aussieht, wie eine Tumorgenese beim Menschen.“
Knoblich und Kollegen blieben dem Funktionsmechanismus von BRAT aber noch weiter auf den Fersen. Dabei entdeckten sie, dass das Protein in einer der beiden Tochterzellen auch Gene unterdrückt, die sonst für das Wachstum und die Zellteilung verantwortlich sind. Und eines der Gene, die es unterdrückt, ist ein Transkriptionsfaktor namens Myc. Der ist wiederum interessant, weil er mit der Krebsentstehung im Menschen sehr stark in Verbindung gebracht wird. Myc ist ein so genanntes Onko-Gen.
BRAT sorgt für Ordnung
„Die Stärke unserer Arbeit liegt darin, dass es uns gelungen ist, den Übergang einer normalen Stammzelle in eine Tumorstammzelle in einem Tiermodell darzustellen“, wertet Knoblich die Untersuchungen. „Die an Drosophila gewonnenen Ergebnisse sind gut auf den Menschen übertragbar. Natürlich nicht eins zu eins. Doch die Prozesse die bei der Fruchtfliege ablaufen, laufen auch beim Menschen ab. Zu welchem Schritt sie bei der Tumorentwicklung allerdings genau beitragen, muss in den nächsten Jahren noch erforscht werden. Doch wenn man einen bestimmten biologischen Prozess einmal modelliert hat, kann man das Zusammenspiel aller Gene, die daran beteiligt sind, sehr schnell herausfinden. Jetzt, wo wir BRAT entdeckt haben, werden wir in ein paar Jahren auch ziemlich genau wissen, wie es funktioniert.“
Aus den bisherigen Ergebnissen schließt Knoblich, dass der Mechanismus, den er und seine Kollegen entdeckt haben, auch beim Menschen eine wichtige Rolle spielen könnte. Aber noch gibt es da mehr Fragen als Antworten. Erst weitere Experimente werden klären, ob die molekularen Abläufe im menschlichen Gewebe tatsächlich die gleichen sind wie bei der Fruchtfliege. Ein BRAT-ähnliches Protein wurde jedenfalls schon länger verdächtigt, an der Tumorentstehung mitzuwirken. Knoblich und sein Team wollen nun herausfinden, welche Rolle dieses Protein im Zellstoffwechsel spielt, mit welchen anderen Molekülen es in Wechselwirkung tritt und wie der Regulationsmechanismus im Detail funktioniert.
Zur Beantwortung dieser Frage haben die Wiener Forscher ihre Experimente bereits auf einen weiteren Organismus, die Maus, ausgeweitet. Am Ende dieses Prozesses werden Krebspatienten womöglich effektiver behandelt werden können. „Die neuen Erkenntnisse über die Entartung von Zellen bergen ein enormes Potenzial für die Entwicklung zukünftiger Krebstherapien", meint Knoblich zuversichtlich.