Ohne Produktivitätsschub kein Ende des Fachkräftemangels
- Ohne Produktivitätsschub kein Ende des Fachkräftemangels
- Arbeitsproduktivität als Stellhebel
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Die Bundesregierung folgt mit ihrer "Fachkräftestrategie" neo-merkantilistischem Denken. Nicht etwa intelligenter und produktiver, sondern mehr arbeiten, ist ihre Devise.
Die Bundesregierung will keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass sie den allgegenwärtigen Fach- und Arbeitskräftemangel nicht nur ernst nimmt, sondern dass sie auch die richtigen Antworten parat hat.
Nichts Geringeres als "der wirtschaftliche Wohlstand in Deutschland" stehe nämlich auf dem Spiel, so Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und dieser entscheide sich "an der Frage […] wie wir auf den Fachkräftemangel antworten".
Die vermeintlich richtigen Antworten gibt die im letzten Jahr verkündete Fachkräftestrategie der Bundesregierung.
Dort sind Ursachen und Lösungen für den Fach- und Arbeitskräftemangel beschrieben. Als ursächlich für die heutige Fach- und Arbeitskräftelücke sieht die Bundesregierung die "langfristigen und tiefgreifenden Transformationsprozesse der Digitalisierung, des demografischen Wandels und der Dekarbonisierung".
Diese "drei D" würden mit "zunehmender Dynamik den Wirtschaftsstandort Deutschland" verändern. So beschleunige der demografische Wandel den Fach- und Arbeitskräftemangel, da die Anzahl der neu in den Arbeitsmarkt eintretenden Jüngeren nicht ausreicht, um die ausscheidenden Älteren zu ersetzen. Andererseits würden Digitalisierung und Dekarbonisierung den Bedarf an Fach- und Arbeitskräften sogar noch weiter erhöhen.
Als Lösung wird in der Fachkräftestrategie die Fortsetzung der bisherigen "Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Familien- und Sozialpolitik" der aktuellen wie auch vorangegangener Bundesregierungen propagiert.
Denn so sei bereits seit 2010 eine "starke Ausweitung der Erwerbstätigkeit" gelungen und dies habe "dazu beigetragen, den Fachkräftebedarf in Deutschland zu decken" – eine gewagte Formulierung, denn spätestens seit 2018 war der Fach- und Arbeitskräftemangel in vielen Bereichen bereits spürbar und hat sich trotz seither stagnierender Wirtschaftsleistung über die gesamte Wirtschaft ausgeweitet.
Mit der Fachkräftestrategie wolle man diese "positive Entwicklung", die ausschließlich in der quantitativen Ausweitung des Arbeitsangebots gesehen wird, im "Trend fortsetzten".
Alter Wein in neuen Schläuchen
So zielt die Fachkräftestrategie exakt auf die gleichen Mechanismen, die in den vergangenen Jahrzehnten zwar dazu beigetragen haben, das Arbeitskräfteangebot erheblich zu steigern, dennoch aber die Entstehung und Ausweitung des Fach- und Arbeitskräftemangels nicht verhindern konnten.
Die Fachkräftestrategie setzt erstens darauf, das inländische Fachkräftepotenzial weiter auszubauen. Dazu soll die Aus- und Weiterbildung qualitativ verbessert und vor allem die Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren gezielt gesteigert werden.
Zweitens beruht die Strategie darauf, so Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), "dass wir die Erwerbsmigration erheblich steigern".
Es ist jedoch vermessen und grenzt an Ignoranz, die weitaus größeren Herausforderungen, mit denen der Arbeitsmarkt in Deutschland in den nächsten Jahren konfrontiert ist, mit den gleichen Mitteln lösen zu wollen, die sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten als unzureichend erwiesen haben.
Denn als Ausgangssituation besteht bereits jetzt ein akuter Fach- und Arbeitskräftemangel.
Gegenwärtig würden "rund zwei Millionen Arbeitsplätze vakant bleiben", vermeldet die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK), sodass Deutschland ein jährliches Wertschöpfungspotenzial von 100 Milliarden Euro, etwa 2,5 Prozent des BIP, entgehe.
Hinzu kommt, dass die demografische Entwicklung seit Anfang der 2020er-Jahre nicht mehr dazu beiträgt, die Fach- und Arbeitskräftelücke zu vermindern, sondern diese nun enorm vergrößert. Denn der in der Fachkräftestrategie problematisierte demografische Wandel hat in Deutschland – im Unterschied zu anderen entwickelten Volkswirtschaften – noch bis Ende der 2010er-Jahre eine stetige Zunahme der Erwerbsbevölkerung bewirkt.
Erst seit diesem Jahrzehnt nimmt die Erwerbsbevölkerung ab, da weniger Junge in den Arbeitsmarkt eintreten als Ältere ausscheiden. Bis Mitte der 2030er-Jahre wird dieser Trend anhalten.
Völlig akkurat verweist die Bundesagentur für Arbeit (BA) daher darauf, dass dem deutschen Arbeitsmarkt allein wegen des demographischen Wandels bis zum Jahr 2035 mehr als sieben Millionen weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen werden als heute.
Wollte man das Erwerbspersonenpotenzial stabil halten, müssten vor allem die Erwerbsquoten der Frauen und der 60- bis 69-Jährigen sehr deutlich steigen und zudem wäre eine jährliche Nettozuwanderung von 400.000 Arbeitskräften notwendig, so die BA.
Neo-merkantilistisches Denken
Die von der Bundesregierung propagierte Fachkräftestrategie entstammt der Mottenkiste wirtschaftspolitischen Denkens, denn ihr liegt ein neo-merkantilistisches Denken zugrunde.
In völliger Übereinstimmung mit der unter Ökonomen, Wirtschaftsvertretern und Gewerkschaftern herrschenden Meinung setzt sie darauf, den Fach- und Arbeitskräftemangel ausschließlich durch eine quantitative Ausweitung des Arbeitsangebots auszugleichen und dies den Bürgern als wohlstandswahrend zu verkaufen.
Dieser Ansatz entspricht den wirtschaftlichen Realitäten vorkapitalistischer Gesellschaften, die zur Steigerung des Wohlstands – vor allem herrschender Kreise – darauf zurückgeworfen waren, die Anzahl der produktiv Tätigen zu steigern.
Während des Merkantilismus vom 16. bis zum 18. Jahrhundert erreichte diese Orientierung ihre volle Blüte und dominierte das wirtschaftspolitische Handeln. Zur Mehrung ihres Wohlstands strebten die herrschenden Kreise ein hohes Bevölkerungswachstum an, um das Lohnniveau möglichst niedrig und das Arbeitskräftepotenzial hochzuhalten.
Die quantitative Ausweitung der Güterproduktion zielte auf Exportüberschüsse, deren Erlöse das inländische Geldeinkommen mehrten.
Im völligen Gegensatz zu dieser Wirtschaftsweise mit nur sehr limitierten und zudem rein quantitativen Wohlstandswachstum einiger Weniger, das auf der Mehrarbeit vieler beruhte, entwickelte sich in dieser Zeit der Kapitalismus.
Dieser erreichte eine qualitative Steigerung des Wohlstands, indem technologische Verbesserungen – wie die einsetzende Arbeitsteilung – die Arbeitsproduktivität erhöhten, so dass es gelang, in der gleichen Arbeitszeit immer mehr Güter herzustellen.
Dieser arbeitssparende und zudem wohlstandssteigernde Effekt spielt jedoch in den entwickelten Volkswirtschaften eine immer unbedeutendere Rolle. Denn seit Jahrzehnten unterliegt die Produktivitätsentwicklung einem rückläufigen Trend.
Dieser ist so weit fortgeschritten, dass Deutschland von 2008 bis 2022 nur noch ein Produktivitätswachstum von etwa 0,6 Prozent pro Jahr erreichte – bei weiter sinkender Tendenz.
Da der technologische Wandel nur noch sehr schleppend vorankommt, sind dessen arbeitssparende und dadurch wohlstandssteigernde Effekte fast versiegt. Die wirtschaftliche Realität hat sich merkantilistischen Verhältnissen angenähert – und das wirtschaftspolitische Denken einer neo-merkantilistischen Sichtweise.