Ohne Produktivitätsschub kein Ende des Fachkräftemangels

Seite 2: Arbeitsproduktivität als Stellhebel

Somit ist Arbeitsproduktivitätsentwicklung als wirtschaftspolitisch beeinflussbare Stellgröße vollkommen ausgeblendet und findet daher in der Fachkräftestrategie der Bundesregierung nicht einmal Erwähnung.

Tatsächlich ist sie jedoch die alles überragende Ursache für den in Deutschland entstandenen Fach- und Arbeitskräftemangel.

Denn obwohl in der Zeit von 2007 bis 2022 die Anzahl der Erwerbstätigen in Deutschland um 5,3 Millionen auf 45,6 Millionen gestiegen ist, wurde der Arbeitsmarkt wegen der geringen Produktivitätsentwicklung regelrecht leer gefegt.

Denn zwar erreichte das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in diesem Zeitraum nur gut ein Prozent pro Jahr, die Arbeitsproduktivitätsanstieg pro Erwerbstätigenstunde lag mit durchschnittlich nur 0,6 Prozent pro Jahr jedoch noch niedriger.

Jedes Jahr wurden daher etwa 0,4 Prozent mehr Arbeitskräfte benötigt, um die steigende Wirtschaftsleistung zu erwirtschaften. So entstand jedes Jahr ein zusätzlicher Bedarf von etwa 150.000 Vollzeit-Arbeitskräften, der trotz des Anstiegs der Erwerbstätigenzahl bei gleichzeitiger Zunahme der Teilzeitarbeit nicht ausgeglichen werden konnte.

Die Produktivitätsentwicklung wäre der entscheidende Stellhebel für die Lösung dieses Problems. Gelänge es beispielsweise, die Arbeitsproduktivität – bei gleichbleibendem Wirtschaftswachstum von etwa einem Prozent – um 1,6 Prozent statt wie aktuell nur um 0,6 Prozent jährlich zu steigern, würden jedes Jahr nicht 150.000 Vollzeit-Arbeitskräfte zusätzlich, sondern 200.000 weniger benötigt.

Auf dem Weg steigender Arbeitsproduktivität ließe sich die demografische Alterung problemlos und sogar wohlstandswahrend bewältigen.

Denn eine zentrale Wirkung von Produktivitätssteigerungen besteht darin, dass sie die Alterung, bei der immer mehr Rentenempfänger einer sinkenden Zahl an Erwerbstätigen gegenüberstehen, auffangen können. Denn indem die Erwerbstätigen produktiver arbeiten, mehren sie den Wohlstand, sodass sich Verteilungsspielräume ergeben, die andernfalls schlichtweg fehlen.

Scheinlösung zulasten der Bürger

Das neo-merkantilistische Denken führt die Bundesregierung gehörig in die Irre, sodass sie den Fach- und Arbeitskräftemangel als Ursache für die gefährdete Wirtschafts- und Wohlstandsentwicklung anführt, obwohl das Umgekehrte gilt.

Die fast stagnierende Arbeitsproduktivität und das gelähmte Wirtschaftswachstum sind ursächlich für die Wohlstandsstagnation und den Mangel an Fach- und Arbeitskräften.

So sieht Heil im Fach- und Arbeitskräftemangel eine "Wohlstandsbremse", Habeck betont gleichermaßen in Umkehrung des kausalen Zusammenhangs, er sei "für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland ein akutes Hemmnis".

In einer Mischung aus falschem Glauben und gezieltem Kalkül wird nicht nur von der Bundesregierung, sondern von Experten allgegenwärtig behauptet, dass nicht etwa die Produktivitätskrise, sondern die "drei D" für den Fach- und Arbeitskräftemangel ursächlich seien.

So kann man die nicht einfach zu lösende Produktivitätskrise unangetastet lassen und sich auf technokratische Behelfslösungen zurückziehen, die das Problem mehr schlecht als recht verwalten.

Die an völlig falschen Prämissen orientierte Fachkräftestrategie kann daher nur scheitern. Das Potenzial zur Abwerbung von Fach- und Arbeitskräften aus den EU-Ländern ist wegen des dort ebenfalls längst stattfindenden demografischen Wandels limitiert. Insbesondere qualifizierte Arbeitskräfte sind in ganz Europa knapper geworden, sodass die Netto-Einwanderung von Arbeitskräften aus EU-Ländern nach Deutschland inzwischen praktisch zum Erliegen gekommen ist.

Zudem verliert Deutschland für Fach- und Arbeitskräfte zunehmend an Attraktivität. Denn wegen der schwachen Produktivitätsentwicklung ist das Reallohnniveau seit Mitte der 1990er-Jahre mit durchschnittlich etwa 0,5 Prozent pro Jahr kaum noch gestiegen.

Insbesondere osteuropäische Länder hingegen, wie beispielsweise Polen, das seit Mitte der 2010er-Jahre Reallohnsteigerungen von durchschnittlich knapp vier Prozent pro Jahr erreicht, haben deutlich aufgeholt.

Die in Deutschland gezahlten Löhne und Gehälter liegen daher für immer mehr potenzielle Zuwanderer zu niedrig im Verhältnis zu den großen Hürden, die sie überwinden müssen, etwa bei der Wohnungssuche in Ballungsgebieten, bei der Unterbringung von kleinen Kindern oder etwa aufgrund der Sprachbarriere.

Was bleibt, ist die Einwanderung aus Nicht-EU Ländern. Aber selbst die Bundesregierung rechnet nicht damit, dass sie trotz des nun "modernsten Einwanderungsrechts der Welt" jedes Jahr zusätzlich mehr als 75.000 qualifizierte Arbeitskräfte aus diesen Staaten hierhin lotsen kann.

Mit der Fachkräftestrategie verfolgt die Bundesregierung zudem eine Vorgehensweise, die darauf hinausläuft, die Folgen des Fach- und Arbeitskräftemangels auf andere abzuschieben.

Einerseits versucht man sich in anderen Ländern an den oft mit dortigem Steuergeld ausgebildeten Fachkräften zu bedienen, was längst zu heftigen Reaktionen der betroffenen Staaten führt.1

Zweitens wälzt man die Belastungen auf die Erwerbstätigen in Deutschland ab. Denn sie sind es, die wegen des Arbeitskräftemangels mit schlechteren Arbeitsbedingungen zurechtkommen müssen und vielfach in der Not zu Mehrarbeit gedrängt werden, um die Betriebe am Laufen zu halten.

Sie sind es, die zudem als Kunden, Kranke oder Pflegebedürftige die damit einhergehende Wohlstandserosion in Form von quantitativ und qualitativ schwächerer Leistung ausbaden müssen.

Die Fachkräftestrategie der Bundesregierung gehört in die Tonne. Sie lässt die zugrundeliegenden Ursachen völlig unangetastet, propagiert Scheinlösungen, die nicht funktionieren können und verfolgt diese vor allem zulasten der Bürger.

Mehr von Alexander Horn lesen Sie in seinem aktuellen Buch "Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind" mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.