Open Source Literatur
Poesie für Hacker
Der Chaos Communication Congress treibt oft seltsame Blüten und nicht alle davon benötigen als Dünger das Element Silizium. Auch zur Gutenberg-Galaxis werden weiterhin freundschaftliche Beziehungen unterhalten. Der 18C3 erlebte am zweiten Kongresstag, zu später Stunde von vielen unbemerkt, aber immerhin bei halb gefüllter großer Aula, ein Novum: eine Dichterlesung, oder zumindest etwas in dieser Richtung.
Daniel Kulla, Betreiber eines Internet-Literaturprojektes, erläuterte dem staunenden Hackerpublikum die Open Source-Metapher: Literatur hat zwar keinen Quellcode in Maschinensprache, aber soziale und psychologische Prozesse in ihrem Weichkern. Das öffentliche Produzieren von Texten und Textkollagen kommt daher GNU& Co aus der Software-Welt nahe, insbesondere wenn sich die Textproduktion gemeinsam und im Web vollzieht. Die amüsierten und teilweise sichtlich der Bewusstseinserweiterung zugetanen Computerfans waren ein dankbares Forum für diese Anregung. Daniel Kullas Ausflug in die Historie des Projektes klang ungefähr so:
Meinem Heimatland (der DDR), dessen Bewohner offenbar ihre Systemrechnung nicht pünktlich bezahlt hatten, wurde das System abgeklemmt und für ein wundervolles Jahr schwappten die verpassten Jahrzehnte und die auch im Westen gerade erst geborenen Neunziger pretty filterlos in Gestalt von Flugblättern, Sekten, Büchern, Konzerten, Platten, Performances, Initiativen und allerlei anderem bewusstseinsverbiegendem Transportmaterial herein.
"Systemausfall" inszenierte anschließend ein Language-is-a-virus-Happening in der Tradition von William S. Burroughs durch spontane Lese-Kollagen aus historischen, politischen, obszönen und natürlich Büchern des Undergroundgenres, die mit Standing Ovations belohnt wurden. Im "Chaos Archiv" des Chaos Computer Clubs, wo eine umfangreiche Pressedokumentation und die Restbestände der Vereinszeitschrift "Datenschleuder" auf lesefreudige Hacker warten, hatte der Systemausfall-Verlag seinen Büchertisch aufgebaut.
Hier zeigte sich eine enge Verflechtung von Systemausfall und Hanfkultur: Es gab ein gemeinsames Sortiment mit Werner Piepers Verlag Grüne Kraft, der auch LSD- und Cyberspace-Guru Timothy Leary und die legendären Hackerbibeln herausbrachte. Daniel Kullas "Weichkern-Aufschnitt: Die endgültige Versöhnung von einfach allem mit einfach allem" konkurrierte hier mit einer Parodie auf den von Sat1 produzierten Fantasy-Film Die Nebel von Avalon und Schautafeln zum Big Brother Award 2001 erfolgreich um die Aufmerksamkeit des übermüdeten Hackernachwuchses. Das von Marshall McLuhan vorhergesagte Ende des Gutenberg-Zeitalters scheint also auch beim harten Kern der Computer-Avantgarde noch auf sich warten zu lassen.