Operation Litwinenko
Der kleine Atomangriff auf London
Noch immer ist unklar, wann und wo der ehemalige Geheimagent Alexander Walterowitsch Litwinenko mit einer tödlichen Dosis des radioaktiven Schwermetalls Polonium 210 vergiftet wurde. Die Spuren reichen zurück bis zum Nachmittag des 1. November 2006. Gegen 15.00 Uhr traf der frühere Oberstleutnant des russischen Inlandsgeheimdienstes Federalnaja Sluschba Besopasnosti (FSB) seinen italienischen Kontaktmann Mario Scaramella in der Sushi-Bar Itsu am Picadilly Circus in London. Aber nach Scaramellas Angaben musste der Anschlag wohl schon vorher stattgefunden haben. Vermutlich wurde das Gift irgendwann Litwinenkos Lebensmitteln beigemengt.
Alexander Litwinenko stand seit den achtziger Jahren in Diensten des damaligen Komitet Gosudarstwennoje Besopasnosti (KGB). Anschließend war er von 1991 bis 1999 Mitarbeiter des FSB gewesen: Hier diente er erst in Tschetschenien. Ab 1998 war er stellvertretender Leiter der neu gegründeten 7. Verwaltung für die Ermittlung und Bekämpfung Organisierter Kriminalität (Upravleniye Po Razrabotke Peresecheniyu Deyatelnosti Prestypnykh Obyedineniy - URPO), die sich offiziell mit der Bekämpfung des Organisierten Verbrechens befasst, aber von Litwinenko als eine korrupte und verbrecherische Einheit dargestellt wurde.
Radioaktive Spur durch London
Am Abend des 1. Novembers klagte Litwinenko über Übelkeit und wurde mit Brechdurchfall in das Barnet General Hospital eingeliefert. Dessen Ärzte waren mit diesem Krankheitsfall überfordert und konnten nicht einmal eine brauchbare Diagnose stellen. Am 17. November verlegten die Mediziner den todkranken Patienten schließlich ins University College Hospital. Aber auch dort konnten die Ärzte nicht weiterhelfen. Sie vermuteten zunächst eine Vergiftung mit dem uralten Rattengift Thallium und verabreichten als Bindemittel Preußisch-Blau. Am 21. November vermuteten die behandelnden Mediziner eine Intoxikation mit einem radioaktiven Thallium-Isotop.
Erst am 23. November, wenige Stunden vor seinem Tod, gab es endlich eine präzise Diagnose: Alexander Litwinenko war mit dem Ultragift Polonium 210, einem aggressiven Alpha-Strahler mit einer Halbwertzeit von 138 Tagen, kontaminiert worden. Kaum mehr als ein Mikrogramm dieses Isotops gilt als letale Dosis. Litwinenkos soll sogar das Hundertfache der tödlichen Dosis abbekommen haben. Am 7. Dezember 2006 wurde Litwinenkos Leichnam in einem strahlensicheren Spezialsarg auf dem Londoner Highgate-Friedhof beigesetzt. Eine von der Familie gewünschte Einäscherung der Leiche wäre aus Umweltschutzgründen erst in 22 Jahren möglich gewesen.
Litwinenkos absorbierte Strahlung war so hoch, dass er an jenem Nachmittag des 1. November allein schon durch seine Schweißabsonderungen eine radioaktive Spur durch die britische Hauptstadt zog. An mindestens zwölf Orten konnte eine Kontamination festgestellt werden. Von der Sushi-Bar Itsu (ab 15.00 Uhr) führte die Strahlenspur zur Pine-Bar des Millenium-Hotels am Grosvenor Square, wo sich Litwinenko mit seinen russischen Gesprächspartnern Andrej Lugowoi, Wjatscheslaw Sokolenko und Dimitrij Kowtun von 16.30 bis 18.00 Uhr traf. Kowtun und Lugowoi waren früher Mitarbeiter des KGB, Kowtun als Personenschützer in der 9. Verwaltung. Welcher Art von „Geschäften“ die früheren Geheimdienstler bei diesem Treffen nachgingen, wurde nicht bekannt. Anschließend ging Litwinenko zur Niederlassung der Sicherheitsfirma Erinys am Grosvenor Square und danach zum Büro des exil-russischen Magnaten Boris Beresowski in der Down Street. Gegen 19.30 Uhr kehrte Litwinenkos zu seiner Wohnung im Stadtteil Muswell Hill zurück und hinterließ auch zu Hause radioaktive Strahlung. Nicht zuletzt fanden sich Polonium-Partikel in der Barnet-Klinik und im University College Hospital.
Litwinenkos Gesprächspartner aus der Pine-Bar gingen nach dem Gespräch ins Emirates-Fußballstadion, um sich das Länderspiel zwischen ZSKA Moskau und dem FC Arsenal anzusehen. Danach fuhr Andrej Lugowoi zurück zu seinem Zimmer im Sheraton Park Lane Hotel, was ebenfalls kontaminiert war. Außerdem wurde ein Zimmer im Millenium-Hotel verstrahlt, das ein namentlich nicht genannter Russe belegt hatte. Ob es sich bei dieser Person um den Mörder handelt, ist nicht bekannt.
Größter Tatort der Kriminalgeschichte
Am 30. November, seit dem Mordanschlag war bereits ein Monat vergangen, fand die Polizei auf dem Londoner Flughafen Heathrow radioaktive Spuren an Bord von mindestens zwei Passagierflugzeugen vom Typ Boeing 767 (G-BNWX und G-BZHA) der britischen Fluggesellschaft British Airways. Bis dahin hatten die beiden Maschinen bei 221 Flügen Airports in ganz Europa angeflogen: Athen, Barcelona, Düsseldorf, Frankfurt, Istanbul, Larnaca, Madrid, Moskau, Stockholm, Warschau und Wien. Die Liste umfasst somit nicht weniger als sechs europäische Hauptstädte. Der Mordanschlag auf Litwinenko weitete sich zum größten Tatort der Kriminalgeschichte aus.
Es mutet schon makaber an: Zuerst erlassen die EU-Staaten im Rahmen ihrer Terrorismusbekämpfung strengste Kontrollen des Flugverkehrs, die selbst die Mitführung von Babybrei reglementieren, und erlauben ihren Luftwaffen weitreichende Kompetenzen zum Abschuss von Passagierflugzeugen; aber anschließend schlüpfen ihnen dauernd zwei Flugzeuge quasi als „schmutzige Bomben“ durch das Netz.
Mittlerweile sind auch in der Bundesrepublik Spuren von Polonium 210 aufgetaucht, weil Dimitrij Kowtun bei seiner Rückreise von London nach Moskau in Hamburg Station gemacht hatte. Hier besuchte er seine Ex-Ehefrau in der Erzbergerstraße im Stadtteil Ottensen und seine Ex-Schwiegermutter in Haselau (Schleswig-Holstein). In beiden Wohnungen wurde erhöhte Alpha-Strahlung gemessen. Beide Häuser mussten vorübergehend evakuiert werden, damit die Experten der Arbeitsgruppe SW Nuklearspezifische Gefahrenabwehr des Bundesamtes für Strahlenschutz einen „Feinscan“ vor Ort durchführen können. Die Staatsschutzabteilung des Bundeskriminalamtes und das Landeskriminalamt Hamburg richteten die gemeinsame Sonderkommission „Dritter Mann“ ein. Da sich Dimitrij Kowtun und Andrej Lugowoi heute in Moskau in medizinischer Behandlung befinden, muss es auch im Moskauer Stadtgebiet zu einer radioaktiven Kontamination gekommen sein, allerdings machten die russischen Behörden hierzu keine Angaben.
Insgesamt wurden bisher mindestens achtzehn Personen verstrahlt. Neben Alexander Litwinenko selbst auch dessen Ehefrau Marina, der Kontaktmann Scaramella, die drei Gesprächspartner und sieben Kellner aus der Pine-Bar, vermutlich auch mehrere Ärzte bzw. Krankenschwestern. Insgesamt wurden 49 Krankenhausbedienstete auf eine Verstrahlung mit Polonium untersucht. Die britischen Gesundheitsbehörden forderten mittlerweile über 200 Hotelgäste auf, sich medizinisch untersuchen zu lassen. Allein im Fußballstadion waren mehrere zehntausend Fans gewesen, und nach der Kontamination der beiden Flugzeuge fahndete British Airways nach rund 33.000 Passagieren.
Die britischen Behörden versicherten wiederholt, die festgestellten Poloniumspuren seinen viel zu gering, um eine Gefahr für die Öffentlichkeit darzustellen, aber was heißt das schon, wenn ca. 0,000001 Gramm bei Inkorporation tödlich sein können. Zwar hielt sich Litwinenko am 1. November nicht im Regierungsviertel Whitehall und am Buckingham Palace auf, aber offensichtlich hat jemand die britische Hauptstadt ganz schön verstrahlt!
Detektionsarbeit der Atomexperten
Noch während Litwinenko im Krankenhaus mit dem Tode rang, übernahm die britische Gesundheitsbehörde Health Protection Agency (HPA) die radiologischen Nachforschungen. Zuständig ist ihr Centre for Radiation, Chemical & Environmental Hazards unter der Leitung von Dr. Roger Cox in Chilton (Oxfordshire), zu dem eine Radiation Protection Division gehört. Die Abteilung hat in London eine eigene Niederlassung in High Holborn. Deren Mitarbeiter strömten mit Geiger-Müller-Zählern oder radiometrischen Spektrometern los, um im Nachhinein in London Litwinenkos letzte Aufenthaltsorte nach radioaktiven Spuren zu durchsuchen.
In seinen polizeilichen Vernehmungen am Krankenbett machte Litwinenko Angaben, wann er sich wo aufgehalten hatte. Dadurch konnten sich die Spezialisten der Radiation Protection Division bei ihrer Detektionsarbeit auf diese Liste von insgesamt 30 Orten konzentrieren und wurden an 13 Stellen tatsächlich fündig. Dabei mussten die Atomexperten die Polonium-Spuren aus der natürlichen Hintergrundstrahlung und den Emissionen der zahlreichen künstlichen Nuklearquellen in London herausfiltern. Anschließend wurden die gemessenen Radioaktivitätslevel in ein Computerprogramm eingegeben, um mit dessen Hilfe zurückzuverfolgen, wann Litwinenko kontaminiert worden war.
Unterstützt werden die zivilen ABC-Abwehrexperten der HPA durch die britischen Militärs: Nuklearphysiker des Atomic Weapons Establishments (AWE) in Aldermaston und Chemiker des Defence Science and Technology Laboratory (DSTL) in Porton Down bei Salisbury. Beide Forschungsstätten dienen „normalerweise“ der Entwicklung und Produktion von ABC-Waffen.
In die Berichterstattung zum Mordfall Litwinenko platzte am 13. November die Meldung, der britische Geheimdienst MI 5 rechne mit einem Angriff von Al-Qaida auf das Vereinigte Königreich mittels einer „schmutzigen Bombe“. So konnten die britischen Sicherheitsbehörden den aktuellen Fall Litwinenko nutzen, um ihre ABC-Abwehrkapazitäten einem Realtest zu unterziehen. Die Ergebnisse sind ernüchternd: Weil durch die Unsicherheit der Ärzte die radiologischen Nachforschungen erst verspätet einsetzten, wurde erst mit dreiwöchiger Verspätung festgestellt, dass am 1. November eine klitzekleine radioaktive Wolke durch die britische Hauptstadt geweht war.
Sicher ist, dass der oder die Attentäter in letzter Zeit Zugang zu Polonium 210 gehabt hatten und dieses entwenden konnten. Darüber hinaus wurde bekannt, dass es im All-Russischen Institut für Experimentelle Physik (VNIIEF), einem Atomwaffenlaboratorium in Arsamas-16, einen Diebstahl dieses Schwermetalls gegeben hat. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass das verwendete Polonium einen Schwarzmarktwert von fast dreißig Millionen Euro gehabt haben soll. Damit wäre das Attentat auf Litwinenkos der wohl teuerste Mord der Kriminalgeschichte. Gleich mehrere russische Geheimdienstler waren in den letzten Jahren in den russischen Atomschmuggel verwickelt.
Die Suche nach den Tätern
Auf Grund der politischen Brisanz des Attentats werden die Ermittlungen vom Notstands-Komitee des britischen Kabinetts angeleitet. Dieses tagt für gewöhnlich im Cabinet Office Briefing Room A und ist daher unter dem Kürzel COBRA bekannt. Die britische Polizei geht erst seit dem 7. Dezember 2006 offiziell davon aus, dass Litwinenko ermordet wurde. Bisher ist weder der Zeitpunkt noch der Ort des Mordanschlags auf Litwinenko bekannt. Man weiß noch nicht einmal, ob das Attentat von einem Einzeltäter oder einem Mordkommando verübt wurde. Zeitweise war sogar unklar, wer Täter und wer Opfer ist: So geriet der frühere KGB-Mann Andrej Lugowoi durch die Presseberichterstattung vorübergehend selbst unter Tatverdacht.
Mittlerweile gibt es über den oder die Täter, das wahrscheinliche Motiv und mögliche politische Interessen zahlreiche Spekulationen. Litwinenko selbst soll sowohl den früheren KGB-Oberst und amtierenden Präsidenten Russlands Wladimir Putin, aber auch seinen italienischen Kontaktmann Mario Scaramella des Mordes beschuldigt haben: „Sie werden es vielleicht schaffen, einen Mann zum Schweigen zu bringen. Aber der Protest aus aller Welt, Herr Putin, wird für den Rest des Lebens in ihren Ohren nachhallen. Möge Gott Ihnen vergeben, was Sie getan haben, nicht nur mir angetan haben, sondern dem geliebten Russland und seinem Volk“, erklärte Litwinenko in seinem Abschiedsbrief.
Allerdings war es Scaramella gewesen, der Litwinenko vor einem Mordanschlag gewarnt hatte. Er vermutet, dass eine Geheimorganisation früherer KGBetschiki hinter dem Attentat stecken. Dabei bezog sich Scaramella insbesondere auf die Veteranenvereinigung „Würde und Ehre“ unter dem Vorsitzenden Oberst a. D. Walentin Welitschko. Die britischen Geheimdienste (MI 5 Security Service und MI 6 Secret Intelligence Service) wollen gar eine direkte Beteiligung des FSB unter seinem Direktor Nikolai Patruschew nicht ausschließen. Auch der frühere FSB-Agent Michail Trepaschkin, der derzeit in Russland im Gefängnis sitzt, beschuldigte den FSB, ein Mordkommando aufgestellt zu haben, um Litwinenko zu töten.
Bei der privaten Täterfahndung wird insbesondere auf die nachrichtendienstlichen Erfahrungen und intimen Kenntnisse Litwinenkos über die Machenschaften des Kreml (Tschetschenienkrieg, Jukos-Affäre etc.), seinen „Verrat“ gegenüber den früheren FSB-Kollegen und seine heutigen „Geschäfte“ hingewiesen. Die Einen vermuten, dass dieser politische Mord dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nützt, weil nun einer seiner schärfsten Kritiker verstummt und die russische Opposition einmal mehr eingeschüchtert sei. Andere verweisen darauf, dass die Ermordung Litwinenkos Putin eher schadet, weil sie erneut Ängste vor dessen neostalinistischen Methoden schürt und seinen „prowestlichen“ Kurs torpediert. Wieder Andere vermuten, der Mord habe mit Putin gar nichts zu tun, vielmehr versuchten verschiedene Fraktion innerhalb Russlands sich für die Zeit nach Putins Abwahl im Jahr 2008 in Stellung zu bringen.
Vier Mitarbeiter des Counter-Terrorism Command der Londoner Metropolitan Police (SO15) reisten für Ermittlungen nach Russland, aber die Regierung in Moskau mauert. Der russische Generalstaatsanwalt Juri Tschaika bezweifelte, dass das Polonium aus Russland stammt, außerdem dürfen die Vertreter von Scotland Yard keine eigenen Nachforschungen in Moskau anstellen. Stattdessen drohte der russische Außenminister Sergej Lawrow frech mit einer Verschlechterung der bilateralen Beziehungen. Mittlerweile hat die Moskauer Generalstaatsanwaltschaft wegen der Verstrahlung des Ex-Agenten Dimitrij Kowtun am 7. Dezember formal ein eigenes Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Aus der Geschichte ist hinreichend bekannt, dass die russischen bzw. sowjetischen Geheimdienste – genauso wie ihre amerikanischen oder britischen Kollegen - eine lange Blutspur aufzuweisen haben: Innerhalb des KGB war die Abteilung V(iktor) für die Durchführung von Mordanschlägen zuständig. Allerdings sprachen die Agenten lieber von der Erledigung „nasser Angelegenheiten“ (Mokryje Dela), weil bei den meisten Attentaten Blut floss. Mal setzten die Mörder schallgedämpfte Pistolen, mal spezielle chemische Gifte oder Biotoxine ein. Diese waren vom so genannten Laboratorium Nr. 12 in Moskau unter Leitung des gruseligen Dr. Grigori Mairanowski entwickelt worden. Mal wurden die Attentate durch Einzeltäter (Agent-boyevik) durchgeführt, mal kamen vier- bis fünfköpfige Mordkommandos (Agenturno-boyevaya Gruppa) zum Einsatz.
Wiederholt verübte das KGB auch in der alten Bundesrepublik solche Mordoperation: Im Jahr 1954 sollte der damalige KGB-Hauptmann Nikolaj Chochlow in Frankfurt den sowjetischen Exilpolitiker Georgi Okolowitsch mittels einer Giftgas-Zigarettenschachtel umbringen, aber stattdessen lief er zu den Amerikanern über und wurde drei Jahre später selbst mit Thallium ermordet. Im August 1961 setzte sich der KGB-Attentäter Bogdan Staschynskij in den Westen ab und gestand, die beiden ukrainischen Exilpolitiker Lev Rebet (1957) und Stefan Bandera (1959) in München mittels Giftgas liquidiert zu haben. Mit der politischen Entspannung in den sechziger Jahren gaben die sowjetischen Geheimdienste diese Aktivitäten auf bzw. überließen sie lieber den bulgarischen Kollegen. Aber durch den Zerfall der Sowjetunion 1991 und die politischen Umbrüche in Russland lebte die alte Mordlust wieder auf. Im Kampf um politische Macht und wirtschaftlichen Reichtum bringen sich die (Ex-)Agenten nun gegenseitig um, wie dutzende Todesfälle in den letzten Jahren bezeugen. Das Sterben geht weiter.
Gerhard Piper ist Mitarbeiter des Berliner Informationszentrums für transatlantische Sicherheit (BITS).