Orange Revolution in Caracas?

Venezuelas Präsident Chávez liegt vor der Wahl am Sonntag in deutlicher Führung. Doch Teile der Opposition wollen seinen erwartbaren Sieg auf keinen Fall anerkennen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der venezolanische Präsident Hugo Chávez tritt am Sonntag zum zweiten Mal zur Wahl an, und für einige Landsleute wird es ein Schicksalstag. Die Opposition gegen den linken Staatschef sieht das südamerikanische Land am Scheideweg: Demokratie und Marktwirtschaft auf der einen Seite, Kommunismus und das „Regime“ auf der anderen. Mit entsprechend harten Bandagen wurde der Wahlkampf in den vergangenen Monaten geführt. Trotzdem hat der Amtsinhaber allen seriösen Umfragen zufolge einen deutlichen Vorsprung vor seinem Herausforderer Manuel Rosales. Doch der wird sich wohl nicht geschlagen geben, auch wenn er die Wahl verliert.

Hugo Chavez am 26. 11. bei einer Wahlkampfrede. Foto: abr.info.ve

Dabei hätte der bisherige Gouverneur des erdölreichen Bundesstaates Zulia ursprünglich gar nicht antreten sollen. Weil die Unterstützung für Hugo Chávez ungebrochen hoch war, hatte die Opposition noch im Frühjahr darüber diskutiert, die Wahl am 3. Dezember zu boykottieren - so wie die letzten Parlamentswahlen. Erst als der Präsident androhte, seine Amtszeit in diesem Fall per Volksentscheid bis 2021 zu verlängern - und die Chancen dafür hätten gut gestanden - rückten seine Gegner vom Boykott ab.

Rosales: Klares Feindbild, unklares Programm

Manuel Rosales, ein 54jähriger Geschäftsmann, wurde Anfang August als Einheitskandidat mehrerer Oppositionsgruppen ins Rennen geschickt. Während er selbst aus der sozialdemokratischen Partei Acción Democrática stammt, wird Rosales seitdem auch von radikalen rechten Kräften unterstützt. Julio Borges von der Partei Primero Justicia etwa verzichtete auf seine Kandidatur zugunsten Rosales.

Diese Bündnispolitik hatte Konsequenzen. Der Anti-Chávez-Kandidat führte in den vergangenen Wochen einen aggressiven Wahlkampf, in dem er der amtierenden Regierung unter anderem vorwarf, das Land in die Arme des „Castro-Kommunismus“ zu treiben. Angriffe auf die Regierung, der er Korruption und Misswirtschaft vorwirft, bestimmten die Kampagne. Die wenigen programmatischen Punkte zielten auf einen massiven Sozialabbau ab. Soziale Institutionen wie die Frauenbank, die Kleinkredite vergibt, will Rosales als „nutzlose Bürokratie“ wieder abschaffen. Die Mehrwertsteuer soll gesenkt und der öffentliche Dienst privatisiert werden.

Für Aufsehen sorgte er vor wenigen Wochen mit dem Vorschlag, eine Art Geldkarte für die arme Bevölkerungsmehrheit einführen zu wollen. Die Karte mit dem Namen Mi Negra - „Meine Schwarze“, was sich neben der ethnischen Konnotation auf das Erdöl, das „schwarze Gold“ bezieht - soll die Mehreinkünfte aus dem Erdölgeschäft direkt verteilen. Drei Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner würden demnach mit umgerechnet 280 bis 460 US-Dollar pro Monat rechnen können. Doch was geschieht, wenn der Erdölpreis wieder fällt?

„Wir erleben eine regelrechte politische Amnesie“, kritisierte der venezolanische Wirtschaftswissenschaftler Michael Penfold Becerra den Vorschlag von Rosales. Offenbar könne sich niemand mehr an die Folgen erinnern, als Ende der siebziger Jahre der Erdölpreis auf dem Weltmarkt eingebrochen war. Der Preissturz hatte damals verheerende soziale Auswirkungen in Venezuela. Er schuf zugleich die Basis für den Zerfall der Parteienlandschaft und damit die Regierungsübernahme von Chávez Anfang 1999.

Unterstützung für Chávez ungebrochen

Dessen Regierung stand den Vorstößen von Rosales relativ gelassen gegenüber. Sie verfügt nach wie vor über einen starken Rückhalt in den Barrios, den Armenvierteln, in denen die Wahl entschieden wird. Ein Hauptgrund dafür ist neben der Verwendung der Mehreinkünfte aus dem Erdölgeschäft für soziale Programme die neue Wirtschafts- und Sozialpolitik. Denn während Chávez die Mehreinnahmen zunächst nutzt, um die teils katastrophale Lage der armen Bevölkerung zu verbessern, setzt er zugleich auf eine nachhaltige Binnenentwicklung.

Die Einkünfte aus dem Erdölgeschäft werden erstmals benutzt, um eine produzierende Industrie und Agrarwirtschaft aufzubauen. Begleitet wird diese Politik von einer Landreform, einem neuen System von Mikrokrediten und der Unterstützung kleiner und mittelständischer Betriebe in den Städten. Dabei wird kollektiven Wirtschaftsformen der Vorrang gegeben, Agrarkooperativen und Genossenschaften. Auch wenn die Aussicht auf individuelle und bedingungslose staatliche Förderung, wie sie von Rosales angeboten wird, für viele Venezolanerinnen und Venezolaner verlockend ist, wird der Unterschied zwischen beiden Modellen in der Bevölkerung wahrgenommen. Und das kommt dem Kandidaten Chávez zugute. In den Umfragen liegt er im Schnitt 20 Prozentpunkte vor seinem Herausforderer.

Opposition mit Plan B

Doch wenige Tage vor den Wahlen deutet vieles darauf hin, dass sich das Oppositionsbündnis um Rosales mit der wahrscheinlichen Niederlage nicht geschlagen geben wird. In Oppositionszeitungen wurde, nachdem er im Internet Verbreitung fand, ein so genannter Plan V veröffentlicht, mit dem Unterstützer des Oppositionskandidaten zum „strategischen gewaltlosen Widerstand“ gegen das „Regime“ geschult wurden. 4000 Kader sollen im Falle eines Wahlbetrugs anhaltende Proteste auf der Straße organisieren. Dass die Opposition gegen Chávez von einem Betrug ausgeht, davon kann ausgegangen werden. In der Woche vor dem Urnengang wurde bekannt, dass das Wahlkampfteam von Rosales 40.000 T-Shirts mit dem Aufdruck „Fraude“ (Betrug) bestellt hat.

Heikel sind diese Enthüllungen nicht nur, weil das Schulungsmaterial vom Wahlkampfteam von Rosales stammt und darin ein direkter Bezug auf den „Erfolgsfall“ der „orangen Revolution“ in der Ukraine 2004 genommen wird. Auch weitere Indizien weisen auf eine Eskalationsstrategie hin. So veröffentlichte das US-amerikanische Umfrageinstitut Penn, Schoen & Berland (PSB) in den Wochen vor der Wahl zwei Umfragen, nach denen der Abstand zwischen Chávez und Rosales stetig abgenommen hat. Zuletzt lagen beide Kandidaten nur noch sechs Prozentpunkte auseinander. Obwohl eine ähnliche Annäherung in den Prognosen nur noch von den Meinungsforschern der venezolanischen Firma „Keller & Asociados“ bestätigt wurde (die der Opposition zugeordnet wird und damit politisch vorbelastet ist), legt PSB-Gründer Douglas E. Schoen Wert auf seine Unabhängigkeit: Er sei von einer „Gruppe Unternehmer“ beauftragt worden.

Dass diese Unabhängigkeit in Venezuela angezweifelt wird, liegt an der Geschichte der Firma. Douglas E. Schoen wurde 1996 in den USA zum „Meinungsforscher des Jahres“ gewählt. Begründet wurde die Ehrung damit, dass es ihm gelungen war, als Imageberater des damaligen Präsidenten William Clinton dessen schlechtes Ansehen derart zu verbessern, dass er die Wahl zur zweiten Amtszeit 1996 wider Erwarten gewann. Der US-Autor Chris Carlson weist in einem Beitrag für das regierungsnahe venezolanische Internetportal Venezuelanalisis.com darauf hin, dass PSB bereits in Jugoslawien 2000 eine entscheidende Rolle dabei gespielt hat, die Basis für den Sturz von Slobodan Milosevic zu schaffen. Die Arbeit der Firma wurde von niemand Geringerem als der damaligen US-Außenministerin Madeleine Albright anerkannt:

Das war vielleicht das erste Mal, dass ein Umfrageunternehmen eine derart bedeutende Rolle in Durchsetzung und Absicherung außenpolitischer Ziele gespielt hat.

Madeleine Albright über PSB in Jugoslawien

Das Schema, dem die Firma auch bei späteren Aufträgen in Belarus (2001), Georgien (2003) und der Ukraine (2004) folgte, ist immer gleich. Zunächst wird für den auserwählten Kandidaten mit Hilfe einer breit angelegten Werbekampagne eine Unterstützerbasis geschaffen und Erfolgserhebungen zu seinen Gunsten verbreitet. Nach der Wahl, bei der der Kandidat scheitert, wird die These eines Wahlbetrugs verbreitet, die dann - als dritter Schritt - der Opposition dazu dient, ihre Anhänger gegen die gewählte Regierung zu mobilisieren. Das venezolanische Strategiepapier „Plan V“ folgt diesem Vorgehen bis ins Detail und gibt damit dem US-Autoren Jonathan Mowat recht, der von einer „postmodernen Variante des Staatsstreichs“ spricht.

Droht in Venezuela eine Eskalation der Gewalt?

Zu den Paradoxa der Situation zählt, dass die Regierung in Venezuela (und andernorts) kaum etwas gegen diese Pläne unternehmen kann, weil sie offen auf die „Zivilgesellschaft“ und „Gewaltlosigkeit“ setzt. Ein repressives Vorgehen kurz vor der Wahl würde der Opposition zugute kommen. Doch schon jetzt haben Unterstützer der Regierung angekündigt, bei Protesten der Opposition selbst zu mobilisieren. Die Stimmung ist angespannt.

Dies ist in Venezuela ungleich gefährlicher als in anderen Staaten, weil Kleinwaffen hier eine weite Verbreitung haben. Seit Mitte der Woche kam es in der Hauptstadt Caracas zu mehreren Schießereien zwischen Anhängern und Gegnern der Regierung. In Internet fand derweil eine Anleitung zum bewaffneten Kampf in den Städten Verbreitung. Neben der „Identifizierung von Chavisten in der Nachbarschaft, ihrer Lebenspartner und Kinder“, wird darin die Zerstörung regierungsnaher Fernseh- und Radiostationen, die Einrichtung von Räumen „zur Unterbringung Gefangener“ und die Kontrolle größerer Gebiete durch Scharfschützen erläutert. Ein Anhang liefert Anleitungen zum Bau von Bomben - und eine Liste bekannter Unterstützer der Regierung mit Namen, Adresse und Ausweisnummer. Der gewaltlose Widerstand, wie er von der Opposition offen erklärt wird, ist offenbar nur ein Teil der Pläne, die für die Zeit nach der Wahl entworfen wurden.