Orkan Friederike oder von der mangelnden Elastizität hochtechnologisierter Gesellschaften
Risse im Fundament unserer Zivilisation
"Ein bewölkter Himmel klärt sich ohne Sturm nicht auf." So heißt es bei Shakespeare in MacBeth. Wie oft ich diese Stelle schon zitiert habe. In den letzten beiden Tagen erhielt sie jedoch eine ganz neue Bedeutung. Tage, die landesweit vom Orkan "Friederike" geprägt waren. Tage, an denen ich - wie so viele andere - versuchte, nach Hause zu gelangen. Das Erschütterndste an dieser Zeit waren aber nicht umgeknickte Bäume oder überfüllte Bahnhöfe. Das Erschütterndste war für mich die Entdeckung von Rissen im Fundament unserer Zivilisation.
Die Medien berichteten gemäß ihrer eigenen Logik süffisant über das "Drama" Orkan oder gar den "Todesorkan". Die vielen verwackelten Videos windgebeugter Menschen, die über nasse Straßen schlittern, zeigen jedoch nicht das Wesentliche. Wer noch Energie hat, Videos haarsträubender Landungen von Verkehrsflugzeuges aufzunehmen, hat lediglich Randerscheinungen dokumentiert.
Theoretisch hätten wir vorbereitet sein müssen, hieß es. Aber auf was denn? Darauf, eine ungeplante Zwischenübernachtung irgendwo in Deutschland in Kauf zu nehmen? Darauf, dass ein angezeigter Zug nach dem anderen "verschwindet", keine Ansage, keine Anzeige, das Bahnnetz als Bermudadreieck der technischen Zivilisation. Darauf, dass dann jedes Mal 2.000 Menschen von einem Bahnsteig zum nächsten hetzen und überforderte Servicemitarbeiter der Bahn mit Fragen belagern. Das allein war es nicht.
Verbote gegen Dinge, die so gut wie nie passieren
Meine Reise war zunächst in Bonn zu Ende. In Innenhöfen wirbelte Staub und Gras in der Form kleiner Windhosen auf, wie ich es in Deutschland noch nicht gesehen hatte. Ich spürte, dass etwas passieren wird, etwas, das größer und stärker sein würde als alle Notfallpläne der Bahn. Es würde schwer sein, an diesem Tag überhaupt noch wegzukommen. Ich beschloss, mich den Tatsachen zu beugen. Meine Idee war, den Tag in der Universitätsbibliothek von Bonn zu verbringen und dann in einem Hotel zu übernachten. In Bonn hatte ich studiert, in der Bibliothek viele erfüllte Stunden verbracht. Warum also nicht.
Als die Dame am Info-Schalter meinen Rollkoffer sieht, sagt sie nur: "Das geht nicht!" Warum? "Wir dürfen das nicht." Warum? "Wenn alle hier ihre Koffer abstellen wollen ... wir sind doch keine Gepäckaufbewahrung." Wie viele wollten denn heute den Tag hier verbringen, weil sie wegen des Orkans gestrandet sind. Wie viele hatten einen Koffer dabei? "Nur Sie."
Ich kenne diese Situation. Etwas geht nicht, weil es verboten ist, weil ja sonst alle kommen könnten. Tatsächlich aber verstößt fast niemand gegen das Verbot. In anderen Worten: Es ist einfach nur präventiv da. Falls jemand auf die Idee käme, dass ....
In diesen Situationen gibt es zwei Optionen: Aufgeben oder Eskalieren. Ich entscheide mich für die zweite Variante und fragte nach Vorgesetzten. "Die wird ihnen das Gleiche erzählen. Da hinten, die Tür steht offen." So ist es dann auch: "Es geht nicht." Warum? "Weil es verboten ist. Weil das hier ja keine Gepäckaufbewahrung ist." Aber ich bleibe stur. Überschütte die Bibliotheksleiterin mit meiner Nostalgie. Blicke sie mit großen Augen an. Appelliere an ihre Hilfsbereitschaft, schließlich ist das heute ja ein Ausnahmezustand.
Die Pointe ist - und deshalb erzähle ich überhaupt diese kleine Geschichte - dass wir in Deutschland nicht an Ausnahmezustände gewöhnt sind. Wir kennen das nur aus den Nachrichten (Flüchtlingslager, Kriegsberichte, Terror) oder aus Filmen. Das eine ist weit weg, das andere bloß Fiktion.
Ich lerne: Bei uns gibt es Verbote gegen Dinge, die so gut wie nie passieren. Würden jeden Tag Hunderte von Menschen in die Bibliothek strömen und darum bitten, ihre Koffer aufbewahren zu dürfen - ich könnte das Verbot verstehen.
Es dauerte. Aber schließlich gelang es mir, die Frau umzustimmen. Ich musste eine halbe Stunde auf sie einreden, meinen gesamten Jahresvorrat an Pathos und Moralität einsetzen, nur um ihr die seltene Gelegenheit zu einer winzig kleinen menschlichen Geste zu ermöglichen, die eigentlich selbstverständlich sein sollte: Hilfsbereitschaft. "Also Sie könnten ja ihren Koffer hinter der Tür in meinem Büro abstellen. Aber nur zwei Stunden, dann bin ich weg. Wenn mein Zug fährt."
Warum dauerte es so lange, bis diese Frau sich auf eine so schlichte zwischenmenschliche Ebene begeben konnte? Eine Bibliothek ist schließlich kein Hochsicherheitstrakt. Warum versteckte sie sich so penetrant hinter einer unsinnigen Regel, die eigentlich nur eine Ausnahme beschreibt? Ich dankte ihr, ging, weil ich plötzlich keine Lust mehr hatte und wünschte ihr im Umdrehen, dass wenigstens ihr Zug kommen möge.
Meinen Koffer schleppte ich wieder zum Bahnhof, auf dem es inzwischen zuging wie auf einem Basar. Städtenamen wurden gerufen und es dauerte eine Weile, bis ich verstand, warum. Die Bahnmitarbeiter stellten Taxi-Gruppen zusammen, immer vier Personen verteilten sich auf Taxis nach Hannover, Berlin, Goslar, Euskirchen. Jemand rief "Frankfurt" und ich schrie reflexhaft "Hier". Frankfurt geht immer, dachte ich, mehr nicht. Mein Denken reduzierte sich holzschnittartig auf einen Wegkommenstrieb.
Während der mehrstündigen Fahrt lernte ich nette Menschen kennen. Die Nettigkeit war jedoch vorbei, als ich in Frankfurt im Hauptbahnhof wartete. Es war nur unheimlich. Auf der Anzeigetafel die Aufforderung "Achten Sie auf die Durchsagen!" Diese schallte auch alle paar Minuten durch die große Halle: "Wegen des Orkans Friederike fällt in ganz Deutschland der Fernverkehr aus." In ganz Deutschland? Wann haben wir überhaupt einmal registriert, dass die gesamte Struktur unseres Daseins vulnerabel ist? Wir leben auf dünnem Eis, denken aber, dass es eine Vollkaskoversicherung gegen alles gibt. Wir nutzen Strom, Internet und Verkehrswege so als wären dies natürliche Ressourcen. Unerschöpflich, immer da, immer gleich.
Kommunikation als hypnotische Redundanz
In der Wissenschaft spricht man von der ceteris-paribus-clausel. Sie wurde von John Stuart Mill auch als Methode des Unterschieds bezeichnet: Bei einem Experiment bleiben alle Variablen gleich, nur eine wird verändert. So sollen kausale Zusammenhänge erkannt werden. Der Orkan war ein ungeplantes kollektives Menschenexperiment. Im Ergebnis zeigte sich, wie schnell die meisten Menschen bereit sind, Menschlichkeit an den Nagel zu hängen, wenn ihnen das einen kleinen Vorteil bringt. In der Soziologie verstehen wir unter ceteris-paribus die Annahmen, dass alles immer genau so weitergeht wie bisher. Hans-Peter Müller hat es einmal so ausgedrückt: "So unwahrscheinlich es sein mag, dass alles so bleibt, wie es ist, so gleichermaßen wahrscheinlich ist, dass sich (...) nicht allzu viel ändert."
Wir kennen es fast nur so. Die Sonne geht auch morgen wieder auf, das warme Wasser kommt aus der Leitung, die Regale im Supermarkt sind voll, der Parkplatz frei. Es gibt Menschen, die in Weltgegenden leben, in denen diese ceteris-paribus-Bedingung jeden Tag aufs Neue infrage gestellt wird. Schärft das den Sinn für die Fragilität der Welt? Wissen diese Menschen vielleicht besser als Wohlstandsverwöhnte um die Brüchigkeit der kulturellen Matrix, die das Zusammenleben von Menschen regelt? Wer öfter - vielleicht täglich - erfährt, wie schnell das Fundament der Zivilisation Risse bekommen kann, ist vielleicht wachsamer, solidarischer? Sind Menschen, die wissen, dass sie ständig auf dünnem Eis stehen, vielleicht am Ende menschlicher?
Ganz sicher ist das eine unzulässige Idealisierung. Was sich aber in den Tagen des Orkans zeigte, war Folgendes. Es gibt immer beide Reaktionsweisen: Menschen, die auf andere achten, Aufmerksamkeit, Brote und einen Sitzplatz teilen. Und solche, die rempeln, schreien, ausrasten, ihren Vorteil suchen und sichern. Solche, die noch im Chaos vor allem damit beschäftigt sind, ihre eigene Wichtigkeit ins Smartphone zu brüllen.
Tausende von Menschen stranden irgendwo. Sie stehen auf Bahnhöfen, im Stau, suchen Hotelzimmer. Alle hängen sie am unsichtbaren Band der mobilen Kommunikation. Ich stelle mir vor, wie die Situation in einer Zeit vor dem Mobiltelefon ausgesehen hätte. Wie viele Telefonzellen gab es früher auf einem Bahnhof - zwei, drei, vier?
Die Kommunikation um mich herum reduzierte sich auf Echtzeit-Updates für Abwesende. Alles, was ich hören konnte, war hypnotische Redundanz. Die Anwesenden wurden hingegen kaum beachtet, sie waren zwar da, aber höchstens als Gegner, als Konkurrenten um einen Taxifahrschein, ein Hotelzimmer oder anderes. Fast kein Gestrandeter kam mit anderen Gestrandeten ins Gespräch. Anwesende Abwesenheit war die Grundierung der vorherrschenden Beziehungslosigkeit.
Je länger die Situation anhielt, je mehr ich die Verhaltensweisen beobachtete, desto mehr schauerte es mich. Was würde noch alles passieren, wenn es noch länger so weiterginge, einen Tag, zwei Tage, vielleicht länger? Wann würde das Band, dass alles zusammenhält endgültig reißen?
In überfüllten Zugabteilen schrien Menschen rücksichtslos gegen andere ihre ans Lächerliche grenzende Not über ein klein wenig Unbequemlichkeit in Mobiltelefone. Schaffner wollten tatsächlich noch Fahrkarten sehen. Und vor allem die Bahncard. "Das System will es so." Das System? Wieder fragte ich mich, warum es nicht möglich ist, Regeln, die im Normalfall sinnvoll sind, situativ außer Kraft treten zu lassen, wenn eben diese Normalität gerade nicht besteht. Es ist doch erstaunlich, mit welcher Beharrlichkeit auch außerhalb des Normalfalls auf Normalfallregeln beharrt wird. Diese Starrheit ist der erste Riss im Fundament.
Es geht auch anders. Klöster haben Regeln aber auch elastische Traditionen. Nur weil Klöster über viele Jahrhunderte hinweg fähig waren, ihre eigenen strengen Regeln (z.B. die Regel des Heiligen Benedikt) elastisch auszulegen, existieren sie heute immer noch.
Wir leben auf dünnem Eis
Der Riss im Fundament resultiert vor allem aus der mangelnden Elastizität hochtechnologisierter Gesellschaften, denen nicht mehr klar vor Augen steht, auf wie vielen Voraussetzungen die eigene Existenz basiert. Technologiefreie Technologien (smarte Benutzeroberflächen) und unsichtbare Technologien (Strom kommt aus der Steckdose) erzeugt eine neue Form doppelter Vulnerabilität: Wir leben auf dünnem Eis, weil wir uns in unserer Komfortzone auf scheinbar selbstverständliche Infrastrukturen verlassen, die aber im Kern jederzeit verletzbar und brüchig sind.
Mit ceteris paribus kann es schnell vorbei sein. Und unsere ungeübten Reaktionen auf derartige Zustände machen uns zu vulnerablen Wesen, die zivilisatorische Standards schnell über Bord werfen. Oder die potenziell mögliche Geste der Hilfsbereitschaft gegen Abschottung tauschen.
Mich jedenfalls hat die rasende Geschwindigkeit schockiert, mit der jegliche Contenance, jeglicher Humor, jede Form von zuvorkommenden Verhalten, Solidarität oder Hilfsbereitschaft widerstandslos und scheinbar ohne schlechtes Gewissen gegen das Erhaschen eines winzigen Vorteils eingetauscht wurde. Diese doppelte Brüchigkeit kann jederzeit zu einer echten sozialen Katastrophe führen, für die es dann keinen Notfallplan mehr gibt.
Immer noch steckt mir das Schauern in den Knochen. Wenn eine der Aufgaben der Soziologie in der Demaskierung von Selbstverständlichkeiten besteht, dann gibt es zunehmend Bedarf nach dieser Leistung. Wir sind weniger zivil, als wir es uns wünschen. Ein bewölkter Himmel klärt sich ohne Sturm nicht auf.
Dieses Mal blieben durch den Orkan nicht nur äußere Verwüstungen zurück. Viel schlimmer sind die inneren Verwüstungen, die "Friederike" bei uns angerichtet hat. Zumindest bei denen, die es sehen und spüren wollten. Die innere Verwüstung als Folge eines fundamentalen Vertrauensverlustes in die Menschlichkeit der anderen. Es wird erst wieder viele positive Erfahrungen brauchen, um mit dieser Klarheit umgehen zu können, die nach dem Sturm bleibt. Werden wir klug aus diesem Schaden?