Osteuropäische Identitätskrise
Das "neue Europa" und der drohende Irak-Krieg
Seit dem Ende des Kommunismus haben die osteuropäischen Länder ihre Identität verändert. Diese Bemühung, sich in der Welt nach dem Kalten Krieg zurechtzufinden, war für manche Länder nicht so einfach. Die Tschechoslowakei gibt es nicht mehr, nachdem die zwei größten ethnischen Gruppen sich kurz nach der "sanften Revolution" entschlossen haben, sich in die Tschechische und Slowakische Republik aufzuteilen. Auch für viele Menschen im ehemaligen Jugoslawien war der Wandel der Identität bekanntlich nicht immer so friedlich. Und natürlich war in Russland nicht nur die Veränderung des Namens und der Größe des Landes schwierig, sondern auch die Erkenntnis, dass die "große" Nation schließlich nicht mehr so groß war, was besonders durch den Verlust des Status als Supermacht veranschaulicht wurde.
Daher sollte es nicht überraschen, wenn die Bezeichnung der Region als "neues Europa" durch US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hier nicht von allen Menschen freudig begrüßt wurde (Donald Rumsfeld als Geburtshelfer der europäischen Identität). Manche fühlen sich ein wenig unwohl mit dieser Kategorisierung. Zum einen will das "neue Europa" sich ja genau mit diesem "alten Europa" verbinden, zum anderen wird ihm damit eine unschöne Wahrheit ins Gesicht gesagt: dass sie nur Vasallen von Washington sind (Die Achse des neuen Europa konstituiert sich).
Kluft zwischen den Regierenden und den Regierten
Niemand in Osteuropa nimmt Rumsfelds Behauptungen ernst. Es ist offensichtlich, dass der Begriff eines "neuen Europa" eine Farce ist. Alle Regierungen in der Region wissen dies. Die Statistiken sagen diesbezüglich alles: Das kombinierte Bruttosozialprodukt der neuen Europa, d.h. aller osteuropäischen Länder, beträgt 962 Milliarden Dollar, während das des alten Europa (Frankreich und Deutschland) 3,68 Billionen Dollar ausmacht. Auch im Hinblick auf die militärische Macht steht die Region im Vergleich schlecht da. Im alten Europa gibt es 582.000 Soldaten, das gesamte neue Europa hat nur 538.000 Soldaten. Dem entspricht der große Unterschied bei den Rüstungsausgaben. Gibt das neue Europa dafür 85,3 Millionen aus, so das alte 8,4 Milliarden. Und dorthin soll sich nun die Achse der Macht in Europa verlagern?
Trotz der jüngsten Erklärung einiger Regierungschefs, dass sie die Position der USA gegenüber dem Irak unterstützen, sind die meisten Menschen nicht mit der amerikanischen Außenpolitik einverstanden, besonders nicht mit dem aggressiven diplomatischen Stil von George Bush. Es gibt einen erkennbaren Bruch zwischen den Ansichten der osteuropäischen Regierungen und ihren Bürgern.
In Ungarn war man öffentlich ziemlich besorgt über die Entscheidung des ungarischen Ministerpräsidenten Peter Medgyessy, den offenen Brief mit der Solidaritätserklärung für die USA zu unterschreiben. Möglicherweise war das nach ungarischem Recht auch illegal. Wenn es um Krieg und Frieden geht, muss das Parlament befragt werden, und jede Handlung oder Politik der Regierung muss eine Zwei-Drittel-Mehrheit erhalten. Die Regierung hat aber diese Mehrheit nicht, vor allem aber wurde das Parlament gar nicht befragt.
Die Opposition der Ungarn gegenüber dem Krieg lässt sich deutlich an der Reaktion auf den amerikanischen Stützpunkt in Taszar im Süden des Landes ablesen, wo "Freiwillige aus dem Irak und anderen arabischen Ländern" für eine Aufgabe trainiert werden, die bislang niemand wirklich kennt (Ungarn bereitet sich auf den Krieg vor). Nach der letzten offiziellen Umfrage Ende Januar zeigten sich zwei Drittel der Befragten nicht erfreut über das amerikanische Ausbildungslager in Taszar, weil sie glauben, dass es ein Sicherheitsrisiko darstellt. Genauso viel Menschen sagen auch, dass sie nicht genügend Informationen von der Regierung darüber erhalten haben, wer sich genau auf dem Stützpunkt aufhält und zu welchem Zweck. Diese Haltung überschreitet auch die Parteigrenzen: Über 70 Prozent der Anhänger der Opposition und mehr als 60 Prozent der Regierungsanhänger fühlen sich nicht ausreichend informiert.
Verpflichtung gegenüber der USA
Allerdings herrscht nicht überall in Osteuropa eine vergleichbare Angst vor einem Krieg gegen den Irak. In Rumänien ist fast die Hälfte der Bevölkerung für eine militärische Intervention. Dadurch steht Rumänien gleich nach den USA an zweiter Stelle der Kriegsbefürworter. Gleichwohl sind die meisten Osteuropäer allgemein gegen eine militärische Aktion. In Bulgarien stehen viele Menschen dem drohenden Konflikt mit gemischten Gefühlen gegenüber. Auch wenn sie nicht wirklich gegen den Krieg sind, hört man Stimmen der Vorsicht, die fordern, dass erst einmal alle friedlichen Mittel ausgeschöpft werden sollten. Ähnlich ist die Stimmung bei den Esten und Russen.
Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, warum Regierungschefs eher auf die eine Seite neigen, während die Bürger zur anderen tendieren. Manche scheinen sich einfach dem Schicksal zu ergeben. Die Politik der bulgarischen Regierungspartei unterstützt beispielsweise die amerikanische Vision der Neuen Welt, weil die meisten Politiker in Bulgarien denken, dass es beim drohenden Krieg keine Möglichkeit gibt, neutral zu bleiben, weswegen man dies auch gar nicht zu versuchen braucht.
Andere Regierungen balancieren auf einer harrscharfen Linie, um jeden zufrieden zu stellen. So hat in Rumänien die Regierung noch keine offizielle Position zum Irak-Krieg bezogen, will dies aber am 10. Februar machen. Die Regierung ist sehr vorsichtig, weil Rumänien eingeladen wurde, der Nato beizutreten und sie die Mitgliedschaft nicht gefährden will, und weil die öffentliche Meinung sehr viel mehr gespalten ist als beim Krieg gegen Afghanistan.
Die meisten Länder fühlen sich aber auf die eine oder andere Weise der USA verpflichtet und verfolgen daher eine Politik, die offensichtlich nicht in ihrem nationalen Interesse ist. Man darf auch nicht vergessen, dass die USA sich schon seit Monaten - wenn nicht seit Jahren - über die Situation im Irak klar ist und daher geeignete Schritte unternommen hat, um mögliche Unterstützer und "Alliierte" auf ihre Seite zu ziehen.
Die Mittel zur Gewinnung der Unterstützung wurden nicht nur auf der Ebene der Regierung, sondern auch auf der persönlichen Ebene eingesetzt. Der ungarische Ministerpräsident wurde beispielsweise kurz nach seiner Wahl nach Washington eingeladen und dort königlich empfangen. Darüber wurde in den ungarischen Medien ausführlich berichtet. Der erstklassige Empfang hat auch den Nationalstolz und das ungarische Ego anschwellen lassen, aber er hat auch im Rückblick das Fundament für einen amerikanischen Lobby-Partner in Europa gelegt. Nachdem der Ministerpräsident auch einige Leichen im Keller hat, vor allem eine umstrittene Wahl und die Aufdeckung, dass er neben seiner Funktion als Ministerpräsident und Finanzminister in der letzten kommunistischen Regierung auch als Geheimdienstoffizier tätig war, vermittelte die Anerkennung von Washington ihm und seiner Regierung ein gewisses Maß an Legitimität. Ungarn scheint dafür nicht nur den Maulwurf der amerikanischen Außenpolitik in Europa zu spielen, sondern auch eine aktivere Rolle bei der Unterstützung der militärischen Pläne von George Bush zu übernehmen, wie man das beim Stützpunkt in Taszar sehen kann.
Noch gibt es in Osteuropa keine Friedensbewegung
Abgesehen von denjenigen, die sich aus dem einen oder anderen Grund der USA verpflichtet fühlen und daher deren harte Politik gegen den Irak unterstützen, haben andere ein deutlich erkennbares niedrigeres Motiv. Bulgarien verfolgt wirtschaftliche Interessen, hauptsächlich weil der Irak noch eine große Summe an Schulden zurückzahlen muss. Bulgarien hofft mit der Unterstützung der USA vielleicht darauf, eine frühzeitige Rückzahlung der Schulden sicher zu stellen.
Bei manchen Regierungen ist schließlich nicht klar erkennbar, warum sie die US-Position unterstützen. Auch Vaclav Havel, der wegen seiner moralischen Haltung im In- und Ausland hohen Respekt genießt, hatte zusammen mit Ungarn und Polen sein Gewicht in die Waagschale geworfen, als er den offenen Brief zur Unterstützung der USA unterschrieb. Für viele war das ein Schock, da sie erwarteten, dass der tschechische Präsident eine bessere Urteilskraft ausüben werde, andere hingegen sahen darin nur politisches Zweckdenken.
Wenn man sich die Kluft zwischen den Regierenden und den Regierten in Osteuropa vor Augen führt, ist man überrascht, dass die Antikriegsbewegung in dieser Region so still ist. Das aber hat viel mit der herrschenden Gleichgültigkeit zu tun. In Bulgarien etwa wird der Irak-Konflikt als etwas betrachtet, was sich weit entfernt abspielt, da die bulgarische Gesellschaft mit schweren innenpolitischen Themen konfrontiert ist. Die bulgarische Antikriegsbewegung ist zwar wirklich nicht groß, dennoch haben viele Prominente Petitionen gegen den Krieg unterschrieben. Auch die Vergangenheit mag hier eine Rolle spielen. Es gibt beispielsweise ein fortbestehendes Schuldgefühl für die Vergangenheit, da Bulgarien als der "kleine Bruder" der ehemaligen Sowjetunion galt.
Das Fehlen von Antikriegsprotesten hat aber auch viel mit Angst und Einschüchterung zu tun. Trotz offizieller Slogans von Demokratie und Freiheit sterben alte Gewohnheiten nur langsam aus und bleibt die Polizei ein strenger Arm der Regierung. In einigen Fällen wurden Proteste geplant, aber dann von der Polizei verboten. In Ungarn plante die Organisation "Zivilisten für den Frieden" für Mitte Februar eine Demonstration, die aber nicht genehmigt wurde. Als die Organisation daraufhin einen Einspruch vor Gericht einlegte, gab die Polizei nach, aber nur wenn die Route für die Demonstration verändert werde, obgleich diese in der Vergangenheit bereits von vielen Demonstrationen ohne Probleme benutzt worden ist.
Die osteuropäischen Medien haben nur die offizielle Politik von Washington wiedergegeben. Proteste in Europa und in den USA wurden kaum, wenn überhaupt erwähnt. Und der Konflikt, der durch die US-Lobby innerhalb Europas entstanden ist, wurde heruntergespielt.
Je länger es dauert, bis der Krieg beginnt, desto schlimmer dürfte es für die Politiker des "neuen Europa" werden, da die inkonsistente Regierungspolitik immer offensichtlicher wird. Überdies ist nicht sicher, dass die Apathie anhalten wird und man nicht bald auch auf den Straßen Osteuropas Friedensdemonstrationen sehen kann. Aus diesem Grund hoffen sicherlich viele Politiker in der Region, dass das ganze Kriegsangelegenheit bald und schnell durchgeführt wird. Allerdings hat ein Rumäne gesagt: "Keine Überstürzung. Wir haben genug Zeit."