Oute dich im Sinne der Gemeinschaft
Früher war Sexualität ein Tabu, heutzutage ist es etwas, was in der Schlange im Supermarkt diskutiert wird. Wer's nicht mag, gilt als Spießer - Teil 2
Teil 1: "Wie geht’s dir, was kochst du, hast du es schon einmal anal probiert?"
Schwul oder nicht schwul, das ist hier die Frage
Ganz dem Duktus "Sexualität ist nicht mehr privat" folgt auch die Debatte um Peter Altmaier. Der Umweltminister wird weder mit Frauen noch mit Männern als Begleitung in der Öffentlichkeit gesehen und das alleine ist ja schon verdächtig. Was macht der denn überhaupt sexuell?
Wer nicht regelmäßig entweder Männlein oder Weiblein an seiner Seite hat, hat ja sofort den Ruch des verdächtigen, eventuell gefährlichen, abartigen Vogels. Man kennt das ja aus den Kriminalfilmen. Alleinstehend, aber doch über 40, ohne Freundin oder Freund (nudge nudge) ... da ist ja dann in den Gedanken vieler der potenzielle Serienkiller nicht weit. Zumindest aber doch der Schwule lauert in der Ecke. Wer sich also nicht zu seiner sexuellen Orientierung äußern will, der hat was zu verbergen. Und das gehört sich nicht. Peter Altmaier steht mit dem Problem, dass seine Sexualität nur ihn was angeht, nicht allein da - alles ist politisch und alles wird ausgeschlachtet. Wer sich dem nicht anschließt, der sorgt dafür, dass Sexualität weiter in der Tabuecke bleibt.
Ich bin ein sehr geselliger und kommunikativer Mensch. Doch der liebe Gott hat es so gefügt, dass ich unverheiratet und allein durchs Leben gehe. Deshalb kann in den Archiven auch nichts über eine Beziehung stehen. Ich hadere nicht mit meinem Schicksal. Wenn es anders wäre, wäre ich längst verheiratet oder in einer festen Beziehung. Aber ich hatte und habe immer eine kleine Zahl guter Freunde, mit denen ich über alles reden kann.
Peter Altmaier
Und das ist natürlich gleich doppelt verdächtig. Der liebe Gott? Wieso? Ist Altmaier also schwul und traut sich wegen seines Glaubens nicht, sich dazu zu bekennen? Oder bisexuell?
Es ist bezeichnend, dass den Leuten nichts anderes einfällt, als dies gleich als Pseudoouting zu titulieren oder jetzt zu verlangen, dass er sich outet. Ist er denn nun schwul oder nicht? Und wenn nicht, wieso hat der liebe Gott es denn so gefügt, dass er unverheiratet und allein durchs Leben geht? Tja, ein "nein, ich bin nicht schwul" wird nicht ausreichen, ein schonungsloses Outing ist angesagt, das klarmacht, was denn nun los ist mit dem Umweltminister?
Die im Sinne der Aufklärung geifernde Meute wird schon gerne darauf warten, mit welchen Informationen der Herr aufwartet. War er vielleicht schon von klein auf verklemmt? Ist er vielleicht asexuell? Oder hat er irgendwelche körperliche Merkmale, die ihm eine Beziehung unmöglich machen? Zu kleiner oder zu großer Penis, Hodenveränderungen? Um zu erläutern, wieso jemand zeit seines Lebens keine Freundin bzw. Freund hatte, bedarf es einer Offenlegung des ganzen Lebens, der Gedanken, der Hobbys, der Ansichten ... Ansonsten lauert ein "Er ist schwul, will sich aber nicht bekennen, dieser Mistkerl" in der Ecke.
Wieso habt ihr denn keinen Sex?
Die Enttabuisierungsbewegung hat keinerlei Skrupel, dem "Notfalls-Zwangsouten"-Duktus zu folgen und damit ist sie in bester Gesellschaft. Wer bist du, mit wem schläfst du? So lauten heutzutage die ganz selbstverständlichen Fragen, die die Sexualität aus einer Tabuzone zerren sollen und die Menschen damit zum Freiwild dafür machen, dass nach sexuellen Details lüsterne Personen sich das Thema "Aufklärung" auf die Fahne schreiben und eigentlich doch nur Klatschblattinfos darüber wollen, wer wie und warum nun welche sexuellen Aktivitäten hat oder nicht.
Wenn sich jemand gegen Homosexuelle wendet und dann selbst homosexuell ist, ist dies ein Inbegriff der Heuchelei und der Verleugnung, ja. Aber dennoch darf dies nicht die Begründung dafür sein, dass jeder nun, sobald er in die Politik geht, Zeugnis über seine Sexualität ablegen muss.
Welch eine Blamage wäre es für all die "Schwul-oder-nicht"-Debattierenden, wenn ein so unter Druck gesetzter Mensch sich hinstellte und sagte: "Nein, ich bin nicht schwul, ich war nur zeit meines Lebens jemand, an dem Frauen keinen Gefallen finden. Bin ich einsam deshalb? Ja, aber ich habe mich damit abgefunden."
Doch solch ein Gedanke (genau wie auch der Gedanke an Asexualität oder einem wenig entwickelten Sexualtrieb) kommt überhaupt nicht auf. Das ist typisch - und hier komme ich wieder zu mir selbst zurück.
Wie schon in Teil 1 gesagt: Auf die Frage, wie das Sexualleben "so läuft", hat gefälligst geantwortet zu werden, womit aber die Inquisition keineswegs vorbei ist. Während es unsere Sache, nicht einmal unser Problem ist, wie oft wir Sex haben oder überhaupt, würde ein "Wir haben keinen Sex" bei vielen automatisch die Mitleids-, Beratungs- und Hilfesuchinitiative auslösen. Sex gehört doch dazu, Sex muss doch sein, Sex findet immer statt, insofern muss ja auch etwas falsch sein an Menschen, die kein gesteigertes Interesse daran haben.
Für jene, die mit einem gering entwickelten Sexualtrieb ausgestattet sind oder asexuell leben ist dies eine gesellschaftliche Hölle - sie sind Ausgestoßene in der Gesellschaft derjenigen, die fröhlich vor sich hinvögeln, mit wem, wann und wie auch immer und meinen, dies müsste für alle gelten. Wer nicht darunter leidet, dass kein Sex stattfindet, der sollte therapiert werden, muss Hilfe bekommen, braucht Beistand. Es braucht mittlerweile mehr Mut zu sagen: "Ich finde Sex nicht so wichtig", als zu sagen: "Oh ja, wir treiben es jeden Tag, auch SM gerne, Analkettchen sind auch willkommen und mal habe ich es auch mit Frauen ausprobiert als Frau."
Sexualität wurde lange Zeit tabuisiert, jetzt wird sie krampfhaft enttabuisiert, es wird Zeit, dass sich das Ganze wieder in normalen Bahnen, auf eine Mitte zu bewegt. Es wird Zeit, dass weder der verheiratete, der schwule, der bisexuelle, noch der asexuelle Mensch in irgendeiner Form geächtet oder als abnormal dargestellt wird. Es wird auch Zeit, dass die informationelle Selbstbestimmung auch das Sexualleben betrifft. Egal ob Peter Altmaier oder wer auch immer: Jeder sollte das Recht haben zu sagen, dass er nichts dazu sagen will. Dass er stattdessen unter Druck gesetzt wird, ist das eigentliche Problem.
Ich bin nicht religiös, doch bevor ich heiratete, ging ich davon aus, dass es für mich einfach nicht "in den Sternen stand", in einer Beziehung glücklich zu werden. Egal ob es um Freundschaften oder um Partnerschaften ging, es schien für mich einfach nicht drin zu sein. Hätte mich jemand gefragt, warum ich keinen Partner habe, hätte ich in gutem Momenten gesagt: "Das ist meine Sache." In schlechten Momenten hätte ich dem Fragenden wahrscheinlich mein Herz ausgeschüttet und damit mein gesamtes Leben wie ein offenes Buch vorgelegt. Alle Selbstzweifel, aller Selbsthass, die Probleme mit dem anderen Geschlecht, mit meinem Aussehen wären dann in aller Munde gewesen.
Ich bin froh, dass es nicht dazu kam. Wer deshalb angenommen hätte, ich sei lesbisch und würde mir dies verkneifen - Pech gehabt. Nicht mein Problem. Aber ich frage mich, wer von denjenigen, die so lange gebohrt hätten, jedes Dementi, jeden Kommentar als nicht ausreichend angesehen hätten, in dem Moment, in dem dann mein Innenleben nach Außen gekehrt worden wäre, Mitleid gehabt hätte. Es wäre wahrscheinlich eher ein Kollateralschaden im Sinne der Enttabuisierung gewesen. Fehlt nur noch, dass man ihn fragt, ob er ein Aquarium hat.