Wie geht's dir, was kochst du, hast du es schon einmal anal probiert?

Früher war Sexualität ein Tabu, heutzutage ist es etwas, was in der Schlange im Supermarkt diskutiert wird. Wer's nicht mag, gilt als Spießer. Teil 1: Dinge, die ich nicht wissen will

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Das sind Dinge, die ich gar nicht wissen will

Frisch verliebt zu sein, ist ja toll. Und wenn Menschen auch nach Jahren nicht die Hände voneinander lassen können, ist das wohl ein Zeichen für Verliebtheit. Trotzdem wünsche ich mir manchmal, Tim und Susanne wären nicht mehr ganz so verliebt. Die beiden sind diese Art Paar, das, sobald es zusammen ist, in mehr oder minder erotische Balzereien verfällt, von Stöhnen begleitete Züngeleien gehören ebenso dazu wie beherzte Griffe in Schritt und Ausschnitt. Mit leicht glasigen Augen und zunehmend harten Brustwarzen haucht Susanne dann irgendwelche intimen Details, die ich nicht wirklich wissen möchte. Tims Erektion ist dank körperbetonter Bekleidung auch nicht zu übersehen, seine verbalen Bekundungen, was seine Leidenschaft angeht, sind ebenso deutlich. Natürlich reden die Beiden trotzdem mit mir über "Gott und die Welt", wie es so schön heißt, aber begleitet ist diese Kommunikation stets von ihrem Bekenntnis zur Leidenschaft und Erotik.

Tim und Susanne sehen das lässig, sie sind eben "offen", was ihre Beziehung angeht und finden, Sex sei nichts, wofür jemand sich schämen sollte. Und damit bin ich, wenn ich dezent darauf hinweise, dass ich nicht wirklich Beobachter ihrer erotischen Spiele sein möchte, automatisch in der Spießer- und Schamecke.

Seit die ersten Talkshows aufkamen, in denen der nette Nachbar von nebenan darüber erzählte, wie oft er es wann mit wem trieb, ist Sex zum Alltagsthema geworden. Was früher peinlich war, wird mir jetzt mit sozusagen sekrettriefender Penetranz dargeboten.. Ganz oder gar nicht heißt es so oft - das Ergebnis sind eimerweise Offenbarungen, die ich gar nicht hören oder wissen will. Denn diese Offenheit findet nicht (nur) in der Partnerschaft statt, wo sie sinnvoll wäre, sondern sie wird aufgezwungen.

Beim Kaffeekränzchen plauschen die Damen statt wie einst über Kochrezepte nun über bevorzugte Stellungen, beim Bier in der Kneipe erzählen die Pärchen lustige Anekdoten über ihre letzten sexuellen Abenteuer, so wie sie früher einmal, zur "guten alten Zeit" nur von Proleten erzählt worden wären. "Und da haben wir dann diese Analkette genommen und Ralf wusste gar nicht, wie er die benutzen sollte ... aber dann hat's geklappt und das war so richtig geil für uns beide ..."

Wer bei derlei Erzählungen noch rot wird oder einfach nicht zuhören will, bekommt prompt den Verhörblick der anderen zu spüren. Altmodisch, verklemmt, prüde oder vielleicht doch gerade in einer sexuellen Krise? Lass uns darüber reden! Oh, nicht? Wieso nicht? Hast du ein Problem mit Sexualität?

Schau mal, die Kokos-Kondome wären doch auch was für dich

Die Enttabuisierung hat wohl alle meine Bekannten und Freunde erwischt, egal wie alt. Das "Du, darüber möchte ich nicht reden" hat den Platz mit dem "Du, darüber muss man reden" getauscht und egal ob im Supermarkt, auf der Kirmes, in Bus oder Bahn, ob "draußen" oder "drinnen" - die Frage, wie ich es mit wem wann mache und wieso ggf. nicht, ist mittlerweile genauso Standard wie die Frage nach dem Gemütszustand. Vielleicht interessiert es denjenigen, der fragt, auch nicht wirklich, aber die Frage ist allgegenwärtig. Schon nach kurzer Bekanntschaft wird danach gefragt, was ich denn im Bett mit wem veranstalte, und die Tatsache, dass ich verheiratet bin, schürt die Neugierde nur noch mehr.

"Und? Ist das nicht langweilig? Was macht ihr denn dann so? Also so im Bett?" Gute Freunde fragen mich das ebenso wie flüchtige Bekannte und wenn ich nicht antworte, wird dieses Schweigen schnell als "vielsagendes Schweigen" interpretiert. "Du, die Kokos-Kondome wären auch was für dich - die peppen das Leben auf", lautet die Antwort auf die nichtvorhandene Antwort auf die Frage, wie das Sexleben so läuft.

Dass Sex nicht mehr in die "Schmuddelecke" gestopft wird, ist erfreulich, dass Menschen nunmehr auch andere Menschen finden, mit denen sie sich darüber austauschen können und der Arzt oder Therapeut nicht mehr der einzige Mensch ist, mit dem sich jemand über seine Problemchen, Gefühle und Begierden im Bereich Sex austauschen kann, ebenso. Aber diese neue Offenheit hat auch zu einer Übersexualisierung geführt - nicht nur im Bereich Werbung, sondern gerade auch im ganz "normalen Leben" wird der Sexualität mehr und mehr die Privatheit genommen.

Interessant ist, dass ich, wenn ich nicht über meine Sexualität sprechen will, als Spießer angesehen werde. Spießigkeit definiert sich, finde ich, dadurch, dass Menschen einfach dem Trend anhängen. Jedem jegliche Einzelheit über das eigene Sexualleben anzuvertrauen bzw. aufzudrängen ist ein Trend, insofern ist die Spießigkeit, die einst gerügt wurde, nun einer neuen Spießigkeit gewichen, die genau wie früher verlangt, sich dem Trend anzupassen und in der Individualität ein Problem sieht.