Pakistan: Atommacht im Teufelskreis existenzieller Probleme

Seite 2: Quo vadis, Pakistan?

Abgesehen davon kann einem angesichts der Aufgaben, die der Premier zu meistern hat, schwindlig werden. Es ist nun mal so: Seit 1947 werden Probleme nicht gelöst, sondern verschoben, die Halde nimmt immer größere Ausmaße an. Man kann sich darüber wundern, dass nach wie vor mehrere Kandidaten darum streiten, unter dieser Halde eventuell begraben zu werden.

Die meisten Probleme gehen über die Möglichkeiten eines Premierministers weit hinaus und sind völlig unabhängig vom politischen Prozess und Tagesgeschehen.

Die sechs großen Probleme

In einem Artikel in der wichtigsten englischsprachigen Tageszeitung Dawn, erschienen Ende Januar, sieht der Wirtschaftsberater Saqib Sherani sechs Hauptproblemfelder, die sich alle gegenseitig bedingen und beeinflussen. Als erstes nennt Sherani das untragbare Bevölkerungswachstum, vergisst aber, wie wichtig in dieser Frage die Position der Frauen in der Gesellschaft ist und wie die zunehmenden radikalislamischen Tendenzen inmitten der Gesellschaft diese weiter schwächen.

Als zweites das größte Problem überhaupt: Wasser. Die Gefahr ist nicht, dass irgendwann Menschen verdursten, aber gefährliche, destabilisierende Konsequenzen hat der Mangel. Sherani geht nicht auf das Konfliktpotential von Fragen der Verteilung ein - zwischen einzelnen Provinzen und ganz zu schweigen zwischen Staaten in einer Region, die von gegenseitiger Abneigung geprägt ist.

Nicht ganz so existenziell, dafür umso schädlicher für die Wirtschaft ist die andauernde Energiekrise. Fragen wie Energiewende, Klimawandel usw. spielen praktisch keine Rolle.

Als Viertes sieht Sherani dadurch bedingt die Wirtschaft des Landes und die Produktivität ihrer Arbeiter im Vergleich zu anderen Ländern nur im Schneckentempo wachsen. Direkt dafür verantwortlich sieht er vor allem den niedrigen Bildungsgrat der Arbeiterschaft. Die Frage ist nur eben, wie überhaupt die Bildung der ganzen Bevölkerung - besonders der Frauen (Stichwort Bevölkerungswachstum) - nach jahrzehntelangen Versäumnissen verbessert werden soll. Es fehlt wie überall am Geld.

Zum Fünften nennt Sherani den schweren Brocken Politik, der dringend reformiert werden müsste. Doch wie lässt er offen und vermeidet es, zwei der Hauptprobleme zu nennen: Den ungeklärten Status der Streitkräfte mit ihrem völlig überzogenen Anteil am Staatsbudget - hier fehlt es ausnahmsweise nicht am Geld - und dem wachsenden Einfluss radikaler Kleriker. Nicht etwa auf extremistische Kräfte wie die Taliban, sondern die ganze Gesellschaft (was wieder zu Frauen => Bevölkerungswachstum => Ressourcenknappheit führt).

Das sechste Problemfeld ist für Sherani die Fähigkeit des Staates, Steuern zu erheben - wie er an die Mittel kommt, um die Probleme zu bewältigen. Die Lösung lässt er offen, wohlweislich, denn hier handelt es sich um einen der Urkonflikte seit 1947 - Pakistan ist nicht naturgemäß ein armes Land, im Gegenteil. Nur leider bis auf wenige Ausnahmen wie im Mittelalter von Feudalismus und Tribalismus gekennzeichnet, regiert von einer Elite, die sich bis heute aller Theorien von Staatsgründer Muhammad Ali Jinnah und Reden von muslimischer Solidarität zum Trotz keiner Verantwortung gegenüber der Bevölkerung bewusst ist.

Einen wichtigen - womöglich den wichtigsten Faktor - erwähnt Sherani gar nicht, vielleicht weil man in Südasien dazu eine andere Beziehung dazu hat als im Westen: Zeit. Das Land gibt es nun seit 73 Jahren und kam bisher nicht weit vom Fleck. Im gleichen Zeitraum stiegen andere Nationen wie Südkorea, Taiwan usw., die unter weit schlechteren Bedingungen begannen, zu modernen Industrienationen auf. In der Nachbarschaft zieht Sri Lanka davon.

Nur der ewige Rivale Indien und die ehemalige Brudernation Bangladesch haben mit ähnlichen Problem zu kämpfen, wenn auch nicht so existentiell und mit so geringen Erfolgsaussichten wie Pakistan. Es ist absolut bezeichnend, dass aktuell Corona, das in Europa alles in den Schatten stellt, in Pakistan nur ein Problem unter vielen ist.

Zu dieser gefährlichen Gemengelage gehört auch immer wieder die Tatsache, in welchem geostrategischen Umfeld dies alles geschieht. Pakistan ist Atommacht und hat zu zwei seiner vier Nachbarn ein ausnehmend schlechtes Verhältnis: Indien und Afghanistan.

Indien ist ebenfalls Atommacht und wird bis auf weiteres von Narendra Modi und seiner BJP regiert, die zweifellos eine nationalistische, hindu-chauvinistische Agenda verfolgen. Episoden wie der Minikrieg im Februar 2019 oder die fast täglichen Artillerieduelle entlang der Waffenstillstandslinie durch Kaschmir können sich fragile, prekäre Staaten (Atommächte!) wie Pakistan und Indien eigentlich unmöglich leisten. Die einzige Macht mit linderndem Einfluss auf Pakistan ist China und selbst jenes kann auf die dortigen Prozesse nur recht begrenzt einwirken.

Wie weiter - wieder "im Inshallah-Modus"?

Wie Imran Khan oder ein anderer Politiker oder Partei oder eine andere Institution wie die Armee diesen Teufelskreis an existenziellen Problemen durchbrechen wollen, ist ein Rätsel. Und wie eigentlich immer lenkt das Tagesgeschäft von den wahren Herausforderungen ab. Die Zeichen stehen wieder auf Machtkampf, nun rächt sich das schlechte Verhältnis von Khan und seiner PTI zu den anderen demokratischen Parteien. Unter dem Schirm des PDM (Pakistan Democratic Movement haben sich praktisch alle anderen Parteien gesammelt).

Nominell ist Fazl-ur Rehman, ein relativ opportunistischer Mullah, der Führer, doch hinter ihm stehen Bilawal Bhutto, der Erbe der PPP und vor allem Maryam Nawaz, die Tochter von Nawaz Sharif. Sie haben geschworen, Imran Khan bis zum 26.März seines Amtes zu entheben, wegen Betrugs während der Wahlen 2018.

Natürlich handelt es sich in Wahrheit um eine politische Vendetta und vermutlich wird es ihnen nicht gelingen, aber wie so oft gehen alle Ressourcen in nicht zielführende Machtkämpfe und die echten Aufgaben bleiben liegen. Gleichzeitig nimmt Khans Popularität langsam ab.

Nicht etwa Corona bereitet ihm Kopfzerbrechen, sondern Schuldenkrise, Inflation, Preisanstieg und Arbeitslosigkeit. Der Kampf ums Dasein wird für die 80% der Bevölkerung, die nicht zur Mittelklasse gehören, wieder härter. Diese Menschen haben keine Zeit für die Fragen, die Saqib Sherani aufwirft (und jene, die er unterlässt). Man kann Imran Khan nur Glück wünschen beim Versuch, das Land auf die Beine zu stellen. Und wenn er nicht die Idealbesetzung ist - gäbe es eine?

Zurzeit kann sich niemand richtig vorstellen, was nach ihm kommen soll. Pakistan läuft mal wieder im Inshallah-Modus, alles ist in Gottes Hand.