Pandemie-Politik: "Ganze gesellschaftliche Blöcke in völlig unterschiedlichen Lebenswelten"

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Kann man Corona als Ideologie begreifen und kritisieren? Was aus dieser Sicht in der Corona-Krise deutlich wurde, erklärt Karl Reitter im Interview.

Eine sozialpolitische wie ideologiekritische Analyse der Corona-Pandemie liefern mit ihrem Buch "Corona als gesellschaftliches Verhältnis" René Bohnstingl, Linda Lillith Obermayr und Karl Reitter. Mit Letzterem unterhielt sich Telepolis über markante Beobachtungen und die politische Bedeutung des Umgangs mit der Pandemie.

"Sehr reale Interessen- und Machtstrukturen"

Herr Reitter, was bedeutet "Corona als gesellschaftliches Verhältnis"?

Karl Reitter: Als Bündel von Maßnahmen gegen die Ausbreitung eines Virus kann die Pandemie-Politik nicht zureichend begriffen werden, denn weder Naturereignisse selbst noch wissenschaftliche Hypothesen über sie besitzen unmittelbar politische Bedeutung.

Die Setzung und Durchsetzung rechtlicher, ökonomischer, sozialer Maßnahmen mit dem Virus zu begründen, stellt daher eine erhebliche Verkürzung in der Dynamik politischer Entscheidungsprozesse dar. Immerhin agiert nicht der Virus selbst, sondern ganz bestimmte Personen, Institutionen und Netzwerke.

So folgen etwa die Ausgangssperren nicht notwendig aus der Existenz des Virus oder der Diagnose seiner Risiken und Gefahren; diese Maßnahme ist in diesem Sinn keine "Natureigenschaft" des Virus, sondern Ausdruck eines komplexen gesellschaftlichen Verhältnisses, in das staatliche Herrschaft und Rechtssetzung ebenso wie kapitalistische Gesetzmäßigkeiten und soziale Machtverhältnisse verstrickt sind.

Wenn wir daher von "Corona als gesellschaftlichem Verhältnis" sprechen, dann steckt darin bereits eine Kritik am naturalisierend-szientistischen Charakter der Rechtfertigungs- und Begründungsmuster, die uns von Politik, Medien und Mitmenschen vorgetragen wurden.

Es steckt darin gleichzeitig ein Verweis auf die geschichtliche Gewordenheit der Pandemie-Politik. In unserem Buch verabschieden wir die Vorstellung von Corona als singulärem Ereignis, das schlagartig die Welt erschüttert.

Stattdessen beschäftigen wir uns sowohl historisch mit einer im Neoliberalismus gedeihenden Funktionselite als auch mit den für das Pandemiemanagement unmittelbar relevanten Strukturen der sogenannten pandemic preparedness, um so die sehr realen Interessen- und Machtstrukturen, die hinter der Ausrufung der Pandemie, der Durchsetzung der Maßnahmen und der Einschüchterung der Bevölkerung wirken, sichtbar zu machen.

"Permanent behauptete Einigkeit der Wissenschaften mit Handlungsanweisungen"

Inwiefern war Corona Ihrer Auffassung nach "Ideologie"?

Karl Reitter: Am augenscheinlichsten trat der ideologische Charakter dieser Zeit durch die permanent behauptete Einigkeit der Wissenschaften sowie der unmittelbar aus ihr abgeleiteten Handlungsanweisungen hervor. Völlig unverschämt wurde die Parole ausgegeben, man habe der Wissenschaft zu folgen.

Wer sich keiner eng definierten wissenschaftlichen Elite zuordnen konnte, wurde schlicht des Rechts auf ein Urteil beraubt. (Wissen, dass nur einer bestimmten, "inneren" Personengruppe zukommt, ist im Übrigen per definitionem Esoterik.) Persönliche Erfahrung, auch wenn sie noch so eindeutig war, wurde regelmäßig als anekdotisch denunziert und von der nächstbesten Statistik niedergemäht.

Die Linke hatte die Dialektik der Aufklärung wohl längst im 1968er-Archiv verstaut und übersah den Umschlag von Wissenschaft in Ideologie. Dabei hätte man jederzeit und ganz ohne Expertise, dafür aber mit einem Quäntchen Sprachgefühl, die verabsolutierende und dogmatisierende Sprache der Medien als durch und durch ideologisch getränkt erkennen können.

Als ideologisch motiviert kann man wohl auch den Primat auf Sterilität abzielender Hygienekonzepte vor psychosozialen und ökonomischen Existenzbedingungen bezeichnen. Zum Schutz vor dem Virus kann man schon mal eine ganze Generation von Kindern nachhaltig verängstigen.

Dass solche Auswüchse zudem noch unter notwendig zu leistende Opfer verbucht wurden, lässt sich auch nur durch die Annahme eines ideologischen Tunnelblicks erklären. Der gebannte Blick auf das todbringende Virus war auch insofern Ideologie, als darin reale politische und ökonomische Entscheidungsprozesse sowie unterschiedliche medizinische und virologische Einschätzungen und Erkenntnisse ausgeblendet, jedoch zugleich als Wirklichkeit (Stichwort "neue Normalität") durchgesetzt wurden.

Wirklich oder verwirklicht war diese Ideologie sowohl in den Maßnahmen, der Masken- und Impfpflicht, als auch im zwischenmenschlichen Umgang. Die Menschen bezogen sich aufeinander und der Staat bezog sich auf die Gesellschaft in einer Weise, die von der gespenstigen Gegenständlichkeit eines Virus beherrscht war.

Nun beschränkt sich unsere Ideologiekritik nicht lediglich darauf, Ideologie als solche zu enttarnen oder gar eine andere entgegenzusetzen, sondern die materiellen Ursachen für sie aufzuspüren. Zum einen bot der Corona-Ausnahmezustand eine Möglichkeit für Staat und Kapital, im stets krisengebeutelten System Herrschaft neu zu konsolidieren.

Ideologie, die "handfeste Wirklichkeiten produziert"

Zum andern konnte das Bedürfnis politisch, kulturell und ökonomisch weitgehend vereinzelter Individuen nach kollektivem Zusammenhalt durch eine gemeinsame Ideologie bestens genutzt werden. Wir versuchen in unserem Buch daher auch, das ‚Massenphänomen Corona‘ als dialektische Bewegung zwischen Individuum und Kollektiv zu begreifen.

Und so hat uns Corona schlagartig davon unterrichtet, dass Ideologie eben nicht bloß falsches Bewusstsein ist, sondern handfeste Wirklichkeiten produziert.

Die zuvor kaum vorstellbaren Einschränkungen fundamentaler Grundrechte, die rigorose Isolation der Menschen voneinander, die Diffamierung und soziale Ausgrenzung, all die – begründeten oder unbegründeten – Ängste um sich, um einander, um die Zukunft sowie die radikale Durchsetzung der ökonomischen Profitlogik zulasten der Mehrheit der Bevölkerung waren bis zur Unerträglichkeit wirklich.

Message control: Die Konkurrenz der Kämpfe

Welche Rolle spielten Wissenschaft und Medien aus Ihrer Sicht?

Karl Reitter: Was Wissenschaft ist und was sie sagt, wurde medial produziert. Dass die Maßnahmen im Namen der Wissenschaft erfolgten, war die zentrale Botschaft der Medien.

Diese medial vermittelte Botschaft sollte die Maßnahmen legitimieren, und das gelang einigermaßen gut. Aus unserer Analyse vorangegangener Planspiele geht hervor, dass darin gerade nicht die Sicherstellung der medizinischen Versorgung bei Krankheitsausbrüchen geplant und geprobt wurde.

Vielmehr ging es in all diesen Planspielen in erster Hinsicht um message control: Geübt wird der Ausnahmezustand, nicht seine Abwendung. Geprobt wurde also, wie die eigene Botschaft trotz widersprechenden Erfahrungen aufrechterhalten und durchgesetzt werden kann.

An diesen Planspielen nahmen die Vertreter der großen Medienkonzerne teil, wenngleich sich die Rolle der Leitmedien schon lange vor der Pandemie verändert hatte. Von der sogenannten vierten Gewalt im Staate, also einer unabhängigen Kontrollinstanz, wandelten sich die Medien zu bloßen Verlautbarungsinstanzen der Interessen von Staat und Kapital.

Dem Interesse der Pharmakonzerne, der WHO und den Staatskanzleien kam das Interesse der Mainstream-Medien entgegen, sich staatstragend als Hort der wissenschaftlichen Vernunft zu präsentieren.

Hinzu kamen teils üppige Subventionen aus den Reihen des Pharmakomplexes und zugleich rigide Zensurmaßnahmen, insbesondere auf sozialen Plattformen. Mit oberster Priorität wurde das Fundament liberaldemokratischer Rechtsstaatlichkeit, nämlich Pluralität und Offenheit des wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurses, untergraben.

Etwa wurde nur einen einzigen Monat nach Ausrufung der Pandemie der Wikipedia-Artikel "Falschinformationen zur Covid-19-Pandemie" erstellt, in dem seither eine regelrechte Hetzkampagne gegen MaßnahmenkritikerInnen veranstaltet wird. Von Anfang an konkurrierte der Kampf gegen die Falschinformation mit dem Kampf gegen das Virus.

"Subjektive Passivität"

Die Medien – Leitmedien, "soziale Medien" und Messenger-Dienste – spielten jedoch noch eine weitere Rolle. Diese fällt zwar nicht unmittelbar, aber immerhin mittelbar mit der Corona-Berichterstattung zusammen: die Fragmentierung und Verkürzung von Wissen.

Wir meinen, die Rolle der Medien lässt sich nur dann hinreichend begreifen, wenn neben dem Inhalt der Berichterstattung – also die konkreten Nachrichten selbst – auch deren Form reflektiert wird.

In welcher Form also haben wir von der Pandemie erfahren? In Form einer subjektiven Passivität, die ohnmächtig die Informationen zum Pandemiegeschehen zur Kenntnis nimmt, sowie in Form einer sachlichen Gleichförmigkeit der aneinandergereihten Informationen.

In unserem Buch legen wir ausführlich dar, wie es gerade diese informationelle Form vermochte, auch einander eklatant widersprechende Nachrichten nebeneinander gelten zu lassen.