Panikkrieg

Militarisierung der Gesellschaft

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Schon die Überschrift sollte Neuartiges und Bedrohliches verheißen. Am 15. November 1998 hatte der an die Spitze der US-amerikanischen Navy berufene Richard Danzig einen Artikel in der New York Times mit dem Titel "Die nächste Superwaffe: Panik" veröffentlicht und darin die neue militärische Strategie vorgeführt. Auch wenn ansonsten nur kurz und prägnant die üblichen Themen aufgegriffen werden, über die sich die Geheimdienste und das Militär neu orientieren und ihr Budget erhalten wollen, so ist an seinen Ausführungen doch der Begriff interessant, unter dem das geschieht: Krieg mit nicht-explosiven Waffen. Der Artikel ist überdies zugleich Beispiel für den Panikkrieg, den er thematisiert.

Nachdem man den Terrorismus als eine der größten Bedrohungen nach dem Kalten Krieg ausgemacht hatte, wurden neben den herkömmlichen Explosiv- und Schußwaffen zwei weitere Waffentypen aufgelistet, die neben ihrer relativ einfachen Verfügbarkeit erst einmal wenig gemeinsam hatten: die "Informationswaffen" und die chemischen, vor allem aber die biologischen Waffen.

Auch wenn man heute unsere Zeit gerne als die der Informationsgesellschaft beschreibt und damit meist die in digitalen Speichern oder auf Netzwerken befindlichen Daten meint, so beruht die Grundlage unserer Gesellschaft doch im wesentlichen auf den zwei innovativen Techniken Informations- oder Computertechnologie und Biotechnologie. Wollte man es übertrieben sagen, dann geht es der Biotechnologie um die gezielte Veränderung oder die Herstellung von Körpern, während die Computertechnologie mit der Herstellung, Speicherung und Verarbeitung von "immateriellen" Informationen beschäftigt ist und als ein Ziel die Konstruktion von Künstlichem Leben vor Augen hat.

Oberflächlich gesehen scheinen beide Technologien auseinanderzustreben, beispielsweise durch die Entwicklung von Künstlichem Leben, das biologisches Leben ersetzt oder gar ablöst. Doch beide neuen Technologien sind nicht nur etwa im selben Zeitraum entstanden, sondern sie hängen auch eng zusammen, denn auch die Biotechnologie verarbeitet Informationen, vor allem die genetischen Daten der DNA, und sie kann nur durch die Computertechnologie, beispielsweise durch das Sequenzieren des Genoms, die biologischen Informationen aufschlüsseln. Überdies läuft die Entwicklung wohl eher auf hybride Entitäten und auf alle möglichen biologisch-technischen Schnittstellen zu (Sensoren, Effektoren, Mensch-Maschine-Schnittstellen, Cyborgs, Neurotechnologien etc.).

Danzig jedenfalls ist der Meinung. daß das Militär bislang allzusehr auf die Explosivwaffen geschaut habe, während die neuen Waffen, der Einsatz biologischer Wirkstoffe und der Angriff auf Computersysteme, ermöglichen, das traditionelle Schlachtfeld zu umgehen. Das Militär sei zwar auch gegen diese neuen Waffen relativ gut geschützt, aber, im zivilen Bereich eingesetzt, würden sie zum Zusammenbruch der Infrastruktur, zur Panik und im Fall der biologischen Waffen zu vielen Toten führen können. Biologische Viren, Bakterien oder Toxine können in geringer Menge eine "Kettenreaktion mit unendlichen Folgen" auslösen, während deren digitales Äquivalent, ein Computervirus, sich ebenso schnell mit verheerenden Folgen ausbreiten und Netzwerke lahmlegen kann, auf denen das "militärische und zivile Leben" beruht. Beide Waffenarten können nicht durch Armeen oder materielle Hindernisse abgewehrt werden. Beide sind sie leicht und billig herzustellen: "Biologische Waffen können in einem Zimmer produziert und in einem kleinen Behälter aufbewahrt werden ... die Streitkräfte des Cyberspace können vom Schreibtisch aus dirigiert und auf einer Diskette gespeichert werden; ein einzelner Computer kann einen Informationsangriff ausführen." Die "Waffen des kleinen Mannes" entziehen den Krieg den Nationalstaaten und deren Militärapparaten, und die biotechnologischen und computertechnischen Fortschritte erfolgen so schnell, daß Verteidigungsmaßnahmen oft nicht mit ihnen Schritt halten können. Danzig schlägt vor, den herkömmlichen Krieg mit konventionellen Waffen von dem neuen Krieg zu unterscheiden, der mit nicht-explosiven biologischen und computertechnischen Waffen geführt wird. Die nicht-explosiven Waffen sind auch nicht mit Massenvernichtungswaffen gleichzusetzen, sondern sie sind "Massenstörungswaffen" (weapons of mass disruption). Schwierig dabei sei alleine schon zu erkennen, ob irgendein Vorfall tatsächlich ein kriegerischer Akt, ein Anschlag einer kleinen terroristischen Gruppe oder gar nur eine Naturkatastrophe sei. Auf dem neuen Schlachtfeld verschwinden alle herkömmlichen Unterscheidungen, allen voran die zwischen dem militärischen und zivilen Bereich (das mag dann auch dazu führen, was Danzig aber in seinem Panikartikel nicht erwähnt, daß völkerrechtliche Regelungen, die den Schutz von Zivilisten im Krieg beinhalten, nicht mehr greifen würden). Der immer noch schwelende Konflikt mit dem Irak wird daher noch vorwiegend auf dem traditionellen Feld mit den traditionellen Instrumenten ausgeführt, auch wenn hier bereits die biologischen nicht-explosiven Waffen und ihre Identifizierung eine erhebliche Rolle spielen. Hinter der Bühne der herkömmlichen Konflikte und deren kriegerische oder diplomatische Lösung beginnt aber für Danzig der neue Krieg: ein langer Kampf, für den man noch nicht gewappnet sei.

Zivile Behörden, so argumentiert Danzig weiter, seien noch nicht daran gewohnt, die von ihnen verwalteten Bereiche als "Schlachtfelder" zu betrachten, weswegen die Koordination untereinander und mit dem Verteidigungsministerium Schwierigkeiten bereite. Die neuen nicht-explosiven Waffen können nicht mehr wirkungsvoll abgewehrt werden, da sie eine ganze Gesellschaft und ihre Infrastruktur betreffen. Daher müsse man zwar Abwehrmöglichkeiten entwickeln, aber auch sich vorbereiten, daß erfolgreiche Angriffe geschehen werden, was nichts anderes heißt als die Ausrufung einer permanenten Mobilmachung oder die Militarisierung der Gesellschaft. Das weiß natürlich Danzig, weswegen er beruhigend versichert, daß die amerikanische Verfassung doch genügend Schutz vor Festnahme biete, während gleichzeitig umfassende Überwachungsmaßnahmen möglich seien. Vorbereitungen auf einen Angriff mit nicht-explosiven Waffen, die eine "neue Union von Organisationen des Gesundheitssystems, der Polizei und des Militärs" erfordern, seien schließlich auch gut für die Allgemeinheit, weil doch "natürliche Krankheiten und Computerviren unser alltägliches Wohlergehen" bedrohen.

Vor allem sollten wir nicht mehr in den veralteten Unterscheidungen zwischen "hier" und "jetzt", "militärisch" und "zivil", zwischen "Kriminalität", "Krieg" und "Naturgeschehen" denken und handeln. Nicht-explosive Waffen untergraben all derartigen Grenzen.

Richard Danzig

Vor Informationsangriffen rät der Stratege des neuen Kriegs nicht mehr nur zum Schutz, sondern zu einer Variante des Medienkrieges. Man müsse Computersysteme so einrichten, daß sie dann, wenn sie erfolgreich angegriffen werden, nicht mehr auf katastrophale, sondern auf eine "großzügige" Weise gestört sind. Die Daten könnten dann nämlich so dem Eindringling angeboten werden, daß er davon verwirrt wird oder falsche Informationen erhält. Überdies müßten Computersysteme so ausgelegt sein, daß jede Manipulation sofort entdeckt werden könne.