Papiertiger Vereinte Nationen?

Um die UN handlungsfähig zu machen, wäre nicht nur eine Verfassung notwendig, sondern auch eine gesicherte Finanzierung

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In buchstäblich letzter Sekunde hatte die in Finanzkrisen nicht unerfahrene UN sich doch noch Ende 2005 auf einen Haushalt für die nächsten zwei Jahre geeinigt. Tatsächlich wurden aber erst die nächsten sechs Monate gesichert, die weitere Finanzierung hängt von den lange geforderten und notwendigen Reformen ab. Alles ist gut gegangen, man kann aufatmen, eine weitere Krise ist gemeistert worden. So erscheint es auf den ersten Blick.

Die Freude über diesen Abschluss ist aber noch etwas verfrüht, denn wer mehr als diesen ersten Blick auf das Problem wirft, der sieht, dass gerade die scheinbare Lösung des Finanzproblems auf ein viel tiefer liegendes strukturelles Problem verweist. Mit der Lösung zufrieden ist freilich John Bolton, der amerikanische UN-Botschafter. Er hat allen Grund, sie als einen Erfolg für die USA zu feiern:

Heute Abend haben die USA das erreicht, was sie seit drei Monaten vor Augen hatten: Die klare Verknüpfung von Reform und Etat der Vereinten Nationen.

John Bolton

John Bolton war es auch, an dem einerseits die Modernisierungsversuche 2005 scheiterten, weil den USA die bisherigen Vorschläge nicht genehm waren, und der andererseits aber drohte, bei ausbleibender Modernisierung der UN die Zahlungen der USA einzustellen. Was – da die USA die meisten Beiträge zahlen – ein Ende der UN-Handlungsfähigkeit dargestellt hätte. Darf man hier schon von bewusster Sabotage reden, von Erpressung? Und wie sind die sonstigen Bemühungen der USA zu verstehen, die Position des Generalsekretärs zu stärken? Vielleicht, weil Kofi Annan bald abgelöst wird und schon ein wohlgesonnener Kandidat in Aussicht steht?

Dass die USA die Chance nutzen, die ihnen die Position als größter Beitragszahler gibt, indem sie immer wieder auch die größten Schuldner der UN sind, ist nichts Neues. Eigentlich dürfen die 191 Mitgliedstaaten der UN nicht über die Verwendung des von ihnen gezahlten Geldes bestimmen. Wie das Geld eingesetzt wird, liegt in den Händen der UN. Die Art, in der die Lösung des Problems zustande gekommen ist, zeigt aber, wie diese Regelung umgangen wird. Zunächst wird der UN-Etat für das nächste halbe Jahr abgesichert, dann wird entschieden, ob die Reformen den Erwartungen entsprechen und bei Erfüllung der Erwartungen weiteres Geld zur Verfügung gestellt. Kritisch betrachtet heißt das: Wenn das weitere Vorgehen der UN den Plänen des US-Repräsentanten Boltons entspricht, darf sie mit seiner Unterstützung rechnen, wenn nicht, muss sie zusehen, wie sie weiter allein zurecht kommt. Das Verhältnis, in das die USA und die UN so gestellt werden, lässt sich am besten mit dem Verhältnis von Kunde und Dienstleister vergleichen. Wenn die Leistung nicht den Erwartungen entspricht, geht der Kunde zur Konkurrenz (wer auch immer das in Bezug auf die UN sein kann):

Für die Amerikaner sind die UNO nicht mehr als ein Anbieter auf dem Markt für globale Problemlösungen. Wenn sie erfolgreich sind, könnten sie (die Amerikaner) dazu neigen, sie zu nutzen. Wenn nicht, werden Sie fragen: Gibt es da noch andere Institutionen?John Bolton

Dass die ärmeren Staaten nicht sonderlich erfreut über die vorübergehende Lösung und die daraus resultierenden Perspektiven für die Zukunft sind und das weitere Schwinden ihrer Einflussnahme anhand dieses offensichtlichen Vorgehens Boltons befürchtet, bedarf eigentlich keiner weiteren Erwähnung.

Es genügt nicht, den administrativen Apparat zu verschlanken, um etwas Geld zu sparen oder weitere Strukturen in der UN umzustellen. Das Problem geht tiefer und die UN muss nun, um effizienter arbeiten zu können, sich grundlegend von solchen Mechanismen befreien und eine Möglichkeit finden, sich auch notfalls gegen die eigenen Mitgliedsstaaten durchzusetzen.

Jürgen Habermas und die UN-Verfassung

Auf der Suche nach Alternativen taucht der Name Habermas auf. Der 1929 geborene Jürgen Habermas ist einer der weltweit bekanntesten Philosophen und Soziologen und Hauptrepräsentant der Frankfurter Schule der zweiten Generation, deren Begründergeneration das 20. Jahrhundert prägende Denker wie Horkheimer, Adorno, Benjamin, Fromm und Marcuse angehörten. Sein hohes Renommee drückt sich unter anderem in einer Vielzahl von Auszeichnungen aus. Zuletzt erhielt er im November 2005 den norwegischen Holberg-Preis (mit 570.000 Euro dotiert).

Habermas fordert in einigen neueren Texten eine Selbstentmachtung der USA zugunsten der UN. Diese Forderung findet sich insbesondere in seinen Texten „Eine politische Verfassung für die pluralistische Weltgesellschaft“1 und „Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?“2. Seine Forderung ist eingebettet in eine Analyse der gegenwärtigen Lage der US-(Außen)-Politik. Und doch drängt sich die Frage auf, ob Habermas hier nicht vorbei an jeglicher Realität eine Traumwelt erschafft, die neben den harten Fakten wirkungslos bleibt.

Den Kern seiner Untersuchungen bildet die Frage, ob „die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen durch eine vonseiten der Supermacht bestimmte Ethisierung der Weltpolitik ersetzt werden soll". Eine Ethisierung, die sich zum Beispiel in einer Aufteilung der Welt in Gut und Böse – freie Welt und Schurkenstarken – ausdrückt, lehnt er ab. Er will stattdessen die Verrechtlichung der UN weiter vorantreiben: Sein Ziel ist eine UN-Verfassung, die für alle Beteiligten bindend ist. Das heißt, dass es einen Gesetzestext gibt, aus dem eindeutig hervorgeht, wann die UN eingreift und wann nicht.

Die UN soll nur eingreifen, wenn sie „sich auf die Wahrung klar spezifizierter Rechte wie den Schutz vor Angriffskriegen, internationalen Gewaltakten und massiven Menschenrechtsverletzungen beschränkt“. Eine UN, deren Eingreifen mittels Regeln bestimmt wird, wird weniger Gefahr laufen, einer selektiven Wahrnehmung zum Opfer zu fallen. Die unterschiedliche Wahrnehmung in Bezug auf Krisen verdeutlicht Habermas mit Verweis auf die TCC (Threats, Challenges and Change) vom 1. Dezember 2004, wo sich Vorschläge für eine sicherere Welt finden:

Contrast the swiftness with which the United Nations responded to the attacks on 11 September 2001 with its actions when confronted with a far more deadly event: from April to mid-July 1994, Rwanda experienced the equivalent of three 11 September attacks every day for 100 days, all in a country whose population was one thirty-sixth of that of the United States.

TCC

Die Forderungen von Habermas sind keineswegs ins Blaue hinein gestellt. Wenn er eine Verrechtlichung der internationalen Beziehungen gegen eine – wenn auch nur aufgesetzte – Ethisierung derselben stellt, dann trifft er damit eine aktuelle Problemlage: Gegen die Scheinbegründungen, die sich auf Gut und Böse berufen und sich darüber hinaus gern christlich-moralisch geben (wenn Saddam Hussein zum Beispiel als Teufel bezeichnet wird etc.) soll die weitergehende Verrechtlichung der internationalen Beziehungen einschreiten. Das heißt, dass statt willkürlicher Anrufungen irgendwelcher Gottheiten der Blick in ein Gesetz die Frage beantworten soll, ob eingeschritten werden soll oder nicht.

Fern ab davon, die USA nur negativer Kritik unterziehen zu wollen, betont er frei von Zynismus die bisherigen Fortschritte der UN und zeigt auf, dass sie selbst in dieser Form ohne die USA überhaupt nicht zustande gekommen wäre. Die Konzeption des Völkerbundes 1919 (Ächtung des Krieges), der Briand-Kellog-Pakt 1928 (das absolute Kriegsverbot), die Verabschiedung der UN-Charta am 25. April 1945 und auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 sind ohne die Mitwirkung der USA nicht denkbar. 1919 und 1945 sind vor dem unmittelbaren Hintergrund der Erschütterung durch die vorhergehenden Kriege zu sehen, und gelten als Versuch, künftige Kriege zu vermeiden.

Eine Kritik, die alle Schandtaten der USA allein in den letzten Monaten auflistet, hätte sich unmittelbar in Opposition zu den USA begeben und sich somit zugleich als deren Gesprächspartner disqualifiziert. Sie verbleibt außerhalb von dem Kritisierten, beschreibt es aus der Distanz und vergibt sich damit die Möglichkeit auf einen Diskurs. Habermas aber will zu einem Diskurs einladen und sucht deshalb nach Punkten, an denen er das gemeinsame Gespräch unter Gleichberechtigten aufnehmen kann.

Und in diesem Sinne trägt die Kritik von Habermas mehr als eine bloße Ablehnung der Politik der USA in ihrer Gesamtheit; er zeigt auf, dass der Boden, von dem aus wir die USA momentan kritisieren, von dieser selbst bestellt wurde. Eine UN in der Art, wie wir sie kennen (Papiertiger hin oder her) würde wahrscheinlich ohne die Bemühungen der USA nicht so existieren. Das soll aber auch nicht heißen, dass sie nicht zu einer bestimmten Zeit im Machtinteresse der USA gelegen hätte. Aber ohne die Gründung der UN wäre es auch nicht möglich, die USA darin zu kritisieren, dass sie ohne völkerrechtliche Bestätigung in einen Krieg geht. Habermas zeigt darüber hinaus auf, dass in den USA selbst Tendenzen bestehen, die gegen die derzeitige Politik stark gemacht werden können und geht – das soll wiederholt werden – damit über eine äußerliche Kritik hinaus.

Um aber eine Verrechtlichung im Sinne von Habermas durchzusetzen, müsste der UN mehr Macht zugesprochen werden, und das hieße, auf die Finanzkrise bezogen: Auch hier müsste eine Grundlage geschaffen werden, an die sich alle Mitglieder der UN halten sollen und die nicht durch willkürliche Entscheidungen umgestellt werden darf. Die UN muss von der Zahlungswilligkeit der Mitglieder befreit werden und sich im Zweifelsfall gegen Mitgliedsstaaten durchsetzen können, wenn sie die Zahlungen verweigern.

Eine UN, die theoretisch über den Einzelstaaten steht, praktisch aber von einigen wenigen abhängig ist, wird in ihren Handlungen kaum effizienter werden können. Die UN muss sich von den Einflussmöglichkeiten der Staaten befreien, die ihre Bereitschaft zu Beitragszahlungen von der Durchsetzung ihrer Interessen abhängig machen.