"Paris" an der Donau

Die Kleinstadt Sigmaringen zwischen Schwäbischer Alb und Bodensee wurde nach der Landung der Alliierten im Sommer 1944 für sieben Monate zum Sitz der französischen Pétain-Regierung. Deren Mitglieder trieben ihre Intrigen gegeneinander bis zum Absurden

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D-Day im Juli 1944, die alliierten Truppen landen in der Normandie. Einen Monat später stehen sie in Paris, allen voran General Charles de Gaulle, Inspirator und Feldherr des Freien Frankreich. Auch von Süden rollen amerikanische und französische Streitkräfte seit August 1944 Frankreich samt der dort stationierten deutschen Truppen auf. Was war mit der Regierung des Marschall Henri Philippe Pétain geschehen, die seit der Niederlage gegen Deutschland im Sommer 1940 in dem Kurort Vichy im französischen Massif Central residierte?

Etwas (Vor-)Geschichte. Die französische Armee konnte im Frühsommer 1940 den Vorstoß der deutschen Wehrmacht nicht stoppen. Am 22. Juni unterzeichneten Adolf Hitler und der von Präsident Albert Lebrun mit der Regierungsbildung betraute Marschall Pétain im Eisenbahnwaggon im Wald von Compiègne bei Paris einen Waffenstillstand. Es war derselbe Waggon, in dem im November 1918 der Ersten Weltkrieg beendet worden war – ein später Triumph des ehemaligen Gefreiten Hitler über Pétain, den „Helden von Verdun“.

Bild: Bundesarchiv

Dieser Waffenstillstandsvertrag teilte Frankreich. Den Norden und Westen besetzten die Deutschen, das Elsass und Lothringen wurden faktisch, wenn auch nicht formal vom Reich annektiert. Im südlichen und nicht-besetzten Teil Frankreichs, der etwa zwei Fünftel der Landesfläche ausmachte, wurde Vichy zum Sitz der Regierung.

Das französische Parlament, das im Kasino der Kurstadt tagte, setzte am 10. Juli 1940 mit 569 zu 80 Stimmen die Verfassung der Dritten Republik außer Kraft. Der greise Marschall Pétain wurde zum Staatschef mit quasi-diktatorischen Vollmachten gewählt - obwohl Staatspräsident Albert Lebrun formell nie zurückgetreten war. Die Parole von Pétains autoritärem Regimes war „Travail, Famille, Patrie“ („Arbeit, Familie, Vaterland“) - ein bewusster Kontrast zum „Liberté, Égalité, Fraternité“ (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) der französischen Republik.

So proklamierten Senat und Nationalversammlung denn auch ohne große Verzögerung bereits am 11. Juli den „État français“ („Französischer Staat“) anstelle der République. Chef der Regierung wurde Pierre Laval, Großmeister des politischen Opportunismus. Dem Vichy-Regime unterstanden neben dem unbesetztem Staatsgebiet noch alle Kolonien sowie ein 100.000 Mann starkes Heer und die französische Marine. Diplomatisch anerkannt wurde es unter anderem vom Deutschen Reich, aber auch von der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten: Der Hitler-Stalin-Pakt war noch frisch, die USA wiederum wollten Rest-Frankreich nicht in völlige Abhängigkeit von Berlin kommen lassen.

Vichys willfährige Helfer

Diese Abhängigkeit ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Schon bald kam es zur Kooperation mit der Besatzungsmacht. Die Vichy-Behörden wurden zu willfährigen Helfern bei der Verfolgung der Juden und bei der Bekämpfung der Résistance. Antisemitische Gesetze wurden eingeführt, die Juden aus dem öffentlichen Leben zunehmend ausgeschlossen. Ab Sommer 1942 begannen die französische Polizei und Verwaltung mit der Deportation von 130.000 ausländischen und 70.000 französischen Juden aus dem unbesetzten Frankreich in die deutschen Vernichtungslager des Ostens. Allerdings konnte Hitler das Vichy-Regime nicht dazu bringen, sich an der Seite Deutschlands am Krieg zu beteiligen.

Zunächst wurde die Pétain-Regierung von vielen Franzosen begrüßt – die Erfahrungen der politisch instabilen Dritten Republik hatten ihren Teil dazu beigetragen. Auch passte die Losung von „Arbeit, Familie, Vaterland“ einem erheblichen Teil der Bevölkerung durchaus ins Weltbild. Derlei Sympathien ließen nach, als Deutschland Ende 1942 die „freie Zone“ besetzte. Auch hier, wie im besetzten Teil Frankreichs, mussten Menschen und Unternehmen den Krieg des Dritten Reiches durch ihre Arbeit unterstützen. Hunderttausende von Menschen wurden für die Arbeit in Deutschland zwangsrekrutiert.

Flucht ins Reich

Die Landung der Alliierten im Sommer 1944 veränderte die Situation. Mit der Re-Etablierung der Republik und der Bildung einer provisorischen Kabinetts in Paris durch de Gaulle am 9. September 1944 existierten in Frankreich gewissermaßen zwei Regierungen. Aber nicht lange: Pétain und seine Regime flohen auf Veranlassung Hitlers und im Schutz deutscher Truppen nach Sigmaringen. Am 17. September wurde über dem Hauptportal des Schlosses der Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen die französische Trikolore gehisst.

Der Marschall kam in Zivil im offenen Wagen, bewacht von SS-Formationen. Danach folgte sein Tross: Ministerpräsident Laval, Minister, Staatssekretäre, Kabinettsdirektoren und Militärs. Pétain und Laval bezogen jeweils eine Etage des Schlosses und sprachen dem Vernehmen nach fortan nicht mehr miteinander. Die Geschichte geriet zur Farce, eine ehrwürdige schwäbische Kleinstadt mit etwa 5.000 Einwohnern war zur „französischen Kapitale“ geworden.

Der Regierung folgte die Verwaltung, die im Prinzenbau in der Stadt eingerichtet wurde. Hier befanden sich auch die Redaktionen der Regierungszeitung „La France“ und des Regierungssenders „Ici la France“, die die Franzosen zum Widerstand gegen die Alliierten aufriefen. Hier waren auch Dienststellen der französischen Miliz untergebracht – ihr war die Bewachung des für exterritorial erklärten Schlosses wie des Prinzenbaus anvertraut.

Wie in einer richtigen Hauptstadt waren auch ausländische Botschaften vertreten – die der Verbündeten Deutschlands, oder was von ihnen übrig geblieben war. So residierte neben der Japanischen Botschaft auch eine Italienische Botschaft, und zwar die der faschistischen Repubblica Sociale Italiana, Mussolinis Rest-Republik von Salò am Gardasee. Und um dem schönen Schein eines komplett ausgestatteten „État français“ Genüge zu tun, verlegte auch die Deutsche Botschaft in Paris unter Otto Abetz ihren Sitz in das Gebäude der Fürstlich Hohenzoller’schen Haus- und Domänenverwaltung in Sigmaringen.

Eine Reihe von Kabinettsmitgliedern im Schlepptau von Pétain , etwa Justizminister Maurice Gabolde, Industrieminister Jean Bichelonne oder Erziehungsminister Abel Bonnard, hatten allerdings keineswegs die Absicht, angesichts eines bereits verlorenen Krieges die „gloire“ eines Frankreichs an der Seite Deutschlands zu verteidigen. Sie erschienen schlichtweg nicht zum Dienst. Auch Premier Laval ließ sich lieber durch die Landschaft kutschieren.

Kabalen und Intrigen

Daraufhin kam es unter den „Vichyisten“ gewissermaßen zu einem Putsch. Als starker Mann präsentierte sich Fernand de Brinon, vormals Generaldelegierter der Vichy-Regierung im deutsch besetzten Paris. Er bildete mit anderen Anfang Oktober 1944 eine „Regierungskommission“, eine Art Schattenkabinett. Diesem Gremium gehörten an: Marcel Déat, Arbeitsminister und Delegierter für die nationale Solidarität und die Betreuung der französischen Arbeiter im Reich; Joseph Darnand, Staatssekretär des Innern und Delegierter für die Organisation der nationalen Kräfte der Miliz, der Freiwilligen-Legion gegen den Bolschewismus und der französischen Waffen-SS; General Eugène Bridoux, Kriegsminister und Delegierter für die Betreuung der Kriegsgefangenen und ihrer Hilfswerke; sowie Jean Luchaire, Präsident der Pressekorporation und Delegierter für Information und Propaganda. Auch diese Kommission wurde im Sigmaringer Schloss untergebracht.

Marschall Pétain mied den Kontakt zu dieser Gruppe und weigerte sich, sie als Regierung anzuerkennen. Die Farce spitzte sich zu. Ein weiterer starker Mann trat auf: Jacques Doriot, ehemaliger Kommunist und später fanatischer Führer der faschistischen Parti Populaire Français (Französischen Volkspartei). Er genoss als ergebener Hitler-Verehrer die Unterstützung einiger führender Nazis wie SS-Chef Heinrich Himmler oder Außenminister Joachim von Ribbentrop. Doriot residierte fern von den Sigmaringer Kabalen auf der Bodensee-Insel Mainau und wollte von dort aus eine Sammlungsbewegung aller französischen Kollaborationsgruppen ins Leben rufen. Diesen Plänen machte allerdings ein Tiefflieger der Royal Air Force ein Ende, Doriot starb am 22. Februar 1945.

Schwäbische Götterdämmerung

In Sigmaringen war es derweil eng geworden – in mehrfacher Hinsicht. Denn neben Regierung und Verwaltung waren auch andere Kollaborateure, darunter Künstler, Schauspieler, Schriftsteller, Journalisten sowie allerlei weibliche Begleitung gekommen – insgesamt rund 2.000 Menschen, die Wohnraum brauchten. Sie pflegten ihr gewohntes Savoir-vivre, während ihre schwäbischen Nachbarn hungerten. Im Schloss wurde „diniert, diskutiert und intrigiert“.

Gleichzeitig kamen die alliierten Truppen näher, die Absetzbewegungen der „treuesten Söhne Frankreichs“ nahmen zu. Staatschef Pétain selbst wurde in der Nacht zum 21. April nach Konstanz gebracht, die französische Flagge am Schloss eingeholt. Bereits zwei Tage später wehte die Trikolore erneut über Sigmaringen, diesmal gehisst von den Truppen General de Gaulles. Die Stadt hatte sich kampflos ergeben, ihre sieben Monate als französischer Regierungssitz waren vorbei.

Die meisten Mitglieder der Vichy-Regierung wurden verhaftet. Bereits im Juli 1945 begann vor dem Pariser Appellationsgericht der Prozess gegen Philippe Pétain. Die Anklage lautete auf Hochverrat und Kollaboration mit dem Feind. Der 89-jährige Marschall verteidigt sich: Er sei für Frankreich im Zweiten Weltkrieg wie ein "Schild" gewesen, der sein Land vor dem Schlimmsten habe bewahren wollen. General de Gaulle sei das "Schwert" gewesen, das von außen den Kampf aufgenommen hätte.

Chefankläger André Mornet präsentiert die Gegenbilanz: Während des Vichy-Regimes seien 150.000 Geiseln erschossen, 750.000 Personen zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt und rund 300.000 Menschen in die Konzentrationslager deportiert worden.

Das Gericht verurteilte Pétain zum Tode und zum Verlust seiner bürgerlichen Ehrenrechte. Wegen seines hohen Alters und seiner früheren militärischen Verdienste empfahl das Tribunal, die Todesstrafe in lebenslange Haft umzuwandeln. Der Marschall starb 1951 in einer Art Verbannung auf der Atlantikinsel Ile d’Yeu. Die Mitglieder seines Kabinetts einschließlich Pierre Laval wurden verurteilt und hingerichtet.