Parlamentarier im Würgegriff des Fraktionszwangs

Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Teil 11

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Die viel zitierte Freiheit des nur seinem Gewissen unterworfenen Abgeordneten ist eine aufgeblasene Lebenslüge des Parlamentarismus. In der politischen Praxis stimmen die Fraktionen stimmen so gut wie immer geschlossen ab. Wenn sich einzelne Abgeordnete widersetzen, bekommen sie die geballte Macht der Instrumente der Fraktionsdisziplin zu spüren. Abweichler werden nicht geduldet. Ein zweites Mal wagt das so gut wie keiner, der noch etwas werden will. Tatsächlich sind die Abgeordneten aller Parteien nicht viel mehr als die willfährigen Sklaven ihrer Fraktionsführungen: Abstimmviech. Sie können und wollen es sich nicht leisten, einmal aufzumucken, wenn sie ihren Parlamentssitz behalten wollen.

Über die Entscheidungsfreiheit des Abgeordneten wird stets gebetsmühlenhaft die Bestimmung des Grundgesetzes (GG) zitiert: Nach Artikel 38 des Grundgesetzes (GG) sind Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Nach Artikel 46 GG darf kein Abgeordneter in irgendeiner Weise gerichtlich, dienstlich oder sonst außerhalb des Bundestags wegen seiner Abstimmung zur Verantwortung gezogen werden.

Juristisch mag das so sein. Politisch stimmt das ganz sicher nicht. Die Abgeordneten sind so frei, wie sie es sein wollen - wenigstens dann, wenn sie keine Karriere machen wollen. Niemand kann sie zwingen, bei einer Abstimmung die Hand zu heben oder sie unten zu lassen oder eine blaue, rote oder weiße Abstimmungskarte abzugeben.

Soweit die Theorie. Die Wirklichkeit sieht anders aus.

Unbestritten und unbestreitbar ist, dass die Fraktionen so gut wie immer einmütig abstimmen. Das gilt nicht nur bei namentlichen Abstimmungen, bei denen Namenskarten abgegeben werden und das Stimmverhalten des einzelnen Abgeordneten im Protokoll festgehalten wird.

Viele Abgeordnete kommen ja überhaupt erst kurz vor einer Abstimmung ins Plenum und schauen, wann der Stimmführer ihrer Fraktion die Hand hebt oder welche Farbe die Stimmkarte hat, die der Geschäftsführer seiner Fraktion an der Urne hochhält.

Manche kommen nur, weil die "Stallwache" der Fraktion im Plenum über die Rufanlage der Fraktion durchgeben ließ, dass die Mehrheitsverhältnisse im Plenum gefährdet seien und die Kollegen bitte ins Plenum kommen mögen; denn wenn jemand eine namentliche Abstimmung versäumt, wird ihm Geld abgezogen.

Die volle Abgeordnetenentschädigung wird ausgezahlt, wenn ein Abgeordneter an den Pflichtsitzungen des Bundestags teilnimmt und seine Anwesenheit durch meine Unterschrift bestätigt. Üblicherweise gilt in den Sitzungswochen Anwesenheitspflicht von Dienstag bis Freitag. Verpasst jemand einen Sitzungstag oder vor allem eine namentliche Abstimmung, gibt es pro Tag Abzüge zwischen 50 bis 100 Euro.

Immer mal wieder kommt es vor, dass trotz aller Disziplinierungsmaßnahmen und Drohungen ungewiss ist, wie Abstimmungen ausgehen. Und immer wenn die Fraktionsspitzen nicht sicher sind, was passieren könnte, lassen sie es erst gar nicht auf den Versuch ankommen, wie die Mehrheit wohl ausfallen könnte. Das wäre ja auch einfach zu demokratisch-naiv gedacht. Nein, dann wird erst mal geübt, und zwar so lange, bis das Richtige herauskommt.

Die Freiheit des Abgeordneten ist noch nicht einmal eine Illusion

Probeabstimmungen dienen nicht etwa dazu, mal ein bisschen herumzuprobieren, wie die Abgeordneten sich wohl entscheiden könnten. Sie sind ein Instrument der Disziplinierung.

Kommt bei einer Probeabstimmung nicht das gewünschte Ergebnis heraus, nimmt sich die Fraktionsspitze die Wackelkandidaten in der eigenen Fraktion zur Brust und bekniet sie unter Einsatz vielfältiger Druckmittel. Wenn sie dann schließlich versprechen, "richtig" abzustimmen, kommt die nächste Probeabstimmung. Und bis alle Abgeordneten zur Raison gebracht sind, können schon mal mehrere Probeabstimmungen nötig werden.

Als im September 2011 nicht ganz sicher war, wie die Abgeordneten von CDU/CSU und FDP über den Euro-Rettungsschirm abstimmen würden und ob die Regierung eine eigene "Kanzlermehrheit" zu Stande bringen würde, führte man so lange Probeabstimmungen durch, bis sicher war, dass sich bei der endgültigen Abstimmung das gewünschte Ergebnis einstellen würde.

Die Abstimmung von September 2011 zeigte auch, dass selbst die bloß symbolische Fraktionsgeschlossenheit größere Bedeutung für politische Parteien hat als eine satte Mehrheit.

Damals war ja von Anfang an klar, dass die SPD ihrerseits den Euro-Rettungsschirm unterstützen wollte. Die Regierung hätte sich also entspannt zurücklehnen und sich sagen können: Die Mehrheit haben wir so oder so in der Tasche.

Doch der Druck zur Geschlossenheit der eigenen Reihen war so irrational stark, dass unbedingt eine eigene Kanzlermehrheit her musste. Eine Abstimmung mit den Stimmen der politischen Gegner war denn doch nicht ausreichend, um das angestrebte Bild der totalen Geschlossenheit der eigenen Fraktionen nach außen zu transportieren. Man könnte fast von einer Art des demokratischen Stalinismus sprechen.

In der Regel kommt denn auch wirklich das heraus, was dabei herauskommen soll - vor allem wenn bei den ersten Probeabstimmungen noch nicht das Richtige herauskommen ist.

Dann nämlich werden zwischen den Abstimmungen den abweichenden Abgeordneten so lange und so energisch die üblichen Dosierungen von Zuckerbrot und Peitsche verabreicht, bis sie endlich so abstimmen, wie es von ihnen verlangt wird.

Nur ganz selten geht das auch mal schief, wie bei der Wahl des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten im März 2005, als die amtierende Ministerpräsidenten Heide Simonis von der SPD sich viermal zur Wahl stellte, in Probeabstimmungen stets genügend Stimmen bekam, aber am Ende dennoch nicht gewählt wurde.

Die Abgeordneten verstehen ihre Fraktion nach einer Formulierung des ehemaligen SPD-Politikers Hans Apel auch heute noch meist als eine "Gesinnungsgemeinschaft"1 - als Vereinigung von Leuten mit den gleichen oder wenigstens ähnlichen Überzeugungen.

Das mag erklären, weshalb sie sich freiwillig den Entscheidungen ihrer Fraktionen unterwerfen. Aber es weist zugleich auf ein Dilemma hin: Um zu erreichen, dass Abgeordnete widerstandslos und ungeprüft den Entscheidungen der eigenen Fraktionsspitze folgen, braucht man keine kompetenten und erst recht keine unabhängigen Abgeordneten. Da reicht es völlig hin, wenn man einen gehorsamen Parteisoldaten hat, der brav alles abnickt, was man ihm vorsetzt. Und das ist nun einmal die einzige Qualifikation eines Parlamentariers, die wirklich gebraucht wird. Er muss spuren.