Partnertausch mit Niere

Quelle: Wullers (2011) nach Daten des Eurotransplant Annual Report 2010. "Cadaveric Kidneys" stehen für Organspenden von Toten.

Faktencheck: Organ-Tauschring

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Elke Büdenbeber hatte Glück. Frank-Walter Steinmeier konnte seiner kranken Gattin eine Niere spenden. Die Blutgruppen der beiden waren kompatibel. Viele Paare haben weniger Glück. Ein Organ-Tauschring, in den USA und den Niederlanden bereits Praxis, könnte ihnen helfen. Zeit, die neue Methode auch in Deutschland einzuführen!

In diesem zweiten (und abschließenden) Teil des Faktenchecks zum Organ-Tauschring geht es darum, die offen gebliebenen Fragen aus der ersten Runde (Organ-Tauschringe: Eine gute Idee?) zu klären: Treffen die Vorbehalte gegen den kommerziellen Organhandel auch auf Tauschringe zu? Ist die Tatsache, dass Tauschringe in den USA und anderswo praktiziert werden, ein Indiz dafür, dass sich auch die ethische Einschätzung und die gesetzliche Lage in Deutschland ändern könnten? Besteht in Anbetracht der medizinischen Sachlage überhaupt die Notwendigkeit, sich über Tauschringe Gedanken zu machen? Außerdem haben wir zu einigen Fragen Leserbeiträge erhalten, welche die bisherige Einschätzung des Sachstandes deutlich verändern. (Nicht zu vergessen auch: der Hinweis auf einen kurzen Monty-Pythons-Film zum Thema.)

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Recherche: Hubert Beyerle Redaktion: Ralf Grötker

Nachfrage größer als Angebot

25. Oktober Im Sommer hat der Deutsche Bundestag ein neues Organspendegesetz verabschiedet. Nach dem neuen Gesetz können die Versicherten aufgefordert werden, explizit dazu Stellung zu beziehen, ob sie im Falle eines Unfalltodes ihren Körper für Organspenden zur Verfügung stellen wollen. Trotz der Gesetzesinitiative ist die Spendenbereitschaft in jüngster Vergangenheit gesunken: laut Barmer GEK von 66 Prozent im Vorjahr auf 63 Prozent. Grund dafür sind vermutlich die jüngsten Korruptionsskandale.

Auch längerfristig ist zu beobachten, dass zwischen dem Angebot an Spenderorganen und der Nachfrage eine Lücke klafft:

. Wenn man bedenkt, dass der Grund für eine Nierentransplantation oft Diabetes ist, dass die Anfälligkeit für Diabetes mit zunehmenden Alter steigt und dass aufgrund des demografischen Wandels sowohl der Anteil wie die absolute Zahl älterer Menschen zunimmt (Prognose: Zunahme der Gruppe der über 67-Jährigen von 15.000 im Jahr 2008 auf 22.000 im Jahr 2040!) kann man sich ausmalen, wie sich die Situation in Zukunft entwickeln wird.

Ein möglicher Ausweg bietet sich an: Lebendspenden zwischen Verwandten und sich persönlich nahe stehenden Personen. In anderen Ländern, wo es ebenfalls zu wenig verfügbare Organe von Gestorbenen gibt, wird dieser Weg vermehrt beschritten. In den USA kommt bereits ein Drittel, nach anderen Angaben sogar die Hälfte der Transplantationen mit Hilfe von Lebendspenden zustande. Studien zeigen zudem, dass Lebendspenden à la Steinmeier für den Empfänger Vorteile gegenüber postmortalen Spenden bieten. Die Lebenswahrscheinlichkeit von Empfängern von Lebendspenden nach zehn Jahren ist 34 Prozent höher als bei postmortalen Spenden, so eine niederländische Studie (De Klerk 2010).

Organ-Tauschringe ("Kidney Paired Donation) und Spenderketten ("Nonsimultaneous Extended Altruistic Donor Chains") können helfen, passende Spender und Empfänger zusammenzubringen. Das Prinzip wurde im Teil 1 des Faktenchecks zum Organ-Tauschring bereits kurz vorgestellt (Organ-Tauschringe: Eine gute Idee?). Hier noch einmal in Kurzform die Funktionsweise einer Nierenkette. Die Kette wird ausgelöst durch einen so genannten altruistischer Spender, der seine Niere frei zu Verfügung stellt (und als Gegenleistung dafür z.B. im Falle eines Falles bevorzugt behandelt wird, falls er einmal ein Organ von einer Transplantations-Warteliste braucht).

Anstelle einer Kette ist auch ein kreuzweiser Tausch von Organen möglich (Herr Meier an Frau Schmidt; Herr Schmidt an Frau Meier). Hier bedarf es keines altruistischen Spenders. Der Nachteil: Bei der Infrastruktur der Transplantationszentren wären solche Überkreuzspenden maximal mit drei Paaren denkbar, weil dafür sechs Operationsplätze mit sechs Transplantationsteams gleichzeitig frei sein müssten (Auskunft von Faktencheck-Teilnehmer Dominik Wullers). Bei der Kette kann nacheinander wegoperiert werden.

Die moralische Landkarte

25. Oktober, später Nicht im eigentlichen Sinne ein Argument, aber doch ein Grund für die Ablehnung von Organ-Tauschringen ist die Nähe dieses Modells zum kommerziellen Organhandel. Aber wie groß ist diese Nähe wirklich? Muss, wer den Handel von Organen gegen Geld ablehnt, auch den Tausch unter Menschen ablehnen, die einander verwandtschaftlich oder persönlich verpflichtet sind?

Zunächst: Auch Nobel-Ökonom Alvin Roth, der das Tauschring-Modell erfunden hat und propagiert, lehnt den Markt als Regulierungsinstrument ab. Sein Argument ist allerdings kein moralisches, sondern ein empirisches: Menschen empfinden den kommerziellen Tausch von Organen als "repugnant", also abstoßend oder widerlich. Roth vergleicht die Ablehnung des Organhandels mit dem Verbot des Angebots von Pferdefleisch in Restaurants, das in Kalifornien 1998 per Volksentscheid Gesetz wurde (während der Verkauf von Pferdefleisch in Hundefutter erlaubt blieb). Manchmal verschwinde laut Roth dieser Widerwille im Verlauf der menschlichen Geschichte (wie beim Widerwillen gegen das Verleihen von Geld gegen Zins), manchmal nicht, wie beim Sklavenhandel. Es lässt sich im Voraus nicht sicher sagen (Roth 2007).

Kurze Anmerkung: Interessanter Weise hat weltweit nur ein Land ein staatliches System einer bezahlten Nierenspende institutionalisiert - der Iran. Jährlich werden dort rund 1500 bezahlte Nierenspenden durchgeführt (Schneider 2011). Spender erhalten eine finanzielle Entschädigung und ein Jahr kostenlose Gesundheitsversorgung.

Deutschland steht am anderen Ende der Skala, wenn auch nicht allein (Lennerling 2012). Hier betonen Experten, der menschliche Körper müsse vor Kommerzialisierung geschützt werden (Taupitz 2007). Die Integrität des Körpers ist ein sehr hohes Gut, argumentieren Moralphilosophen. Das hat der deutsche Gesetzgeber auch berücksichtigt. Vor eine Lebend-Organspende hat er daher hohe Hürden gestellt und ihn nur für enge Verwandte und Menschen mit einer sehr engen emotionalen Beziehung erlaubt. Dahinter steckt auch die Absicht, den Spender vor unüberlegten Handlungen zu schützen. Darum wird in Deutschland die Spendenbereitschaft auch immer intensiv von Psychologen geprüft und der Spender wird ausführlich beraten.

Droht Kommerzialisierung?

Ein Argument, welches gegen den Organhandel angeführt wird, lautet: Die Kommerzialisierung droht, das herrschende Normsystem zu unterminieren (Schneider 2011). Es bestehe die Gefahr einer Verdrängung nicht-kommerzieller Motive durch kommerzielle, nach dem Motto: "Das Problem kann man ja mit Geld lösen, dann bin ich nicht mehr moralisch gefordert." Das Phänomen selbst ist in der Wirtschaftsforschung lange umstritten gewesen (siehe dazu: der Titmuss-Arrow-Disput Anfang der 1970er Jahre, vgl. Archard 2002). Mittlerweile ist man sich in der Forschung einig, dass im Fall der Organspende Phänomene der Verdrängung von altruistischem durch kommerzielles Verhalten tatsächlich auftreten. So zeigte sich etwa in Indien bei Befragungen, dass die Organspende-Bereitschaft für Familienangehörige zurück gegangen ist, sobald die Möglichkeit einer Bezahlung aufkam (Schneider 2011).

"Kommerzialisierung" ist nur nicht ein Thema, wenn es um die Effizienz von Tausch und Handel geht. Hinter den Vorbehalten gegen die Kommerzialisierung der Organspende steckt auch ein Misstrauen gegenüber dem Markt als Organisationsprinzip. Ein Aspekt, auf den sich dieses Misstrauen bezieht, ist sicherlich Fairness und Verteilungsgerechtigkeit. Ein anderer Aspekt ist die Überlegung, dass gewisse Dinge unverkäuflich bleiben müssen, wenn die Grundlagen des modernen demokratischen und grundsätzlich egalitären Rechtsstaates nicht unterminiert werden sollen. Zu diesen unverkäuflichen Dingen zählen auch der Körper und seine Teile (Walzer 1983).

Soweit mögliche Begründungsfiguren. Sozialpsychologisch gesehen erscheint es jedoch als offene Frage, warum diese Begründungen in einigen Ländern größeren Anklang finden als in anderen. Eine internationale Übersicht über die Staaten und ihre Handhabe der Organspende lässt auf den ersten Blick keine einfachen Schlüsse zu (Lennerling 2012).

Was nun die Tauschringe betrifft, lässt sich festhalten: Es ist hier keine finanzielle Bezahlung im Spiel. Das Kommerzialisierung-Argument greift in keiner seiner Spielarten. Andere Einwände, die in der Debatte genannt werden, scheinen hingegen schon relevant. In Deutschland lautet zudem ein wichtiges Argument: Wenn über Körperteile wie über Sachen verfügt werden kann, ändert sich das Verhältnis der Menschen zu ihrem Körper - bis hin zur möglichen Konsequenz, dass Ansprüche auf Körperteile eines anderen entstehen könnten, was unakzeptabel ist (Taupitz 2007). Solcherart Anspruch kann - gerade! - auch in nicht-kommerziellen Tauschverhältnissen entstehen.

Es scheint also, dass in Deutschland die Debatte sehr viel stärker vom Vorsichtsprinzip geprägt ist: Man versucht zu berücksichtigen, wie das Werte- und Normensystem als solches durch einen solchen Tabu-Bruch verändert wird.

Entlohnung im Spiel?

26. Oktober Ein weiterer Gedanke: Die Einschränkung von Lebend-Organspenden wird in Deutschland auch damit begründet, dass es schwer zu kontrollieren ist, ob wirklich keine Entlohnung der Spende stattfindet (womit dann wieder all die Einwände gegen den kommerziellen Organhandel auf dem Tisch wären.) Tatsächlich lässt sich nur schwer verhindern, dass der Empfänger sich nicht doch irgendwie und irgendwann erkenntlich zeigt. Was auf den ersten Blick nach Altruismus aussieht, wird jedenfalls in Wirklichkeit oftmals mit der Erwartung irgendeiner Art von Gegenleistung verbunden. Der Organspender erwartet zum Beispiel Dankbarkeit. Oder der Empfänger hat später Schuldgefühle und möchte etwas zurückgeben. Daher erscheinen Lebendorganspenden an vollkommen Fremde in Deutschland zur Zeit nicht als akzeptables Modell (Wöhlke 2010).

Nun: Treffen diese Bedenken auf einen Tauschring überhaupt zu? Ließe sich so ein Ring nicht auf eine Weise organisieren, dass die Anonymität aller Beteiligten gewahrt bleibt? Eine niederländische Studie gibt eine Antwort auf diese Frage. Selbst wenn sich Anonymität gewährleisten ließe, so die Autoren, so seien unterm Strich in den Augen der Betroffenen die dadurch erzielten Vorteile nicht gewichtiger als die damit einhergehenden Nachteile. Als großer Vorteil der Anonymität wurde lediglich erachtet, dass ein Treffen aller Beteiligten das Verfahren verkomplizieren würde und das Risiko von neuen Konflikten berge (De Klerk 2010).

Faktisch ist es zudem nicht immer einfach, Anonymität zu gewährleisten. Während in Holland bei den untersuchten Studien strikt auf Anonymität geachtet wurde, gibt es in den USA die Praxis, dass die Anonymität nur bis zur Operation gilt. In einigen Zentren wird im späteren Verlauf jährlich abgefragt, ob der Wunsch nach Anonymität noch gilt. In Zeitungsartikeln werden außerdem Spender und Empfänger mit vollem Namen genannt. In Australien werden Werbekampagnen und soziale Onlineforen genutzt, um in der Verwandtschaft für Spenden zu werben. Unterbinden lässt sich so etwas wohl kaum. Die in Deutschland kursierende Skepsis erscheint vor diesem Hintergrund als durchaus begründet.

Kosten-Nutzen Rechnung

27. Oktober Bislang nicht auf der Rechnung: Das Ausmaß, in welchem jede Organspende das Leben des Spenders beeinträchtigt. Ein Kommentator - KidNey zitiert Ergebnisse einer Schweizer Untersuchung zu den Folgen der Transplantation:

  • 49,1 % der Spender leiden kardiovaskuläre Erkrankungen
  • 45,2 % der Spender leiden an Niereninsuffizienz
  • 47,2 % der Spender leiden an Hypertonie

Es scheint fraglich, ob diese Zahlen im Zuge der gesetzlich vorgeschriebenen Aufklärung der Spender entsprechend kommuniziert werden. Werden den Spendern die hohen Risiken mitgeteilt? (Wäre eine eigene Recherche wert…)

Außerdem nicht berücksichtigt: Ob die Empfänger einer Niere oder eines anderen Organs nach der Transplantation wirklich eine Verbesserung ihrer Lebensqualität erfahren. Dazu ein Kommentar:

Transplantationen ermöglichen oftmals den Betroffenen ein besseres Leben. Aber keineswegs immer. Es gibt nach etlichen Jahrzehnten Nierentransplantationen noch immer kein Register, welches die Lebensqualität der Empfänger festhält. Eine Transplantation gilt als erfolgreich, wenn die Niere ein Jahr im Körper des Empfängers bleibt. Sollte er in diesem Zeitraum vier Nachoperationen haben, endlose Nebenwirkungen wegen der harten Medikamente und am 366. Tag die Niere verlieren, dann gilt diese Transplantation trotzdem als erfolgreich. Dies gilt es im Hinterkopf zu haben, wenn man von der Erfolgsstory "Transplantation" spricht.

Gibt es wirklich kein Register - keine evidenzbasierten Studien?

Eine Frage der Kompatibilität

26. Oktober, später Es war immer die Rede davon, dass die Kompatibilität zwischen den Blutgruppen ein Problem ist. Passen die Blutgruppen nicht zusammen, ist die Organspende unmöglich. Das Prinzip "Tauschring" erscheint hier attraktiv, weil auch Paaren, die von den Blutwerten her nicht zusammen passen, durch die Über-Eck-Spende geholfen werden kann.

Es gab aber auch Stimmen, die behauptet hatten, dass die Kompatibilität zwischen den Blutgruppen zunehmend weniger relevant sei. Was stimmt jetzt?

Tatsache ist: Die vier menschlichen Blutgruppen sind in der Bevölkerung in Deutschland wie folgt verteilt:

  • A: 43 %
  • 0: 41 %
  • B: 11 %
  • AB: 5 %

Nur die Blutgruppe AB ist mit allen drei anderen Gruppen kompatibel. Träger der zweithäufigsten Blutgruppe, 0, können nur Organe von Spendern der eigenen Blutgruppe aufnehmen! Auch in den Blutgruppen A und B gibt es signifikante Einschränkungen (Details auf Wikipedia). Insgesamt, sagt man, beträgt deshalb die Wahrscheinlichkeit, dass zum Beispiel der Ehepartner die für eine Lebend-Organspende passende Blutgruppe hat, nur rund 70 Prozent.

Nun kommt jedoch das große Aber: Eine Reihe von Transplantationszentren verfügen inzwischen über Techniken, die den Transfer von Organen über die Blutgruppen hinweg ermöglichen, ohne dass es zur Abstoßung der eingepflanzten Organe kommt. Eine Studie von 738 eigentlich "inkompatibler" Transplantationen zwischen 1995 und 2010 zeigte "keine signifikanten Unterschiede in der langfristigen Überlebensrate".

Allerdings waren die Abstoßungsrisiken in den ersten 14 Tagen etwas höher. Die Autoren sprachen sich in der abschließenden Empfehlung für die Durchführung von Transplantationen über Blutgruppen hinweg aus (Montgomery et al. 2012). Eine andere Studie ergab ebenfalls eine langfristige Erfolgsrate eigentlich inkompatibler Transplantationen von 97 Prozent (Milljae Shin et al. 2011). Wenn diese Ergebnisse valide sind, dann ist einer der wichtigsten Gründe, die als Argument für das Prinzip "Tauschring" genannt wurden, hinfällig! (Denn wenn die Blutgruppen nicht im Wege sind, kann man schließlich auch direkt tauschen.)

Zwischenfazit

28. Oktober Wie mag es weitergehen mit der Lebendorganspende in Deutschland? Wenn die Kompatibilität unter den Blutgruppen tatsächlich, wie berichtet, immer weniger relevant wird, besteht für neue Modellen der Lebend-Organspende wenig Notwendigkeit. Abgesehen davon: Versorgungslücken entstehen überhaupt nur dann, wenn nicht ausreichend Organe von Unfallopfern zu Verfügung gestellt werden. Wenn mehr Menschen sich (im Falle eines Unfalltodes) als Organspender bereitstellen würden, ließen sich die Versorgungsengpässe beheben.

Der Bereitwilligkeit wiederum könnte man durchaus nachhelfen - zum Beispiel, indem eine Regelung schafft, nach der Verstorbene für Organspenden herangezogen werden können, sofern sie dies nicht anders verfügt haben (also ein Opt-out-Verfahren anstelle der heute üblichen Einwilligung).

Zurück auf Los

29. Oktober Ein Leserbrief via Email von Dominik Wullers, der seine Master Thesis darüber geschrieben hat, wie sich Organ-Ketten in Deutschland auswirken würden. Hier der Link zur (bisher unveröffentlichten) Arbeit. Als Resultat des Gesprächs mit Wullers müssen wir einige Annahmen, von denen wir bislang ausgegangen sind, revidieren. Außerdem kommen einige zentrale Aspekte hinzu, die wir bislang nicht beachtet hatten.

  • Lebendspenden sind, in Bezug auf die Lebenserwartung des Empfängers, besser als postmortale Spenden: Die Lebenswahrscheinlichkeit von Empfängern von Lebendspenden nach zehn Jahren ist 34 Prozent höher als bei postmortalen Spenden, so eine niederländische Studie (De Klerk 2010). (Hatten wir oben bereits genannt - dann aber nicht mehr in die Diskussion einbezogen.)
  • Was die postmortale Spende betrifft, so stammen viele der auf diesem Weg gewonnenen Organe von älteren Menschen. Die Folge: Die Organe sind nicht mehr die jüngsten. Wer ein solches Organ eingepflanzt bekommt, steht ein paar Jahre später oft wieder auf der Warteliste.
  • Nicht die Blutgruppe allein entscheidet darüber, ob ein Spenderorgan für einen Empfänger verträglich ist. Auch so genannte HLA-Faktoren (Humane Leucocyte Antigene) spielen eine wichtige Rolle. Fazit: Dass Transplantationen "über Blutgruppen hinweg" möglich sind, bedeutet nicht, dass beliebige Spender/Empfänger miteinander kombiniert werden können.
  • Selbst wenn über Blutgruppen hinweg transplantiert werden kann, muss dafür massiv Immunsuppression eingesetzt werden. Eine solche medikamentöse Behandlung hat massive Nebenwirkungen.
  • Je länger ein Patient auf eine Spenderniere warten muss, desto mehr sinkt seine Überlebenswahrscheinlichkeit - Dialyse hin oder her. Nach einer Studie von Meier-Kreische et al. (2000) haben Nierenkranke, die vier Jahre auf ein Spenderorgan warten, im Vergleich zu Patienten, die sofort eine Transplantation erhalten ("100 Prozent"), eine Überlebenswahrscheinlichkeit von nur 72 Prozent.
  • Die Zahlen aus der Schweiz, nach denen Nierenspender sehr häufig u.a. an Herzkrankheiten leiden, sind in der Forschung durchaus umstritten. Unter anderem Segev et al. (2010) und Roth et al. (2005) kommen zu sehr viel optimistischeren Ergebnissen.
  • Organ-Tauschringe und Tauschketten würden dazu führen, dass die Anzahl von Transplantationspatienten, die sich auf Wartelisten befinden, sinkt. Die Chancen auf eine Organspende würden sich erhöhen. Der Druck in Richtung Illegalität (kommerzieller Organhandel: "Niere aus Indien") würde abnehmen.

Fazit: Wenn all dies zutrifft kann man die postmortale Spende kaum mehr als Alternative für die Lebendspende betrachteten. Angesichts des deutlichen Nutzens (deutlich bessere Lebenserwartung für Nierenempfänger) und der sich in Zukunft durch den demografischen Wandel vermutlich verschärfenden Problemlage, wäre es vielleicht an der Zeit, Organ-Tauschringe oder, genauer, Spenderketten auch in Deutschland einzuführen.

Links und Literatur hier

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Das Projekt Faktencheck wird gefördert durch die Robert Bosch Stiftung.

Kostenfreie Wiederveröffentlichung diese Textes ist auf Anfrage möglich: faktencheck@debattenprofis.de