Patriotischer Messianismus

Über Rorty, Nationalstolz und den Traum vom neuen Amerika

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Ans Jammern und laute Wehklagen über die "Segnungen", die Neoliberalismus, Massenmedien und Postmoderne den Wohlfahrtsstaaten des Westens bereiten, haben wir uns gewöhnt. Besonders wenn es von Absolventen der Frankfurter Schule kommt, die mit sprachkritischem Duktus herumlaufen und sich auf ihr universalistisches Gehabe eine Menge einbilden. Der Fall Sloterdijk legt beredtes und jüngstes Zeugnis davon ab. Leicht hätte er zu einer Affäre Habermas werden können. Beweise für einen in Auftrag gegebenen Hetzartikel gegen den ungeliebten Kollegen und Konkurrenten aus dem Hause Suhrkamp liegen vor. Einem politkulturellen Mainstream, der seit den 70er Jahren die Meinungshoheit über die bundesdeutschen Feuilletons ausübt, gelang es aber, mit viel Lärm und Publizität den Sturz dieser Lichtgestalt des "besseren" Deutschlands noch mal zu vertagen.

Schlägt jedoch Richard Rorty, einer der derzeit bekanntesten und meistzitiertesten Philosophen der Gegenwart, ebensolche Töne an, so ist das für den Beobachter nicht ohne intellektuellen Reiz und Pikanterie. Vor nicht allzu langer Zeit hatte der amerikanische Philosoph nämlich selbst heftig in das postmoderne Horn geblasen. Im Streit mit den analytischen Philosophen warb er kräftig für das Denken von Heidegger und Nietzsche, Foucault und Derrida, plädierte gegen die Sprache des Ernstes und für die Sprache der Ironie. Seither steht Rorty im Ruf, führender und einflussreichster Vertreter der amerikanischen Postmoderne zu sein. Kein Wunder also, dass der Frankfurter Klüngel vor Freude aufheulte, als die Kunde über den Atlantik drang, der Philosoph habe sein "linkes" Herz wiederentdeckt und schwöre dem Postmodernismus ab.

Dargelegt hat Rorty dies alles in "Achieving our country", einem politischen Traktat, das voriges Jahr in Amerika erschien und seit April dieses Jahres unter dem Titel "Stolz auf unser Land" auch auf deutsch vorliegt (Suhrkamp Verlag). Anlass für uns, den Motiven seines Meinungsschwenks einmal nachzustellen und über die Gründe seines Aufrufs an die amerikanische Linke, sich wieder national zu kostümieren und aktiv an der Vervollkommnung Amerikas mitzuwirken, zu spekulieren.

There's a dark cloud rising from the desert floor
I packed my bags and I'm heading straight into the storm
Gonna be a twister to blow everything down
And I believe in a promised land.

Bruce Springsteen

Probleme des Alltags lösen

Gespür für Moden und aktuelle Trends besaß Rorty schon immer. Bereits Mitte der sechziger Jahren, als die westliche Welt sich gerade daran machte, das Humanum auf die Straße zu tragen, verordnet er der Philosophie den inzwischen berühmt gewordenen linguistic turn. Auf eine griffige Formel gebracht besagt dieser: Es gibt kein Jenseits der Sprache; Denken und Erkennen sind sprachvermittelt; Wahrheit die Eigenschaft von Sätzen, die von Menschen gemacht werden.

Ende der siebziger Jahre folgt dem eine radikale Erkenntniskritik, sie besiegelt den Bruch mit seinen Lehrern, den analytischen Philosophen. In Der Spiegel der Natur (1979; dt. 1981) räumt Rorty mit der seit Platon und Descartes in der Philosophie gepflegten Tradition auf, zwischen Geist und Materie, Innen und Außen, Subjekt und Objekt, Sein und Schein streng zu trennen. Von einem Vorrang des Geistes vor dem zu erkennenden Ding will er genauso wenig mehr wissen wie von einer Realität, die sich im Bewusstsein des Menschen spiegelt und der das menschliche Bewusstsein distanziert gegenübersteht. Für Rorty sind, was heutzutage keine große Neuigkeit mehr ist, die Objekte der Erkenntnisse immer schon mit subjektiven Anteilen durchtränkt, mit historischem Material genauso wie mit diskursivem. Wahrnehmen, Wissen und Erkennen vollziehen sich in Kontexten, sie sind abhängig von sozialen Übereinkünften und kulturellen Techniken, die wiederum in bestimmte Terminologien und Diskurse eingebunden sind. In einer solchen Welt, wo "wir alles, unsere Sprache, unser Bewußtsein, unsere Gemeinschaft als Produkte von Zeit und Zufällen behandeln" (Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1989, S, 50), es mithin kein jenseits von Interessen, Meinungen und Leidenschaften gibt, ist Rorty der Ansicht, dass es tief im Innern des Bewusstseins nichts gibt, was es vorher nicht selbst dort ab- oder hineingelegt hat.

Damit positioniert sich Rorty als Relativist, Kulturalist und - wie manche behaupten - als verkappter Sozialkonstruktivist, zugleich aber auch als scharfer Gegner aller Letztbegründungslehren und Korrespondenztheorien. Rorty verabschiedet sich vom universellen Anspruch und Erbe der Aufklärung, ihrer Orientierung an Vernunft und Wahrheit. Von einem moralischen Universalismus, der verbindliche Normen in der menschlichen, sozialen oder kommunikativen Praxis verortet, hält er überhaupt nichts. Und an die Stelle der Suche nach ewigen Wahrheiten tritt die Frage der Lebensdienlichkeit: Hier geht es hauptsächlich um Verhaltenskoordinierung, um die Effizienzsteigerung von Organismus und Umwelt, um die soziale Übereinkunft zwischen Individuen. Die Aufgabe, die es fortan für Denker zu lösen gilt, ist: Wie können wir die Werkzeuge, die uns zur Verfügung stehen - Worte, Wünsche, Begriffe, Ideen etc. - nutzen, um Fortschritte in technischer, sozialer und politischer Absicht zu erzielen. Das können Ziele sein wie: das Leid der Menschen zu verringern; die Möglichkeiten für künftige Generationen zu mehren; für freien und gleichen Zugang zu Bildung und Wissen zu sorgen; allen Menschen die gleichen Lebenschancen zu eröffnen oder zu erhalten usw.

Die Schlüsse, die Rorty aus dieser pragmatischen Einstellung zu den Dingen zieht, sind weitreichend. Statt sich mit Quasi-Gottheiten (Vernunft, Ideen, Prinzipien) zu beschäftigen, sich mit Erkenntnisproblemen und anderen logischen Spitzfindigkeiten herumzuschlagen, soll die Philosophie sich den Problemen des Alltags zuwenden und nützliche und praktikable Lösungen dafür präsentieren. Ihnen, den problems of man, und damit der Politik und der Demokratie, gehört der Primat, nicht der Philosophie, ihren Problemen und Begründungen.

Es überrascht nicht, dass vor allem sein deutscher Widersacher und philosophischer Konkurrent Jürgen Habermas am amerikanischen pursuit of happiness ausgerichteten Wahrheitsbegriff herummäkelt. Mit dem Verzicht des "Strebens nach Objektivität", der Ausrichtung von Wahrheit auf das, was einer bestimmten Kultur- und "Sprachgemeinschaft" nützt oder sie für gut ausgibt, sieht er nicht nur den universalistischen Geltungsanspruch, den Moderne und Aufklärung seit mehr als zweihundert Jahren erheben, in Gefahr. Schlimmer noch: Mit der Historisierung des Universalismus, der Kontextualisierung des Wissens und der Verkürzung von Rationalität auf die "Gesprächsbereitschaft" des diffusen Wir einer Kultur- oder Sprachgemeinschaft käme plötzlich ein "ethnozentrischer Standpunkt" ins Spiel, der das kulturelle, doch stets kontingente Erbe von Gemeinschaften über die modernen Errungenschaften und Postulate abstrakter Rechtsverfahren erhebe. Dass zumindest dieser Verdacht des Vernunfttheoretikers und Letztaufklärers nicht ganz unbegründet ist, zeigt Rorty in Achieving our country.

Politische Romantik never dies

Rorty zufolge bedarf erfolgreiche Politik der Einbindung und Zuarbeit menschlicher Affekte und Leidenschaften. Sind diese mit Enthusiasmus, Zuneigung und Bewunderung erfüllt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Bürger mit ihrem Land identifizieren, sie werden für öffentliche Belange streiten, für Erhalt, Ausbau und Vervollkommnung ihres Gemeinwesens kämpfen und beizeiten sogar ihr Leben dafür riskieren. Überwiegen dagegen Gefühle der Demütigung, Erniedrigung und Scham, ist das Gegenteil zu erwarten, die Bürger werden sich von ihrem Land abwenden, sie gehen ihren privaten Geschäften nach und verfolgen ausschließlich ihre je eigenen Ziele. (Sicherlich können auch Empfindungen der sozialen Kränkung oder Missachtung Identifikationsmuster bieten oder als Gründungsmythen fungieren. Nachkriegsdeutschland oder das jüngere Serbien sind die besten Beispiele dafür. Von solchen Sonderwegen sehe ich hier aber ab.)

Anders als abstrakte Theorien oder Prinzipien bieten Geschichten und Mythen, Visionen und Ideologien emotionale Ankerplätze. Sie vermögen, die vielfältigsten und ansonsten wild herumstreunenden Gefühle und Leidenschaften der Bürger zu bündeln und ihnen Halt und Orientierung zu geben. Je mehr die Erzählungen dabei auch auf die Sehnsüchte der Menschen nach Geborgenheit, Wertschätzung und sozialer Anerkennung antworten oder ihrem Verlangen nach gemeinschaftlichem Erleben nachgeben, desto größere performative Kraft erzeugen und umso besser funktionieren sie.

Unter den gemeinschaftsstiftenden Affekten nimmt die "Liebe zum eigenen Land" eine herausragende Stellung ein. Immer wieder verstehen es Populisten und andere Staatsleute, diese Ressource für ihre Zwecke zu nutzen. Vaterlandsliebe kommt, und das ist ihr Vorzug gegenüber vielen anderen Gefühlsäußerungen und Stimmungslagen überall und gratis vor, sie liegt gewissermaßen auf der Straße. Um als Metaerzählung für Gemeinschaften, Staaten und Kulturen zu taugen, muss sie von gewieften Politikern und Beratern jedoch stets neu aufgesammelt und mit motivierenden, Menschen mobilisierenden Bildern und Symbolen angestachelt und am Kochen gehalten werden.

In traditionellen Kulturen oblag das Priestern, Sehern und anderen Propheten; in modernen westlichen Gesellschaften ist diese Rolle auf Massenmedien übergegangen. Ihre Mediatoren wissen in aller Regel, welche Zeichen, Formen und Bilder es braucht, damit die Bürger Stolz, Achtung und Bewunderung für ihren Staat, ihre Kultur oder ihre Nation oder Schimpf, Scham oder Verachtung dafür empfinden. (Selbstverständlich funktioniert das nicht in Eins-zu-eins-Übersetzung. Auch davon sehe ich der Einfachheit halber mal ab.) Affekt und Abneigung gegen die Postmoderne haben gewiss damit auch zu tun. Sie räumte einst mit solchen Vorstellungen auf, als sie nationale oder soziale Mythen, Ideen und Ideologien zerstörte und stattdessen Bruchstückhaftes, Mehrdeutiges und Vielfältiges hinterließ, das Spiel mit Oberflächen, Masken und Kontingenzen.

Besonders Massendemokratien weisen auf dem Gebiet des Affektiven große Defizite auf. Und zwar nicht bloß, weil sie aus funktionalen bzw. verfahrenstechnischen Gründen die konkreten Menschen aus den Operationen des politischen Systems verbannen und in den Privatbereich (Umwelt) abschieben. Sondern mehr noch, weil abstrakte Texte, rechtsförmige Verfahren, Verordnungen und Regularien prinzipiell begeisterungsfreie Zonen sind und Intensitätsgrade (Überzeugungen, Interessen, Leidenschaften) des Politischen (C. Schmitt) ausschließen. Das gilt im Übrigen noch für verfassungspatriotische Gesinnungen, die die Liebe zum Land, zu Sprache und Kultur durch die "gefühlsmäßige Bindung" an Verfassungstexte ersetzen wollen.

Für die Theoretiker der Moderne (Luhmann, Habermas) zählt die strikte Trennung von Politik und Gemüt darum auch zu den positiven Errungenschaften der Moderne. Doch ist dieser Substanzverlust des Politischen mit ein Hauptgrund, warum funktionale Politsysteme ständig in Glaubwürdigkeitskrisen stürzen, wenn das Versprechen der Politik auf ungehinderte Teilhabe an Brot (Massenkonsum) und Spielen (Massenspektakeln) ausbleibt oder sie den Verzicht der Bürger auf politische Partizipation und Mitbestimmung nicht kompensieren kann.

Man täte Rorty aber grob unrecht, wenn man ihn deswegen mit anderen politischen Romantikern in einen Topf würfe. Jeglicher Autoritarismus ist ihm fremd, Rorty surft keinesfalls auf der neoheidnischen Welle polit-theologischer Spekulation. Zwar betätigt er sich auch weiter als Geschichtenerzähler, er denkt durchaus in Ausnahmen, Wundern und Sündenfällen. Von den Zielen der Moderne und der Aufklärung distanziert er sich aber nicht, noch dementiert er sie. Weiter beharrt er auf der Möglichkeit der Verständigung vernunftgeleiteter Staatsbürger - wenn auch im regionalen Rahmen einer nationalen Kulturgemeinschaft.

Miesepeteriche Amerikabilder

Denkt Rorty an Amerika, befällt ihn ein Schamgefühl. Schuld daran sind Bilder und Geschichten, die Intellektuelle seit dreißig Jahren über Amerika verbreiten. Wo Begeisterung, Stolz und Bewunderung einst das Streben nach Freiheit und Glück befeuerten, dominieren heute Selbstironie, Ekel und Selbstverachtung. Aus dem Land, das der Philosoph Hegel mal als "Land der Zukunft", der Hoffnung und "der Sehnsucht für alle, welche die historische Rüstkammer des alten Europa langweilt" besungen hat, zaubern Intellektuelle heute ein "Reich des Bösen". Sie beschimpfen es als "Imperium" (Th. Pynchon) oder denunzieren es als "Firma" (W. Gibson) oder "Disneyland" (J. Baudrillard). Nur noch selten wagen es deshalb die Amerikaner, sich als "Ausnahme" zu sehen. Fragten sie früher, was sie für ihr Land tun könnten, so fragen sie heute in typisch europäischer Manier, was Amerika für sie tun kann.

Rorty bereitet es wenig Mühe, die Schuldigen für diesen Mentalitätswandel zu präsentieren. Da ist zum einen das Vietnam-Trauma, für Rorty der Sündenfall schlechthin. Zwar formiert und mobilisiert der Krieg in Fernost eine linke Protestbewegung, die die Lufthohheit über die amerikanische Öffentlichkeit gewinnt. Das hatte freilich um einen hohen Preis. Eine antikommunistische, um Sozialreformen bemühte Linke driftet vom richtigen Weg ab, sie verliert den engen Kontakt zu Gewerkschaften und zur Arbeiterklasse sowie den "Stolz auf ihr Land". Sie attackiert nicht mehr die Ursache des Übels, den Grundwiderspruch von Arbeit und Kapital, sondern verlegt sich auf die Lösung abgeleiteter Konflikte: auf Probleme der Rasse, des Geschlechts und der Kultur. Seitdem überlagern die Kämpfe der minorities (Migranten, Schwule, "Frauen") um rechtliche und soziale Anerkennung diesen Grundwiderspruch, und die Lektüre philosophischer Texte ersetzt die Kritik der Politischen Ökonomie.

Auch dafür findet Rorty Schuldige. Diesmal sind es das poststrukturalistische Genre und die Ideenwelt Nietzsches und Heideggers. Vereint sorgen sie dafür, dass die Linke einen Identitätsverlust erleidet, sich de-nationalisiert und in politische Rat- und Hoffnungslosigkeit verfällt: Lacan mit seiner Behauptung etwa, das menschliche Begehren sei prinzipiell unstillbar; Foucault mit seinen Analysen einer Gesellschaft, die von einem Netz der Macht regiert werde; oder Heidegger mit seiner Sicht der Technik, die den Horizont des Seins verdüstert und nur noch Wüsten erzeugt.

Auf Amerika und die Praxis der Linken hat dieser Import aus Europa verheerende Wirkungen. Und zwar nicht bloß, weil die Sozial- zu Kulturwissenschaften mutieren und marginale, kulturelle Studien einen allgemeinverpflichtenden Bildungskanon ablösen. Oder weil sich die Politik der Linken aus den Straßen und öffentlichen Plätzen in die Elfenbeintürme der Akademien verzieht, auf politisch korrektes Handeln achtet und Gesellschaftskritik durch Lektüre ersetzt. Schlimmer ist vielmehr, dass die Intellektuellen sich ihrer sozialen Verantwortung entziehen. Sie beschränken sich seitdem auf die Rolle des Beobachters, der bisweilen die Ereignisse ironisierend bis angeekelt begleitet und kommentiert, obwohl der globale Kapitalismus, also die Auflösung sozialer Bindungen und die Flexibilisierung stabiler Arbeitsverhältnisse, geradezu nach aktiver Einmischung, nach einem neuen Bündnis von Geist und Tat schreit. Und schlimmer ist auch, dass mit dem europäischen Ideen-Imperialismus die Mission Amerikas, "Vorhut der Menschheit", Avantgarde "der menschlichen Geschichte" zu sein, außer Tritt gerät.

Ein nationaler Mythos muss her

Aber es ist nicht diese althergebrachte Meinung über die Rolle des Intellektuellen, die verblüfft, oder die Schnelligkeit, mit der Rorty sich der Lasten des Postmodernismus entledigt: der Politik der Differenz, der Ironie, der Kritik an Mythologien. Zumal das eine bereits Massenmedien und globale Computernetze besorgt haben, und das andere eine bestimmte postmoderne Prosa, die den Nachweis der Welthaltigkeit ihrer Rhetorik bisher schuldig geblieben ist. Überraschender wirkt da schon der missionarische Eifer, den Rorty entfaltet, wenn es gilt, all jene Wunden zu heilen, die der "moderne Kapitalismus" (R. Sennett) in die Gesellschaften geschlagen und der europäische Postmodernismus im Denken der amerikanischen Intellektuellen hinterlassen hat.

Mit einem einfachen Trick versucht Rorty die Situation zu entschärfen und umzukehren. Er besinnt sich der Anfänge und der Wurzeln der amerikanischen Romantik. Statt Heidegger, Nietzsche oder Derrida liest er Emerson, Whitman und Dewey. Dort findet Rorty das, was den Europäern fehlt, die Amerikaner aber brauchen: Mut, Vertrauen und Zuversicht, wenn sie die gewaltigen Aufgaben und Probleme der Zukunft bewältigen wollen, die auf sie warten: positive Leitbilder, Visionen und Träume. Sind diese erst mal wieder im Bewusstsein der Amerikaner angekommen, kann der Aufbau eines "Musterbeispiels der Demokratie" in Angriff genommen werden. Europäer sind dazu kaum noch in der Lage, sie flüchten sich in Skepsis, Selbstmitleid und Pessimismus. Deshalb muss Amerika sich seiner Ausnahmestellung unter den Völkern und Staaten der Welt wieder erinnern, es muss nach der technischen, militärischen und ökonomischen auch wieder die geistige Führerschaft über die Welt erringen und jene Maßstäbe schaffen, nach denen es später von anderen Staaten und Nationen beurteilt werden möchte.

Warum Rorty die Nationalhymne anstimmt, die gespreizten Finger ans linke Herz presst und ausgerechnet im Nationalstolz das Gegengift für die Heilung all jener Krankheiten findet, die die neuen Arbeitsbeziehungen und Kommunikationsverhältnisse in den modernen Gesellschaften anrichten, wissen wir nicht. Vielleicht hat das auch mit seinem Alter zu tun. So mancher in die Jahre gekommene Philosoph hat in der Vergangenheit - Heidegger und Horkheimer sind da nur die prominentesten Beispiele - Trost in Religion und Gott für verlustig gegangenen Sinn gesucht. Wir wissen jedoch, dass zwischen Analysen und Geschichten, wissenschaftlichen Beschreibungen und Mythen aller Unkenrufe zum Trotz ein gewaltiger Unterschied besteht und nicht alles, was überzeugt, auch gleichermaßen zuträglich oder bekömmlich ist. Die Geschichte bietet dafür hinreichend Anschauungsunterricht.

Andererseits mögen wir uns kaum vorstellen, dass sich die moderne Gesellschaft, zumal die amerikanische, per Dekret eine Zivil- oder Bürgerreligion verpassen lässt. Dazu ist sie hierarchisch zu flach und dezentral organisiert und von gegenseitig sich ausschließenden Selbstbezüglichkeiten durchzogen, als dass dieser Impfstoff nennenswerten Erfolg verspräche. Die Verringerung von Möglichkeiten wäre unweigerlich die Folge. Und daran kann eigentlich niemand gelegen sein. Weder in Amerika noch anderswo. Zudem besitzt die funktional differenzierte Gesellschaft weder eine Adresse noch verfügt sie über eine übergeordnete Instanz, die entscheiden könnte, in welche Richtung die Handelsgeschäfte der Gesellschaft zu verlaufen hätten. Diese Möglichkeit hat sie sich qua eigener Evolution selbst verbaut.

Geschichtslose Gesellschaften

Daher macht es wenig Sinn, politische Programme der guten alten Zeit auszugraben und rückwärtsgewandte Prophetien zu entwickeln. Die Geschichte ist zum Glück, aber zum Unglück Rortys, eher ein Knochen als eine Schädelstätte. Unsere Probleme haben mit denen der 40er und 50er Jahre nichts mehr gemein. Massenproduktion, Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und der Traum von einer solidarischen und klassenlosen Gesellschaft gehören der Vergangenheit an. Mal abgesehen davon, dass derjenige, der einen zweiten New Deal herbeisehnt, auch von Kriegswirtschaft und einem gemeinsamen Feind sprechen müsste, die Ursache für sein Gelingen waren.

Doch nirgendwo auf der Welt gibt es Adressaten (eine Arbeiterklasse, mächtige linke Bewegungen) die diese Gedanken aufnehmen und den amerikanischen Traum in "ein endzeitliches Geschehen" (Whitman) verwandeln könnten oder gar möchten. Weil dies so ist, stopfen vorwiegend Anekdoten und persönliche Erinnerungen die Löcher, die Politik nicht schließen kann: Wir hören von Rortys ersten Begegnungen mit intellektuellen Protagonisten des New Deals; wir lesen Elogen auf die "lange und ruhmreiche Geschichte" der amerikanischen Linken; und wir erfahren von streikenden Bergarbeitern vor den Kohlegruben und Stahlwerken, die heroisch um anständige Entlohnung, bessere Arbeitsbedingungen und soziale Umverteilung kämpfen. Doch was soll der Bürger mit all diesen Geschichten anfangen? Die Zeit, die Rorty heroisiert, ist nicht mehr die unsrige. Und die Zeit, wo Wünsche noch geholfen haben, der Sozialismus eine Alternative zum Wirtschaftsegoismus bot, ist unweigerlich vorbei. Auch wenn manche Partei auf der Tastatur des Nostalgischen spielt und das nicht wahrhaben will. Gegen das Tempo und die rauhen Stürme, die Freihandel, offene Grenzen und die globalen Kommunikationsverhältnisse entfachen, helfen keine trägen oder schnöden Mythen. Der globale Kapitalismus ist alternativlos geworden, er ist seinerseits zum Mythos geworden, zu einem ohne Gegenbild und Gegenmacht, während die globale Gesellschaft dabei ist, sich der Menschen zu entledigen.

Was die moderne Gesellschaft braucht, ist Wissen und Information, sie baut auf Intelligenz und Wettbewerb, Kreativität und Ideenmanagement, Flexibilität und Geistesgegenwart und gerade nicht auf Menschen und soziale Repräsentation. Wer soll den Teleworker und Dienstleister auch vertreten? Wer an ihren Kommunikationen teilhaben, von ihren Früchten profitieren will, muss höchst flexibel sein, er muss Dauerpräsenz zu Hause oder am Arbeitsplatz zeigen, anpassungsbereit und fit für schnelle Konjunkturwechsel sein und seinen Arbeitswert durch permanente Fort- und Weiterbildung steigern. Es ist sicher nicht abwegig, in den Arbeitsverträgen, die Fußballprofis mit Vereinen schließen oder nach denen sie von einem Ort zum anderen transferiert werden, die zukünftigen Arbeitsbeziehungen der globalen Gesellschaft abzulesen.

Der Nationalstaat wird geschliffen

Nicht mal dort stimmt das Bild, wo Rorty die Fahnen des Nationalstaates trotzig gegen die Winde der Weltgesellschaft ausrichtet. Zweifellos ist er nach wie vor die einzige Adresse, die über die Zuteilung von Sozialleistungen bestimmt. Immer noch vermag er, aufgrund des Rechtsmonopols, das er besitzt, mächtige Monopole oder Kartelle zu zerschlagen - siehe Standard Oil Trust, AT&T oder jetzt (vielleicht) Microsoft. Und wenn es ums Erfinden von neuen Steuern und Abgaben geht, hat er sich bislang als höchst erfinderisch erwiesen. Doch bereits auf seinem ureigensten Terrain, dem Schutz der Bürger vor Gewalt, Kriminalität und Terror, löst er nur noch bedingt, sein Versprechen ein. Wer es sich leisten kann, vertraut besser auf private Wachdienste und schwarze Sheriffs. Und mit dem raschen Ausbau und der Geschwindigkeit der Netze formiert sich der digitale Widerstand gegen ihn: Kapital fließt dahin, wo es höhere Renditen verspricht; Bürger kooperieren jenseits nationaler Grenzen; Fernnahverhältnisse ersetzen nationale Zugehörigkeiten; Schwarzarbeit und Steueroasen erschweren das Eintreiben von Steuern usw.

Freilich bedeutet die Schleifung des Nationalstaates durch die globalen Wirtschaft und ihre Finanz- und Kapitalmärkte keineswegs das Ende staatlicher Ordnung oder Politik. Global behaupten und durchsetzen werden sich vor allem solche staatliche Organisationen, die effiziente Behörden und straffe Entscheidungsprozesse und -strukturen aufweisen und demzufolge mit dem Tempo mithalten können, das ökonomisch-technische Systeme vorlegen. Das müssen aller Voraussicht nach nicht unbedingt demokratische Formen und Gefäße sein in dem uns bekannten Sinn. Das können auch halb-feudale, halb-monarchistische oder von Familienclans oder Stämmen gesteuerte Staaten sein wie sie Dubai, Malaysia oder Taiwan zeigen. In dieser Hinsicht sind sie sicher besser gerüstet als die trägen, schwerfälligen und mit Entscheidungen sich quälenden Staaten Alteuropas.

Überdies steigt in dem Maße, wie die Nation ihrerseits zu einer mythischen Größe wird, die Bedeutung der Regionen. Den Bürger interessiert in erster Linie die Situation vor Ort, er will wissen, ob er vernetzt ist und einen lichtschnellen Anschluss bekommt, ob das Gebiet, in dem er wohnt, über saubere Luft und eine verkehrsgünstige Infrastruktur verfügt, eine funktionierende Verwaltung der kurzen Wege und ein "unfallfreies" Klima für ihn und seine Kinder vorweisen kann. Ist das Umfeld intakt, werden Menschen oder Firmen sich dort ansiedeln und niederlassen und nicht woanders. Weil dies so ist, ist die Region, und nicht die Nation, die andere Seite der Globalisierung. Die Nation und das Born in the USA sind Auslaufmodelle.

Wiederkehr des Raumes

Und auch auf die Gretchenfrage der globalen Gesellschaft, wie Inländer mit der wachsenden ausländischen Konkurrenz verfahren sollen, weiß der Philosoph keine Antwort. Das einzige konkrete Beispiel, das Rorty uns gibt - bezeichnenderweise in einer Fußnote -, beweist dies nachhaltig. Für Rorty entscheidet sich das Schicksal von sozialen Demokratien an ihren Armutsgrenzen. An der Südgrenze Amerikas prallen Arm und Reich derzeit am heftigsten aufeinander. Deswegen ist dort die elektronische Überwachung auch am weitesten fortgeschritten. Tag und Nacht patroullieren Grenztrupps mit Infrarotkameras, und Bewegungsmelder registrieren aufmerksam alle "feindlichen" Bewegungen. Trotz dieser Technologien wachsen die Probleme vor Ort. Wie soll, so fragt Rorty, eine politische Linke reagieren, wenn mexikanische Arbeiter auf einen Arbeitsmarkt drängen, auf dem amerikanische Arbeitslosen sich tummeln. Für wen soll sie Partei ergreifen? Soll sie sich mit den Mexikanern solidarisch erklären und sich universalistisch gebärden, oder sich nationalistisch zeigen, nur für partikulare Interessen eintreten und sie draußen lassen?

Es ehrt Rorty, dass er zugibt, auf diese Frage, die zu scharfen Kontroversen innerhalb der Linken führt, kein Patentrezept zu wissen. Der US-Gewerkschaftsbund AFL-CIO hingegen schon. Ihm ist das Hemd näher als der Rock und er fordert deshalb von der Regierung den uneingeschränkten Schutz einheimischer Arbeitskräfte vor ausländischer Konkurrenz. Und das ist beileibe keine amerikanische Besonderheit. Ähnliche Bestrebungen gibt es auch in Europa: Französische Bauern kapern britische LKWs und umgekehrt; europäische Filmschaffende fordern Quotenregelungen, um die Flut von Hollywoodfilmen auf den hiesigen Markt einzudämmen; Westdeutsche sind es leid, Billionenzahlungen an ihre Brüder und Schwestern im Osten zu leisten; der deutschsprachige Raum verteidigt mit aller Macht die Buchpreisbindung usw.

So schnell kehren Fragen und Probleme des Ortes, der Geographie und des Raumes auf die politische Agenda zurück. Und zwar sowohl in politischer und nationaler als auch in sozialer und rechtlicher Hinsicht. Es fällt nicht schwer, ihnen eine neue Renaissance vorherzusagen. Auch wenn mancher Zeitreisender, der sich bereits jenseits von Räumen und Orten wähnt und in den Datenraum verabschiedet hat, es noch nicht wahrhaben möchte. God bless America.