Perfekter Sturm: Wollen wir die Gesundheit Westeuropas der Ukraine zuliebe opfern?

Seite 2: Eingefrorener Krieg würde deutschen Niedergang verschärfen

Entweder wird die CDU Regierungskoalitionen mit der AfD eingehen müssen (wie es die Schwesterpartei, die Christlich-Soziale Union, bereits mit den Freien Wählern in Bayern getan hat), oder alle etablierten Parteien werden dauerhafte Koalitionen eingehen müssen, um die AfD von Regierungen fernzuhalten.

Letzteres würde an die letzten Jahre der Weimarer Republik erinnern und mit ziemlicher Sicherheit die radikalen Parteien noch weiter stärken, da Kritiker der Regierungspolitik ohne andere Option wären. Der radikalste Vorschlag ist, die AfD als Neonazi-Partei zu bezeichnen und zu verbieten, aber das würde zu massiven Protesten führen und ihre Anhänger zur Gewalt antreiben. Was auch immer geschieht, Deutschland scheint auf eine längere Periode tiefer politischer Instabilität und Polarisierung zu blicken.

Die Wurzeln der Unterstützung für die AfD und ähnliche Parteien in Europa liegen in der Angst vor der Massenmigration und der Feindseligkeit gegenüber den zentralisierenden (und manchmal herrischen) Tendenzen der Europäischen Union. Ihre Unterstützung hat jedoch durch die sich vertiefende wirtschaftliche Rezession, in die Deutschland durch den Anstieg der Energiepreise infolge des Krieges in der Ukraine gestürzt wurde, stark zugenommen. Der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands in den letzten Jahrzehnten beruhte weitgehend auf billigem, reichlich vorhandenem und zuverlässigem russischem Gas.

Dieser Faktor trug dazu bei, die sich verschlimmernden strukturellen Mängel der deutschen Wirtschaft zu verbergen, die durch die gegenwärtige Krise offengelegt werden. In Verbindung mit dem Ende des chinesischen Booms und dem von den USA geführten Wirtschaftskrieg gegen China führt es dazu, dass in Deutschland nun ernsthaft von "Deindustrialisierung" gesprochen wird.

Sollte das tatsächlich eintreten, könnten die politischen, sozialen, kulturellen und psychologischen Folgen katastrophal sein. Denn der Wiederaufbau der deutschen nationalen Identität nach 1945 erfolgte weitgehend auf der Grundlage des "Wirtschaftswunders". Es basierte auf dem Glauben, dass das "Wirtschaftswunder" zurückgeht auf ein überlegenes deutsches Modell der Zusammenarbeit zwischen Kapital und Arbeit sowie einem starken industriebasierten Mittelstand. Wenn der Glaube daran zusammenbricht, könnten wir es mit einer Art nationalem Nervenzusammenbruch zu tun haben.

Ein nicht enden wollender, halb eingefrorener Krieg in der Ukraine würde den wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands – und Europas – sowie die daraus resultierende politische Unordnung drastisch verschlimmern. Vor allem, wenn er mit wiederholten Krisen im Nahen Osten gekoppelt ist, würde er die Wiederherstellung stabiler Energiepreise unmöglich machen.

Ein solcher Konflikt würde unweigerlich in regelmäßigen Abständen zu größeren Kämpfen führen, die möglicherweise neue russische Siege bedeuten. Es bestünde die ständige Gefahr, dass ein unbeabsichtigter Zusammenstoß zwischen Russland und der Nato zu einem Atomkrieg eskalieren könnte. Es dürfte nicht schwer sein, sich vorzustellen, was das für das Vertrauen der Unternehmen in Europa bedeuten würde.

Es gibt eine Tendenz bei US-Amerikanern, sich selbst zu beglückwünschen dafür, Europa im Zuge des Ukraine-Kriegs der US-Strategie unterworfen zu haben. Dabei wird die Bedrohung für Europa und die amerikanischen Interessen unterschätzt.

Die Bedrohung ist, wie beschrieben, überwiegend interner Natur und resultiert aus einem tödlichen Cocktail aus wirtschaftlicher Stagnation, unkontrollierter Migration und politischem Extremismus, der durch den Krieg in der Ukraine noch verschärft wird.

Wenn sich die gegenwärtigen Muster fortsetzen, wird das Ergebnis darin bestehen, Europa sowohl wirtschaftlich als auch politisch zu verarmen.

Wirtschaftlicher Wohlstand und liberale Demokratie in Europa sind eine wichtige Säule des US-amerikanischen Einflusses in der Welt und daher von vitalem nationalem Interesse für die Vereinigten Staaten. Ohne sie wird die eigene wirtschaftliche Macht ernsthaft geschwächt und das Ansehen der Demokratie in der Welt erschüttert werden. Es hat wenig Sinn, dass die USA sich als Führer der Demokratie in Asien präsentieren, wenn diese in Europa zusammengebrochen ist.

Außerdem haben die Vereinigten Staaten zwei Weltkriege und einen Kalten Krieg in Europa geführt, um zu verhindern, dass die großen Volkswirtschaften Westeuropas unter die Kontrolle einer feindlichen Großmacht geraten. Bis vor etwa einem Jahrzehnt hätte sich kein US-Amerikaner träumen lassen, die Ukraine auf diese Weise zu sehen.

Wenn die USA also zu dem Schluss kommen, dass die Ukraine nicht gewinnen kann, sollte Washington im Interesse Europas und seiner eigenen in diesem Land alle Anstrengungen unternehmen, um einen baldigen Frieden herbeizuführen.

Sophia Ampgkarian hat zu den Recherchen für diesen Artikel beigetragen.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).