Perfekter Sturm: Wollen wir die Gesundheit Westeuropas der Ukraine zuliebe opfern?

AfD-Marsch in Berlin am 8. Oktober 2022. Bild: AfD

Die USA riskieren Stabilität ihrer Bündnispartner in Europa. Deutschland steht im Zentrum. Was das für alle bedeuten würde. Gastbeitrag.

Die derzeitige Ausrichtung der US-Politik birgt die Gefahr, dass Westeuropa der Ukraine zuliebe geopfert wird, und die US-Politiker müssen sich dieses Risikos bewusst werden.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute.

Sollte das geschehen, wäre es einer der schlimmsten Effekte in der gesamten Geschichte der US-Strategie. West- und Mitteleuropa, und nicht die Ukraine, sind seit mehr als einem Jahrhundert das Gebiet der tatsächlich zentralen US-Interessen auf dem europäischen Kontinent.

Darüber hinaus würde die Lähmung Westeuropas und der Europäischen Union die realen Chancen der Ukraine auf künftigen demokratischen Wohlstand und Stabilität zerstören, denn diese hängen in erster Linie von den Beziehungen zur EU und nicht zu den Vereinigten Staaten ab.

Alles deutet derzeit darauf hin, dass die ukrainische Gegenoffensive gescheitert ist, mit nur sehr geringen Gewinnen und enormen Verlusten. Angesichts des Gleichgewichts der militärischen und wirtschaftlichen Kräfte zwischen der Ukraine und Russland gibt es auch keinen Grund, auf einen größeren ukrainischen Erfolg im nächsten Jahr zu hoffen.

Angesichts dieser Realität wird von offizieller und inoffizieller Seite immer häufiger davon gesprochen, die Ukraine für einen unbegrenzten Kampf zu bewaffnen und zu unterstützen (obwohl das natürlich angesichts der Opposition der Republikanischen Partei nicht garantiert werden kann). Es wurde eine Analogie zum Fall Israels gezogen, das sich zu einer wohlhabenden und sicheren Quasi-Demokratie entwickelt hat, während es sich in einem Zustand des eingefrorenen Konflikts und ungelöster territorialer Streitigkeiten mit seinen Nachbarn befindet.

Ganz abgesehen von den schrecklichen Ereignissen der letzten Tage gibt es viele Gründe, warum diese Idee absolut unsinnig ist. Dazu gehört die Tatsache, dass, wenn Syrien Russland wäre, Israel nicht Israel wäre.

Mit anderen Worten: Würde Israel nicht an ein marodes und verarmtes Land mit einem Bruchteil seines BIP und seiner technologischen Kapazitäten, sondern an eine Atommacht mit dem Vierzehnfachen seines BIP grenzen, hätte sich Israel mit Sicherheit nicht zu einer erfolgreichen und wohlhabenden Demokratie entwickelt. Es gibt keine Möglichkeit für die USA, die Ukraine in einem Krieg mit offenem Ausgang gegen Russland dauerhaft zu sichern.

Am wichtigsten ist jedoch vielleicht, dass diese Vision die Auswirkungen auf Europa und die Interessen der USA in Europa völlig außer Acht lässt. Das würde nicht viel ausmachen, wenn die europäischen Länder wirtschaftlich erfolgreich und politisch stabil wären, aber das ist immer weniger der Fall.

Im alten Kernland der EU bröckelt die liberal-demokratische Politik. Italien wird von einer radikalkonservativen Regierung regiert. Meinungsumfragen in Frankreich deuten darauf hin, dass Marine Le Pen mit großem Vorsprung gewinnen würde, wenn heute Wahlen stattfinden würden.

In Schweden wird – für jemanden, der den langen, langweiligen Sommer der schwedischen Sozialdemokratie miterlebt hat, fast unglaublich – das Militär um Hilfe bei der Bekämpfung der Gewalt durch eingewanderte Drogenbanden gebeten, und die radikalnationalistischen Schwedendemokraten sind die zweitgrößte Partei.

Vor allem aber ist da Deutschland, ohne das eine stabile und erfolgreiche Europäische Union nicht möglich ist. Wie der deutsche Historiker Tarik Cyrul Amar schreibt:

Deutschlands perfekte Anpassung an die westliche Russland- und Chinapolitik hat einen unheilvollen Preis ... Wir sind davon ausgegangen, dass das erste Land, das unter der wirtschaftlichen Belastung des Krieges um die Ukraine einknickt, Russland sein wird. Was aber, wenn es Deutschland ist, das zuerst strauchelt? Die Deutschen sind gestresst wegen ihrer Wirtschaft, misstrauen ihren Eliten, weil sie ausländische Interessen begünstigen, und sind von den Werten und Methoden der Mitte enttäuscht – ein Bild, das uns nur allzu vertraut ist.

Die Landtagswahlen in Bayern und Hessen in diesem Monat zeigten einen sprunghaften Anstieg der Unterstützung für die rechtsnationalen Parteien Alternative für Deutschland (AfD) und Freie Wähler (FWG). Meinungsumfragen zufolge hat die AfD nun bundesweit die zweitgrößte Unterstützung, hinter den Christdemokraten, die jedoch die Sozialdemokraten auf den dritten Platz verdrängen, und weit vor den Grünen und den Liberalen.

Bisher waren sich alle traditionellen Volksparteien einig, dass sie keine Koalition mit der AfD eingehen wollten. Wenn sie so weitermachen, wird dieser Ansatz angesichts der wachsenden Unterstützung für die Partei jedoch immer weniger durchführbar sein.

Eingefrorener Krieg würde deutschen Niedergang verschärfen

Entweder wird die CDU Regierungskoalitionen mit der AfD eingehen müssen (wie es die Schwesterpartei, die Christlich-Soziale Union, bereits mit den Freien Wählern in Bayern getan hat), oder alle etablierten Parteien werden dauerhafte Koalitionen eingehen müssen, um die AfD von Regierungen fernzuhalten.

Letzteres würde an die letzten Jahre der Weimarer Republik erinnern und mit ziemlicher Sicherheit die radikalen Parteien noch weiter stärken, da Kritiker der Regierungspolitik ohne andere Option wären. Der radikalste Vorschlag ist, die AfD als Neonazi-Partei zu bezeichnen und zu verbieten, aber das würde zu massiven Protesten führen und ihre Anhänger zur Gewalt antreiben. Was auch immer geschieht, Deutschland scheint auf eine längere Periode tiefer politischer Instabilität und Polarisierung zu blicken.

Die Wurzeln der Unterstützung für die AfD und ähnliche Parteien in Europa liegen in der Angst vor der Massenmigration und der Feindseligkeit gegenüber den zentralisierenden (und manchmal herrischen) Tendenzen der Europäischen Union. Ihre Unterstützung hat jedoch durch die sich vertiefende wirtschaftliche Rezession, in die Deutschland durch den Anstieg der Energiepreise infolge des Krieges in der Ukraine gestürzt wurde, stark zugenommen. Der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands in den letzten Jahrzehnten beruhte weitgehend auf billigem, reichlich vorhandenem und zuverlässigem russischem Gas.

Dieser Faktor trug dazu bei, die sich verschlimmernden strukturellen Mängel der deutschen Wirtschaft zu verbergen, die durch die gegenwärtige Krise offengelegt werden. In Verbindung mit dem Ende des chinesischen Booms und dem von den USA geführten Wirtschaftskrieg gegen China führt es dazu, dass in Deutschland nun ernsthaft von "Deindustrialisierung" gesprochen wird.

Sollte das tatsächlich eintreten, könnten die politischen, sozialen, kulturellen und psychologischen Folgen katastrophal sein. Denn der Wiederaufbau der deutschen nationalen Identität nach 1945 erfolgte weitgehend auf der Grundlage des "Wirtschaftswunders". Es basierte auf dem Glauben, dass das "Wirtschaftswunder" zurückgeht auf ein überlegenes deutsches Modell der Zusammenarbeit zwischen Kapital und Arbeit sowie einem starken industriebasierten Mittelstand. Wenn der Glaube daran zusammenbricht, könnten wir es mit einer Art nationalem Nervenzusammenbruch zu tun haben.

Ein nicht enden wollender, halb eingefrorener Krieg in der Ukraine würde den wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands – und Europas – sowie die daraus resultierende politische Unordnung drastisch verschlimmern. Vor allem, wenn er mit wiederholten Krisen im Nahen Osten gekoppelt ist, würde er die Wiederherstellung stabiler Energiepreise unmöglich machen.

Ein solcher Konflikt würde unweigerlich in regelmäßigen Abständen zu größeren Kämpfen führen, die möglicherweise neue russische Siege bedeuten. Es bestünde die ständige Gefahr, dass ein unbeabsichtigter Zusammenstoß zwischen Russland und der Nato zu einem Atomkrieg eskalieren könnte. Es dürfte nicht schwer sein, sich vorzustellen, was das für das Vertrauen der Unternehmen in Europa bedeuten würde.

Es gibt eine Tendenz bei US-Amerikanern, sich selbst zu beglückwünschen dafür, Europa im Zuge des Ukraine-Kriegs der US-Strategie unterworfen zu haben. Dabei wird die Bedrohung für Europa und die amerikanischen Interessen unterschätzt.

Die Bedrohung ist, wie beschrieben, überwiegend interner Natur und resultiert aus einem tödlichen Cocktail aus wirtschaftlicher Stagnation, unkontrollierter Migration und politischem Extremismus, der durch den Krieg in der Ukraine noch verschärft wird.

Wenn sich die gegenwärtigen Muster fortsetzen, wird das Ergebnis darin bestehen, Europa sowohl wirtschaftlich als auch politisch zu verarmen.

Wirtschaftlicher Wohlstand und liberale Demokratie in Europa sind eine wichtige Säule des US-amerikanischen Einflusses in der Welt und daher von vitalem nationalem Interesse für die Vereinigten Staaten. Ohne sie wird die eigene wirtschaftliche Macht ernsthaft geschwächt und das Ansehen der Demokratie in der Welt erschüttert werden. Es hat wenig Sinn, dass die USA sich als Führer der Demokratie in Asien präsentieren, wenn diese in Europa zusammengebrochen ist.

Außerdem haben die Vereinigten Staaten zwei Weltkriege und einen Kalten Krieg in Europa geführt, um zu verhindern, dass die großen Volkswirtschaften Westeuropas unter die Kontrolle einer feindlichen Großmacht geraten. Bis vor etwa einem Jahrzehnt hätte sich kein US-Amerikaner träumen lassen, die Ukraine auf diese Weise zu sehen.

Wenn die USA also zu dem Schluss kommen, dass die Ukraine nicht gewinnen kann, sollte Washington im Interesse Europas und seiner eigenen in diesem Land alle Anstrengungen unternehmen, um einen baldigen Frieden herbeizuführen.

Sophia Ampgkarian hat zu den Recherchen für diesen Artikel beigetragen.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).