Plagiatsvorwürfe und sachfremde Motive: Der Fall Ulrike Guérot
Seite 2: Essay, Streitschrift, Wutbuch: Akademische Kategorien?
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Zumindest einen von beiden hätte sie im Rahmen einer gängigen Zitationsweise jeweils angeben sollen, wenn sie schon selbst Zitatfehler bei Ulrike Guérot bemängelt – zumal in einem Fall durch unterschiedliche Ausgaben sogar Verwechslungsgefahr bestünde.
Stärker ins Auge sticht die Auswahl der Bände: "Republik" nennt die Autorin selbst im Vorwort ein "persönliches Wutbuch", in dem sie sich am Zustand der EU abarbeitet. "Bürgerkrieg" hat schon der Verlag auf dem Cover in die Kategorie "Streitschrift" einsortiert, der Deutschlandfunk Kultur sprach in einer Rezension von "einer Streitschrift im besten Sinne", die "eine gut begründete, leidenschaftlich vertretene Vision" verfechte.
Der gleiche öffentlich-rechtliche Rundfunksender nennt "Wer schweigt" , das sich mit der Corona-Politik befasst, einen "Essay", der "Polemik" enthalte.
Wir stellen also fest: Es geht um politische Bücher, nicht um politikwissenschaftliche. Den Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen Publikation in seinem Fachgebiet und einer "Streitschrift" kennt selbstverständlich auch Politologe Linden, er verweist nämlich in seiner oben angesprochenen Bahners-Rezension genau darauf, dass man von dessen "Streitschrift" nicht das Gleiche erwarten könne wie von einer wissenschaftlichen Abhandlung. Das gilt im Übrigen nicht nur für den Inhalt, sondern auch für die Form.
Wissenschaftliche Relevanz: Guérots Bücher unter der Lupe
Ein Sachbuch, auch ein populärwissenschaftliches, ein meinungsgeprägter Essay, muss nicht dem hohen Standard einer wissenschaftlichen Zitierweise entsprechen.
Die drei Bücher von Ulrike Guérot sind genau das: eine Utopie, eine Vision, eine Polemik, aber keines davon eine wissenschaftliche Publikation im eigentlichen Sinne. An solchen mangelt es in ihrem Schrifttum keineswegs; diese über Jahrzehnte entstandenen Veröffentlichungen finden sich – was auch so üblich ist – vor allem in Form von Sammelbandbeiträgen und Zeitschriftenaufsätzen.
In mehreren Sprachen. Zu den Monographien aus ihrer Feder gehört ihre als Verlagspublikation vorliegende Doktorarbeit. Aber es stehen keinerlei Plagiatsvorwürfe im Raum, die ihre wissenschaftliche Arbeit betreffen. Gefunden hat man nur etwas in Sachbüchern, die für ein breiteres, nicht im engeren Sinne wissenschaftliches, Publikum verfasst worden sind.
Zwischen akademischer Freiheit und politischer Einflussnahme
"Dem von Frau Prof. Dr. Guérot unter anderem vorgetragene [sic!] Einwand, dass es sich bei den relevanten Publikationen nicht um wissenschaftliche Veröffentlichungen handele, sind die zuständigen Gremien nicht gefolgt", teilte die Universität Bonn anlässlich ihrer Entlassung mit.
Dabei ist doch ersichtlich, dass es sich hier um politische Plädoyers und nicht um politikwissenschaftliche Fachliteratur handelt, selbst für den sprichwörtlichen Blinden mit dem Krückstock – wenn er etwas von wissenschaftlicher Literatur versteht.
Auf dieser kontrafaktischen Logik aufbauend behauptet die Universität in selbiger Mitteilung, eines von Ulrike Guérots älteren Büchern, "Republik" oder "Bürgerkrieg", sei "für die Berufung von Relevanz" gewesen. Für die Berufung als Professorin an die Universität können aber keine nichtwissenschaftlichen Werke ausschlaggebend sein, keine Essays, keine politischen Meinungen, keine Facebook-Posts oder Kochbücher.
Es mag durchaus sein, dass sich die Berufungskommission seinerzeit auch wegen ihres Profils als public intellectual für Ulrike Guérot entschieden hat. In der damaligen Stellenausschreibung ("Professur (W2) für Politik in Europa unter besonderer Berücksichtigung der Deutsch-Französischen Beziehungen", Website der Universität Bonn, 01.10.2020), nach außen hin, war von derartigen Anforderungen freilich nicht die Rede.
Formelle und informelle Kriterien
Und selbst wenn man das öffentliche Auftreten einer Bewerberin faktisch in die Bewertung der Personalie einfließen lässt, so gelten doch die Anforderungen an Forschungsarbeiten nicht für Meinungsbeiträge oder die Teilnahme an Podiumsdiskussionen. In einer Talkshow kann man schlecht mit Fußnoten hantieren.
Formale Einstellungsvoraussetzungen waren eine Promotion (siehe oben) und eine Habilitation beziehungsweise deren Äquivalent. Letztere wurde Ulrike Guérot bereits für ihre damalige Professur von der Donau-Universität Krems in Österreich kumulativ zuerkannt – also auf der Grundlage vieler Publikationen, nicht einer einzelnen Habilitationsschrift.
Zu diesem Zeitpunkt waren die drei inkriminierten Bücher noch nicht erschienen. Die Bonner Universität wird schlechterdings nicht behaupten können, stattdessen eine Wut- oder eine Streitschrift ernsthaft als Qualifikationsarbeit gewertet zu haben.
Die handwerkliche Qualität von Debattenbeiträgen in Buchform, die die Politologin Jahre vor ihrer Tätigkeit in Bonn als streitbare öffentliche Person präsentiert hat, geht die Universität letztlich nichts an. Für "Wer schweigt" besteht zumindest ein zeitlicher Zusammenhang, da das Buch im ersten Semester von Ulrike Guérots Arbeitsvertrag als Professorin an dieser rheinischen Hochschule entstanden ist.
Die Grenzen der Wissenschaftsfreiheit im Fall Guérot
Gehört es aber zu ihrem Auftrag, nämlich der "Forschung und Lehre im Bereich der Europapolitik sowie der deutsch-französischen Beziehungen", sich mit einem leidenschaftlichen Appell in die öffentliche Diskussion um die Corona-Politik einzubringen?
Nein, dabei handelt es sich keineswegs um eine Tätigkeit im Rahmen der Forschung, der Lehre oder der akademischen Selbstverwaltung, sondern um Engagement außerhalb ihres Hauptberufs. Es ist daher nicht Sache ihres Arbeitgebers zu beurteilen, ob diese nichtwissenschaftliche Tätigkeit Ulrike Guérots wissenschaftlichen Anforderungen genügen würde.
Gabriele Gysi (Hrsg): Der Fall Ulrike Guérot – Versuche einer öffentlichen Hinrichtung
Westend-Verlag, 8. Januar 2024,
96 Seiten, Klappenbroschur, 14,00 Euro
Artikelnummer: 9783864894503