Politik 2024: Das Jahr der Restposten

Eine Ampel im Mülleimer.

(Bild: DesignRage / Shutterstock.com)

Deutschland steckt in der Krise. Die Ampel hat versagt und hinterlässt ein politisches Trümmerfeld. Was bleibt, sind nur ideologische Restposten einer gescheiterten Regierung.

Nach dem Crash der Ampelkoalition steht Deutschland mies da. Die Bundesregierung hinterlässt Flickwerk, aber kein Konzept. Über verpasste Ziele, Regieren als Nudging und ökologischen Ablasshandel. Der Kanzler als Retro-Pazifist

Es brauchte nicht einen Robert Habeck, um Bescheid zu wissen, dass wir langsam aber sicher in eine Situation schlittern, in der die Gestaltung unseres Konzepts von Wohlsein in einen tödlichen Konflikt mit der Natur ausartet. Auf die Idee war prinzipiell schon der Club of Rome anno 1972 gekommen.

Es tat sich jahrzehntelang nichts, im Gegenteil. Die Autobranche boomte, und sie boomte mit besonderer Billigung und Unterstützung einer autohörigen Politik, die zuletzt – unter anderen Erstaunlichkeiten – durch eine Reihe von Abgasskandalen medienwirksam in Erklärungsnot kam. Weitgehend ohne Effekt freilich, was Einsehen und Verantwortung angeht.

Aber lassen solche Tugenden sich verordnen? Das wäre die andere Frage.

"Gutes Gängeln"

Abseits pragmatischer Hantierungen und Verrenkungen sucht man vergeblich nach einem Begriff von Politik: Nach überparteilichen Zielsetzungen, einem nachvollziehbaren Gesamtentwurf, einer praktikablen Verständigung. Hinter all den Posten, Positionen und Programmzetteln klafft ein leeres Loch.

Bitte nicht noch mehr Herumschrauben an Klimazielen unter Berufung auf Wissenschaft: Politik ist nicht die Vollstreckung von Wissenschaft, sondern ist die Kunst, ein Gemeinwesen zu gestalten - und am besten dem Bürger auch plausibel zu machen, was nottut.

Roberto Simanowski erkannte einen Hang zur Volkslenkung anstelle eines ausgereiften Dialogs und nannte es ironisch "Gutes Gängeln":

Statt eine Zwangsbeglückung durchzuführen, sollte man die Menschen über die Konsequenzen ihres Handelns aufklären, so dass sie selbstbewusst und selbstbestimmt die richtige Entscheidung treffen können.

Roberto Simanowski, Zauberwort Nudging. Lettre International (LI) 125 (Sommer 2019)

Wenig Einsicht

Wenig Einsicht am Horizont: Die gescheiterten Ampelkoalitionäre üben sich auch nach dem Bruch noch in einem Verdrängungswettbewerb, was das angerichtete Fiasko in diesem Land angeht. Ob Mündigkeit zu den Fernzielen gehört? Zweifeln bleibt angebracht. Rechtzeitig vor Weihnachten wurden Steuergelder in Geschenkpapier verpackt (instant gratification). Das Ganze verbunden mit einem ungeheuerlichen Leugnen empirischer Lebensrealität.

Hier ist keine Einsicht, kein Gewicht zu erkennen. Statt Bedeutung seit Jahren eine Art Regierungsstil, welcher sich Strategien der subtilen Nötigung verschrieben hat, phasenweise aber auch den guten Hirten gibt – letzteres garantiert immer dann, wenn es im Getriebe mächtig ruckelt und das Politbarometer bedenkliche Ausschläge zeigt.

Dann werden milde Gaben verteilt, häppchenweise: Hier Bürgergeld, da ein Scherflein präsumtiver Steuererleichterungen, dort ein Püngel Kindergeld, Mindestlohn, Kurzarbeitergeld, während dem Staat substanzielle Einnahmequellen gerade in rekordverdächtigen Ausmaßen wegzubrechen drohen.

"Nudging als Regierungsform"

"Nudging als Regierungsform" nennt das der bereits zitierte Medienwissenschaftler R. Simanowski. Er lehrt unter anderem in Göttingen und Cambridge.

Der Autor sieht in der Stilart, wie moderne Regierungen Menschen manipulieren (vorgeblich Menschen in deren eigenem Interesse "lenken"), auch ein Ergebnis der Institutionalisierung neuartiger Regierungsapparate. Er schreibt:

So wurde in Großbritannien 2010 im Cabinet Office die Nudge Unit geschaffen (wörtlich "Behavioural Insights Team"), im Bundeskanzleramt im März 2015 die Projektgruppe "Wirksam Regieren", in den USA im September 2015 das "Social and Behavioral Sciences Team".

Simanowski, a.a.O., 28

Letzteres wurde allerdings unter Trump, zumindest vorerst, wieder aufgelöst.

Ein Politlabor zur Volksverdummung

Bundeskanzler Scholz, dem im Allgemeinen ein seltsamer Hang zur Unsichtbarkeit nachgesagt wird, tritt sehr gezielt in Erscheinung, wenn es gilt, akute Schlappen auszubügeln und den Wahlbürger bei der Stange zu halten.

So wie neulich, als er vor die erstaunte Öffentlichkeit trat, um zu verkünden, er wolle für "mehr im Portemonnaie" sorgen. Sein Vorschlag: Steuern auf Lebensmittel senken! Wichtig sei, "dass wir etwas sehr Überschaubares machen, was jeder beim täglichen Bedarf jeden Tag merkt".

Nebenbei, ein erstaunlicher Sprachduktus. Die Art der Simplifizierung ("Wer Führung bestellt, bekommt sie bei mir") erlaubt Rückschlüsse auf die Haltung der Projektgruppe "Wirksam Regieren" gegenüber den Zu-Regierenden. Die Bundesregierung rühmt ihr "erstes Politiklabor", man spricht gewichtig von "evidenzbasierter Politik".

Wir Avatare

Strategien der subtilen Nötigung passen ganz ins Bild der Postmoderne mit ihrer Weise, die Umstände so zu gestalten, dass Befürwortung, Einverständnis, letztlich Befolgung "natürliche" (weil alternativlose) Verhaltensformen darstellen. Die Verhaltenskonditionierung ist rechnergestützt, sie nutzt die digitale Logik eines numerischen Populismus, nach Simanowski "die Erweiterung des Zollstocks ins Soziale".

Der Bürger als Avatar der Wohlfühlgesellschaft – billiger und lenkbarer als jemand aus Fleisch und Blut, der möglicherweise noch dazu seinen Verstand benutzt.

Zur Kapitulation der Politik vor der analogen Wirklichkeit (und den oft a-logischen Umständen) gehört ohne Frage das Reich der Abstraktion, in dem rot-grüne Wohlfühlprofis sich eingerichtet haben. Aus den unangreifbaren Höhen der Erkenntnis lässt sich lautstark Öko- und Sozialgymnastik für Ungeübte verordnen.

Die neuen Religionisten

Grüne Religionisten sind, zugespitzt gesagt, die Priester der Säkularisation 2.0. Sie benutzen gern die Kanzelrede, um hippen urbanen Doppelverdienern die Daseinsschuld zu erlassen.

Eine Art ökologischer Ablasshandel, der sich da etabliert hat. Die Klientel - arme Seelen unter einem leeren Himmel - können sich glücklich schätzen über die Aussicht, vom Schmutz der Karbonzeit und vom eigenen schlechten Gewissen befreit zu werden, das bei der Fahrt per Lastenrad zum Bioladen gelegentlich noch aufmuckt.

Unsere Art zu leben, wird hartnäckig weiterhin nicht von der Politik thematisiert. Zumal grüne Politiker behaupten, den nötigen Umbruch (Wandel, Transition, Transformation) mit dem gehätschelten Wohlstand ohne Probleme zusammenzubringen. Das ist ein Denkfehler in nuce (und nebenbei eine gefährliche Illusion).

Im kollektiven Halbschatten ein nicht hinterfragtes Modell von "Demokratie", das heißt von imperialer Lebensweise, die unbedingt mehr Feuerkraft einschließt, wenn Ideale und Realität in Frontstellung geraten.

Das Fehlen eines konsistenten Ethos ist allzu offenkundig. Die exzessive kulturelle Magie von Wachstum und Expansion steht kaum zur Debatte. "Unterhalb der Diskussionsebene" bleiben, gehört zum Stil narzisstischer Charaktere.

Ideale? Restposten!

Die Parteien wedeln mit Restposten einstiger Ideale. "Beim Einkaufen mehr im Portemonnaie haben", "Kämpfen" an der Seite der Arbeitsplätze", das sind Töne aus dem Vakuum. Der Kanzler kapriziert sich auf Taurus-Marschflugkörper und gebärdet sich mit seiner Haltung als Retro-Pazifist.

Da wird hantiert mit abgegriffenen Albumsblättern, es kursieren untote, längst obsolete Standpunkte, unglaubwürdige Selbstzitate ohne Kraft und Originalität.

Im Sub-Raum, unter den aneinandergereihten Geistesblitzen, gibt es kein neues Ethos. Die Kleinen bekommen Marshmallows, die Wirtschaft mal Schelte, mal Milliarden. Ein systemloses Flickwerk aus dem "Politiklabor".

Längst bedroht die zunehmende Unwucht zwischen Staat, Ökonomie und Sozietät den Einzelnen und fällt ihm böse auf die Füße. Ein Großteil fühlt sich in der herbeigewirtschafteten Situation nicht mitgenommen, die perpetuierte Konfusion schwappt auf die Jungen und Jüngsten über, das heißt: zukünftige Staatsbürger.

Im Bann der Illusionen

Alle zusammen bombardiert man mit illusorischen Qualitäten von "Gemeinschaft". Während jeder Fünfte von Armut bedroht ist, die Tafeln unter dem Ansturm zusammenbrechen, das Elterngeld immer weniger wert und Wohnraum unbezahlbar ist, ertönt landauf-landab die Mär vom Schulterschluss, von Zusammenhalt und Seelenverwandtschaft.

Flutkatastrophen, Messerattacken, selbst die Amokfahrt von Magdeburg werden, zusammen mit den Traumata, von Politikern als Anlässe missbraucht, gebetsmühlenartig Gemeinsinn zu beschwören - und damit letztlich von eigenen Versäumnissen, von unsäglichem Versagen, Ignoranz und haarsträubendem Dilettantismus abzulenken. Und von der Tatsache wachsender Einsamkeit im Land der fragmentierten Individuen.

So sitzen wir da, gebannt von der Beschwingtheit grüner Siebenmeilenstiefel und von den Umbauträumen der politischen Klasse. Die Opposition lassen wir mal außen vor. Eine Erkenntnis nach drei Jahren drängt sich aber auf: Der Wirtschaftsstandort ist kein Porzellanladen, den man ohne Folgen durchtrampeln kann. Und seien wir mal ehrlich: Wer hat 2024 in einer schwachen Stunde nicht schon mal mit der Versuchung geliebäugelt, 2025 eventuell noch einen Verbrenner zu kaufen?

Aber dann endgültig der Letzte.