Politikschmiede statt Schwatzbude

Diese Woche treffen sich in Vilnjus/Litauen wieder knapp 2000 Experten zum mittlerweile 5. Internet Governance Forum (IGF) der Vereinten Nationen

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Die Skepsis war groß, als vor fünf Jahren der 2. UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) in Tunis beschloss, ein Internet Governance Forum (IGF) zu gründen. Die Staats- und Regierungschefs gaben dem IGF weder ein Budget noch ein Mandat, bindende Beschlüsse zu fassen. Das sei doch nur wieder eine typische UN-Schwatzbude, hieß es in den Kommentaren (Quatschbude oder Kreativitätstube?). Das IGF sei ein zahnloser Tiger der verdecken solle, dass sich Amerikaner, Europäer und Chinesen nicht einigen konnten, wer denn nun die kritischen Ressourcen des Internet kontrolliert.

Fünf Jahre später sind die Kritiker stiller geworden. Das IGF ist heute sowohl bei Regierungen als auch bei der Privatwirtschaft, der Zivilgesellschaft und der technischen Community als der jährlich wichtigste politische Treffpunkt der weltweiten Internet Gemeinschaft anerkannt und wird mehr und mehr zur Politikschmiede. Es werden zwar nach wie vor keine Beschlüsse gefasst, aber die hochrangige Diskussion zwischen Entscheidern, Betroffenen und Beteiligten, Anbietern und Nutzern von Internetdiensten aller Art erweist sich als eine immer nachhaltiger wirkende Quelle der Inspiration für eine globale Internetpolitik.

Neue Diskussionskultur

Was zunächst als Schwäche des IGF betrachtet wurde - kein Entscheidungsgremium zu sein -, gilt heute als die eigentliche Stärke. Wenn Regierungsvertreter, Unternehmer, Internetnutzer und technische Experten zusammenkommen und unter dem Druck stehen, sich nach vier Tagen auf eine finale Erklärung einigen zu müssen, kann nicht viel rauskommen. Jeder denkt dann nur daran, wie er seine Position in das Abschlussdokument bringt, und am Schluss trifft man sich beim kleinsten gemeinsamen Nenner. Das erschöpft sich im typischen Diplomaten-Blabla mit der noblen Absicht der Weltverbesserung.

Die Befreiung vom Zwang, einer "Deklaration" zustimmen zu müssen, hat demgegenüber den Kopf frei gemacht und die Zunge gelockert, um auch das an- und auszusprechen, was man sich unter Diplomaten meist nur auf Abendempfängen bei einem Glas Wein erzählt. Die Offenheit und Direktheit, mit der beim IGF Konflikte, Defizite und neue Herausforderungen rund um das Internet zur Sprache kommen, hat viele überrascht.

Und mehr noch: Während bei den üblichen Internet-Konferenzen die jeweiligen Gruppen meist unter sich sind und damit zwangsläufig eine einseitige Vorstellung von der komplexen Internetwelt haben, lockt das IGF die verschiedenen Stakeholdergruppen aus ihren isolierten Silos heraus und bringt sie in einen Disziplin- und Statusgrenzen überschreitenden Dialog. Der Minister sitzt mit Internetnutzern an einem Tisch, der CEO eines Unternehmen wird von Parlamentariern nach den Implikationen seiner Strategie befragt, technische Experten klären auf, was man mit Protokollen alles machen kann, und müssen sich Fragen gefallen lassen, warum was geht und was nicht und ob man denn neue Protokolle nicht mehr entlang den realen Bedürfnissen von Nutzern oder Anbietern entwickeln kann, wie z.B. dem Schutz der Privatsphäre in sozialen Netzwerken. Privacy by Design heißt das dann. Dazu werden neuere Themen wie Netzneutralität, Cloud Computing oder das Internet der Dinge auf ihre Risiken und Nebenwirkungen abgeklopft.

Das gefällt nicht allen und manche Würdenträger bevorzugen nach wie vor die Diskussion unter "ihresgleichen" hinter "verschlossenen Türen". Das Aushalten einer Multistakeholder-Debatte ist für viele gewöhnungsbedürftig und es gibt bislang auch noch kein endgültiges Modell, wie die innovative Streitkultur übersetzt wird in praktisch-politisches Handeln. Man lernt im Vorwärtsgehen und mit jedem IGF wächst die Zahl neuer Ideen.

ICANN z.B. blockierte 2006 eine Diskussion über das Management von Domain Namen und IP-Adressen. Das war dumm und hat sich mittlerweile gewandelt. ICANN hat begriffen, das es von diesem Dialog nur profitieren kann und an Respekt und Legitimität gewinnt, wenn es sich der kritischen Diskussion stellt und dann auch entsprechend reagiert.

Der ägyptische Kommunikationsminister - das 4. IGF fand 2009 in Sharm el Sheikh statt - hat z.B. kürzlich gesagt, dass die Einführung des arabischen Ländercodes in der ägyptischen Top-Level-Domain wohl noch lange gedauert hätte, wäre nicht vom IGF Druck auf ICANN ausgeübt worden, die Einführung der "internationalisierten Domain Namen" (iDNs) zu beschleunigen. Das IGF hat sicher auch einen Anteil daran, dass die Obama-Regierung 2009 ICANN in die Unabhängigkeit entlassen hat. Dieses Jahr wird nun über den 2011 auslaufenden IANA-Vertrag diskutiert werden, der der US Regierung noch immer die letztendliche Verantwortung einräumt, über die Einspeisung oder Löschung von Root-Zone-Files im Internet-Root zu entscheiden. Eine offene und transparente Debatte über dieses heikle Thema aber ist allemal besser als ein neuer Deal hinter verschlossenen Türen. Und es ist sicher kein Zufall, das Andrew McLaughlin, stellvertretender CTO (Deputy Chief Technology Officer) im Weißen Haus in Washington, ehemals ICANN-Vizepräsident und Google-Chefjustitiar, höchstpersönlich nach Vilnjus kommt.

Auch andere Internet-Themen, die Regierungen lieber "unter sich" besprechen würden wie die ACTA-Verhandlungen zum Schutz des geistigen Eigentums oder die Fragen von Sicherheit der Internet-Infrastruktur, die im 1. Komitee der UN-Vollversammlung behandelt werden, können von einer offenen und kritischen Diskussion beim IGF profitieren. Die ITU täte zum Beispiel gut daran, sich einer ähnlichen kritischen Beobachtung unterziehen zu lassen wie ICANN.

Das Europäische Parlament hat sicher seine guten Gründe, warum es gleich dreizehn Abgeordnete nach Vilnjus schickt, müssen doch die meisten Themen früher oder später von der Volksvertretung diskutiert werden. Auch die EU-Kommissarin Neeli Kroes reist nach Vilnjus. Fast alle UN-Organisationen, die OECD, der Europarat, die OSZE und knapp 80 Regierungen sind vertreten, neben den Hunderten von Vertretern der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft und der technisch-akademischen Community, Allein die Chinesen kommen mit 40 Mann.

Nicht nur Regierungspolitik steht beim IGF auf dem Prüfstand, es sind auch die Praktiken der Internetunternehmen wie Google, Facebook, Microsoft, Skype, Cisco & Co. die alle mit hochrangigen Delegationen nach Litauen reisen.

Das Unverwechselbare am IGF ist die eigenartige Mixtur von Themen und Teilnehmern. Das hat auch die seit dem 2. IGF 2007 in Rio de Janeiro aktiven "Dynamischen Koalitionen" am Leben erhalten und einige davon weiter "dynamisiert" wie die "Dynamische Koalition zu den Rechte und Prinzipien des Internet" die in Vilnjus nun einen ersten Vertragsentwurf vorlegen will.

IGF als Laboratorium, Clearinghouse und Watchdog

Doch nicht allen gefällt die Offenheit, Transparenz und Direktheit. Die chinesische Regierungsdelegation hat seit dem 1. IGF 2006 in Athen (Eine Erfindung für die Globalpolitik), als Zensurpraktiken in China offen diskutiert worden, ein eher distanziertes Verhältnis zum IGF. 2009 hatte China daher vorgeschlagen, dass 2010 auslaufende Mandat des IGF nicht zu verlängern und durch einen zwischenstaatlichen Verhandlungsprozess zu ersetzen. Die Chinesen konnten sich nicht durchsetzen. Der zuständige UN-Generalsekretär Ban Kin Moon hat erst kürzlich empfohlen, das Mandat für das IGF bis 2015 zu verlängern.

Das heißt aber nicht, dass das IGF bleibt, wie es ist. Vorschläge zur Weiterentwicklung zielen darauf, das IGF stärker zu einem Politik-Laboratorium zu machen, zu einem "Clearinghouse", das klärt, wer wofür wie zuständig ist. Das IGF könnte auch eine "Observatorium" sein, das Entwicklungen kritisch beobachtet oder ein "Scout" der ausfindig macht, was denn die nächsten Internetprobleme sind auf dem Weg in die noch unbekannten Welten des Cyberspace. Es hat das Potential einer Art "Schule". wo man von anderen lernt. und eines "Watchdogs". der aufpasst, dass nichts schief läuft.

Andere wiederum möchten dem IGF stärker in die UN-Bürokratie einbinden, es "beschlussfähig" machen, das IGF-Sekretariat von Genf nach New York verlegen, und den Einfluss der Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft in der "Multistakeholder Advisory Group" (MAG), die die Jahreskonferenzen vorbereitet, zugunsten des Regierungen zurückdrängen.

Im November dieses Jahres wird die UN-Vollversammlung die Details des zukünftigen Mandats des IGF diskutieren. Dort wird sich dann zeigen, welche Wurzeln das innovative Multistakeholder-Modell mittlerweile geschlagen hat. Noch ist das IGF ein Experiment. Es steht für eine neue Diplomatie zur Lösung globaler Probleme im 21. Jahrhundert. Es kann aber auch leicht zwischen globalpolitischen Machinteressen wieder zerrieben werden.

IGF und Deutschland

Die deutsche Bundesregierung hat sich langsam, dafür jüngst umso nachdrücklicher mit dem Multistakeholder-Modell des IGF angefreundet. Auf eine Anfrage der SPD-Abgeordneten Zypries im Deutschen Bundestag hatte die Bundesregierung im Februar 2010 ein klares Bekenntnis zum IGF abgegeben. Beim 2. IGF-Deutschland im Juni 2010 in Berlin hatten sich erstmals fünf Bundestagsabgeordnete und drei Bundes- und Landesminister dem Dialog mit der deutschen Internet Community gestellt. Die im Mai 2010 gegründete Enquete Kommission "Internet und Digitale Zukunft" des Deutschen Bundestages, die breite öffentliche Debatte über den Schutz der Privatsphäre bei Google Street View und die Diskussion zur Bekämpfung von Kinderpornographie im Netz haben da sicher zu einer höheren Sensibilität für das Internet und seine Probleme im politischen Berlin beigetragen (Internet Governance in Deutschland).

Deutschland ist beim IGF 2010 erheblich stärker vertreten als 2006, wobei vor allem der Verband der deutschen Internetwirtschaft (eco) und die deutsche Zivilgesellschaft profiliert auftreten. Politische deutsche Schwergewichte kommen weniger aus Berlin, wie die Europaabgeordnete Sabine Verheyen (CDU) aus Aachen oder die Leipzigerin Erika Mann, die 15 Jahre für die niedersächsische SPD im Europäischen Parlament saß und erst jüngst ins ICANN-Direktorium gewählt wurde.

Immerhin aber findet in Vilnjus der beim 2. IGF-D begonnene Dialog seine Fortsetzung. Fünf Bundestagsabgeordnete, die Mitglieder der Enquete-Kommission sind und im Juni 2010 beim IGF-D auf einem Panel saßen, treffen sich diesmal wieder in einem virtuellen Diskussionsraum zwischen Berlin und Vilnjus. Da in der IGF-Woche gerade die Haushaltsberatungen des Bundestages anstehen, war es für die MdBs schwierig, nach Vilnjus zu fahren. So machte man sich die Möglichkeiten des Internet zu Nutze und wird einen Internet-gestützten Dialog mit der in Vilnjus präsenten deutschen Internet-Community führen, um dem Rest der Welt zu demonstrieren, dass es in Deutschland zumindest nicht am guten Willen fehlt, über alles, was mit dem Internet gut und schief läuft, wenigstens zu reden.

Wolfgang Kleinwächter ist Professor für Internet Politik und Regulierung an der Universität Aarhus und Special Adviser des Vorsitzenden des IGF. Er äußert hier seine persönlichen Ansichten.