Politischer Aschermittwoch: Streaming ist kein Biertisch
102 Jahre nach seiner Entstehung hat das Format den Großteil seiner früheren Reize eingebüßt
Am Tag nach dem Faschingsdienstag gibt es in Niederbayern drei Traditionen: Den Kirchgang mit Aschenkreuz, ein in sein Gegenteil verkehrtes Fasten mit Fisch- und Käsespezialitäten - und den Politischen Aschermittwoch. Letzterer ist eine Tradition, die der Bayerische Bauernbund - eine Partei, die sowohl dem katholischen Zentrum als auch den Sozialdemokraten skeptisch gegenüberstand - nach dem Ersten Weltkrieg begründete. Sie nutzte die Tatsache, dass sich an diesem Tag viele Bauern zum Viehmarkt im niederbayerischen Vilshofen trafen, für politische Reden. Diese Reden vor Bauern und Rossknechten mussten inhaltlich und formal anders gestaltet sein als die vor städtischen Eliten, weil das Publikum häufig angetrunken war und sich ungern mit Pathos langweilen ließ.
Die wahren Aschermittwochsreden finden sich außerhalb der Parteien
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm zuerst die Bayernpartei diese Tradition auf. Ihr folgte 1953 die CSU, die die Veranstaltung vor allem durch die unterhaltsamen Reden von Franz Josef Strauß zu einem bundesweit registrierten Medienereignis machte. Die anderen Parteien sprangen ab 1965 nach und nach auf den Zug auf und imitierten die Veranstaltung in verschiedenen Städten.
102 Jahre nach ihrer Entstehung ist die Tradition 2021 an einer Art Endpunkt angekommen: Es gibt zwar noch Politikerreden - aber die finden nur mehr vor Kameras und nicht mehr vor einem biertrinkenden Präsenzpublikum statt. Und die Volksnähe, die im 20. Jahrhundert zumindest bei manchen Rednern noch einen echten Kern hatte, wirkt heute auch wegen einer weit fortgeschrittenen Dialektferne durchwegs künstlich, anbiedernd und peinlich, wie Hans Kratzer in der Süddeutschen Zeitung sehr zutreffend feststellte. Die wahren Aschermittwochsreden finden sich längst auf Facebook und Telegram - zum Beispiel vom Marktler Fahrlehrer Hans-Jürgen Eder, der es mit seinen viralen Wutausbrüchen gegen die Coronapolitik bis in die Bild-Zeitung schaffte.
Fan-Paket für 19,90 Euro
Da half es auch nichts, dass die CSU die Reden des "genius loci" wegen aus Passau übertrug, wo sie Pappfiguren aufgestellt und auf Videoleinwänden Wohnzimmern zugeschaltet hatte. In diesen Wohnzimmern saßen Anhänger, die für 19,90 Euro ein "Fan-Paket zum Politischen Aschermittwoch 'dahoam'" erworben hatten, das aus vier CSU-Fähnchen, zwei Flaschen Bier, einem Krug "im Aschermittwochs-Look", zehn Bierfilzln und einer Tröte bestand. Das Missverhältnis aus zehn Untersetzern und zwei Flaschen erinnerte - wahrscheinlich ungewollt - ein wenig an die Folgen des nun schon mehr oder weniger ein Jahr lang andauernden Lockdowns. Und wer am Aschermittwochvormittag 2021 Zeit hatte, unbezahlt vor dem Bildschirm zu sitzen, der hatte diese Zeit vielleicht auch wegen der wirtschaftlichen Folgen der Anti-Corona-Maßnahmen der deutschen Staatsführung.
Zu der gehört über das neu eingeführte virtuelle Exekutivgremium "MPK" auch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, der mit Aussagen wie "Olaf Scholz hat eher die Begabung, Blutdruck zu senken, als ihn steigen zu lassen", versuchte, in die Fußstapfen von Franz-Josef Strauß zu treten. Aber anders als Strauß teilte Söder nur dort aus, wo kein Gegenwind mächtiger Medien zu erwarten ist. Bei den Grünen hielt er sich dagegen zurück. Der harmlosen Spitze, dass der CSU-Chef "lieber Bäume umarmt als Hofreiter", könnten wahrscheinlich sogar viele Wähler der Ökopartei zustimmen.
Söder: "Merkel-Stimmen gibt's nur mit Merkel-Politik"
Söder ist kein Franz Josef Strauß - was aber nicht heißen muss, dass seine politische Karriere bald endet. Ein Helmut Kohl blieb mit ähnlichen rhetorischen Fähigkeiten 16 Jahre lang Bundeskanzler. Ein Posten, den Söder ebenfalls einnehmen könnte, wenn ihn die Union nominiert. Sein zugeschalteter Konkurrent Armin Laschet ließ das offen, als er meinte, die CSU sei "eine wichtige politische Kraft in ganz Deutschland" und sie und die CDU stünden "eng beieinander". Söder wiederum meinte, "jeder, der glaubt, Merkel-Stimmen im September zu bekommen", müsse wissen: "Merkel-Stimmen gibt's nur mit Merkel-Politik."
Söders potenzieller Koalitionspartner, die Grünen, heißen in Skandinavien "Miljöparteien". Das liegt daran, das Miljö das dortige Wort für "Umwelt" ist, passt für die deutschen Grünen aber auch in einem anderen Sinne: Sie werden vor allem von einem bestimmten Milieu gewählt, das sich vom traditionellen Aschermittwochspublikum absetzt. Dieses Milieu findet sich eher in Großstädten als auf dem Land - und so nutzten die Grünen die Coronagelegenheit gleich, um sich aus Niederbayern zu verabschieden und ihre Aschermittwochsreden aus der Muffathalle in München zu streamen.
Baerbocks Rede wurde vorher aufgezeichnet
Kern ihrer Verlautbarungen war der Wille zur Macht: Sie wollen nicht nur metapolitisch den Ton angeben, sondern auch personell, um ihre "Visionen und Leidenschaft in alle Winkel Bayerns und Deutschlands zu tragen", wie es der in Köln geborene bayerische Landesvorsitzende Eike Hallitzky formulierte. Die formaterfahrene bayerische Landtagsfraktionsvorsitzende Katharina Schulze griff die Coronapolitik des potenziellen Koalitionspartners Söder eher stilistisch als inhaltlich an. Letzteres hätte auch seltsam gewirkt, weil ihre Fraktion ja alle Lockdownbeschlüsse mit getragen hat.
Neben Hallkitzky, Schulze, Claudia Roth, Winfried Kretschmann, Anne Spiegel, Robert Habeck und Annalena Baerbock ließen die Grünen auch ihren Bundestagsfraktionschef Anton Hofreiter zu Wort kommen. Der versuchte mit Verweisen auf "Artenvielfalt" und "Lebensgrundlagen" indirekt seine umstrittenen Ausführungen zu den aus grüner Sicht unerwünschten Einfamilienhäusern zu verteidigen.
Die grüne Hauptrednerin Baerbock hatte ihre Rede vorher aufzeichnen lassen. So konnten sie und ihre Parteifreunde sicherstellen, dass sie weder erzählte, das Stromnetz würde Strom speichern (vgl. Grüne Lösung der Stromspeicher-Frage - oder doch eher Verwechslung?), noch, dass es in Batterien "Kobold" gibt. Auch über "Feinheiten" im politischen System konnte sie deshalb nicht stolpern. Entsprechen blass blieb ihre Rede, in der sie unter anderem meinte, sie sei ein "riesengroßer Nena-Fan", aber "Irgendwo, irgendwie, irgendwann", sei "die falsche Platte" für die Politik.
Rechnet Scholz mit Spahn?
Kritischer als bei den Grünen ging man mit Söder und deutschen Staatsführung bei seinem Noch-Koalitionspartner um, den Freien Wählern. Bei ihnen meinte Parteichef Hubert Aiwanger, der Lockdown sei eine "Holzhammermethode" und mit entsprechenden Schutzvorkehrungen hätte man die Geschäfte offen lassen können, ohne dass es zu mehr Ansteckungen gekommen wäre. Gebe es nach der Bundestagswahl keine bürgerliche Perspektive aus Union, FDP und Freien Wählern, dann drohe eine Ära der Verbote.
Die SPD, die aus dem Wolferstetter Keller in Vilshofen streamte, hatte sich für ihre Aschermittwochsveranstaltung den Hashtag "#bayDir" ausgedacht (oder ausdenken lassen). Ihre bayerische Landesvorsitzende Natascha Kohnen lieferte in ihrer Rede weniger inhaltlich als formal eine Erklärung dafür, warum sie ihren Posten bald abgeben muss. Ob das dem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz nach der Bundestagswahl ebenfalls blüht, ist noch offen. Er scheint damit zu rechnen, dass er bei der Bundestagswahl nicht gegen Markus Söder oder Armin Laschet, sondern gegen Jens Spahn antritt. Zumindest konzentrierte er seine Kritik auf diesen CDU-Politiker.
Die FDP hatte für ihre "Bierzeltgefühl"-Pakete, die sie verschickte, (anders als die CSU) kein Geld verlangt, sondern Fotos oder Videos, auf denen die Empfänger den imaginierten Sprechern zuprosten sollten. Ihr Chefredner Christian Lindner kritisierte unter anderem das Impfversagen der Politiker in Berlin und Brüssel, während er das Biontech-Serum als "Triumph über schwarz-grüne Ideologien" lobte.
Für die Linke forderte der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow die Wiedererrichtung einer Eisenbahnlinie zwischen Prag und Erfurt und bei der AfD Warf Gottfried Curio der Bundesregierung eine sprachliche und statistische Manipulationen vor, um von Missständen abzulenken.
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