Polizeibeamte wegen Tod eines Flüchtlings vor Gericht – war Rassismus im Spiel?

Demonstration unter dem Motto "Justice for Mouhamed" im November 2022 in Dortmund. Foto: C.Suthorn / CC-BY-SA-4.0 / via Wikimedia Commons

Wie Mouhamed Dramé in Dortmund den Tod fand, warum er zweifach stigmatisiert war – und warum der Rechtsstaat mit auf der Anklagebank sitzt. Ein Kommentar.

Rund 500 Tage nach den tödlichen Polizeischüssen auf den jungen Senegalesen Mouhamed Lamine Dramé in Dortmund müssen sich seit Dienstag fünf der insgesamt über zehn am Einsatz beteiligten Beamten der Dortmunder Nordwache vor Gericht verantworten.

Diskutiert wurde in diesem Zusammenhang sowohl über Rassismus in Polizeikreisen, als auch über den Umgang mit psychisch kranken Menschen in Ausnahmesituationen, für den die Einsatzkräfte nicht oder nicht ausreichend geschult sind.

Mouhamed, ein Jugendlicher mit (vermutlich) suizidalen Absichten, der sich in der Ecke eines Innenhofs kauernd, ein Messer an den Bauch hielt, wurde mit einer ganzen Flasche Pfefferspay, zwei Anwendungen mit dem Taser und nur 0,7 Sekunden danach mit sechs Schüssen, wovon ihn fünf trafen, begegnet. Dies ist ein Beispiel für eine Eskalation in psychischen Notsituationen, die schlechter nicht hätte enden können.

Solidaritätskreis Justice4Mouhamed

Dem Hauptangeklagten wird Totschlag vorgeworfen

Der Schütze Fabian S., der direkt nach einem misslungenen Taser-Einsatz Mouhamed Dramé mit einer Maschinenpistole erschoss, ist wegen Totschlags angeklagt. Er hat seit dem Einsatz nicht mehr als Polizist gearbeitet, ihm drohen bis zu zehn Jahren Gefängnis. Zwei Polizistinnen und ein Polizist im Alter von 29 bis 34 Jahren sind wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt angeklagt.

Ihnen wird in einem Fall der ungerechtfertigte Einsatz von Pfefferspray und in zwei weiteren Fällen der ungerechtfertigte Einsatz von Distanzelektroimpulsgeräten (Taser) zur Last gelegt. Ihrem 55-jährigen Einsatzleiter Thomas H. wird vorgeworfen, sie zu gefährlichen Körperverletzungen im Amt angestiftet zu haben.

Kritische Berichterstattung

Das Medieninteresse war von Anfang an groß. Es war die Rede von tödlicher Staatsgewalt und von strukturellem Rassismus; manche Stimmen gingen so weit, von einem rassistischen Polizeimord zu sprechen.

Nun sorgt der Start der Hauptverhandlung erneut für Schlagzeilen. Am Dienstagabend berichteten die ARD-Tagesthemen in ihrer Abendsendung ausführlich, wobei auch Stimmen der Hinterbliebenen zu Wort kamen, die dabei auch explizit den Vorwurf des Rassismus an die Adresse der Polizei richteten.

"Wir in Afrika verstehen das als Rassismus"

Mouhamed Dramé, Flüchtling aus dem Senegal, er stammt aus dem Heimatdorf Ndiaffate, ist tot. Er wurde 16 Jahre alt. Sein Vater Lamine und sein ältester Bruder Sidy Dramé reisten vor Prozessauftakt nach Dortmund, besuchten den Ort des Geschehens. Sidy positionierte sich in den ARD-Tagesthemen unmissverständlich:

Die Art und Weise, wie man Mouhamed getötet hat … Wir in Afrika verstehen das als Rassismus der deutschen Polizisten. Das, was sie gemacht haben, ist inakzeptabel.

Sidy Dramé, Bruder des Getöteten

Dabei wird erneut deutlich: Nach dem tragischen Vorfall vom Sommer vorigen Jahres geht es letztlich um mehr als nur um juristische Aufarbeitung. Der Fall Dramé steht exemplarisch für das Pech eines Menschen anderer Hautfarbe, in einer Ausnahmesituation der Polizei zu begegnen.

Schon früh wurde hier die Frage der Verhältnismäßigkeit beim Vorgehen der Einsatzkräfte aufgeworfen. Und notwendigerweise wurde und wird in dem Zusammenhang das Thema Rassismus erörtert.

Ein Drama mit Vorlauf

Einer von uns? Ganz sicher nicht. Mouhamed Dramé war aus dem Senegal nach Deutschland gekommen und gerade erst sieben Tage in Dortmund; er fühlte sich einsam und überfordert und hatte bald wegen psychischer Not auf sich aufmerksam gemacht.

Nach einem kurzen Aufenthalt in der LWL-Klinik in Dortmund (einer Klinik für Psychiatrie und Prävention vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe) wurde er rasch wieder entlassen. Dann nahm das Unheil seinen Lauf.

Am Nachmittag des 8. August 2022 befand sich Mouhamed, wie vielfach berichtet, im Innenhof der katholischen Jugendhilfeeinrichtung St. Elisabeth in der Dortmunder Nordstadt. Dort hielt er sich – man vermutet eine suizidale Absicht – ein Küchenmesser vor den Bauch. Das Messer diente später bei der Behauptung einer polizeilichen Notwehrlage eine entscheidende Rolle.

Dennoch kamen bald beträchtliche Zweifel auf, ob die Lage tatsächlich so war, dass hier ein Angriff mit gezückter Stichwaffe auf Polizisten erfolgte, wie es Innenminister Herbert Reul eilends verkündet hatte.

Fast alles hat in diesem Fall mit Eile zu tun

Wurde hier vorschnell Stimmung gemacht? Nahezu alles im Fall Dramé hat in irgend einer Form mit Eile zu tun.

Über den Hergang des stümperhaften Polizeieinsatzes an jenem Augusttag 2022, soweit Einzelheiten Zug um Zug bekannt wurden, berichtete auch Telepolis in Folge. Es waren zwölf Personen im Einsatz.

Woher die Hast, die unerklärliche Unduldsamkeit? Wieso feuern Polizisten ohne Warnung mit Taser und nur 0,7 Sekunden später mit der Maschinenpistole auf eine einzelne Person in einer offensichtlich prekären Lage?

"Vorrücken und einpfeffern!"

Hektische Funksprüche belegen das Tempo der Eskalation. "Vorrücken und einpfeffern! Das volle Programm, die ganze Flasche". Aus vier Metern Entfernung sprühte eine am Einsatz beteiligte Polizistin die Pfefferspraydose halb leer.

Offenbar ohne den gewünschten Effekt. Zwei Beamte schießen mit dem Taser in Richtung Unterleib von Mouhamed. Nur 0,7 Sekunden darauf fallen die Schüsse aus der MP des Sicherungsschützen, der am Zaun postiert ist: wie es heißt, aus drei Metern Distanz.

Keiner der Zeugen hat gesehen, dass Mouhamed das mitgeführte Küchenmesser "mit nach vorne gestreckter Armhaltung" hielt, so die Staatsanwaltschaft. Auch sei Dramé "zu keinem Zeitpunkt aufgefordert worden, das Messer abzulegen". Fünf der sechs abgefeuerten Schüsse treffen ihn tödlich. Mouhamed stirbt kurz darauf im Krankenhaus.

"Sicherheit und Ordnung" mit Todesfolge?

Die Polizei versuchte den Hergang als Angriff zu schildern. Jedoch, die Zweifel wiegen schwer und kommen nicht von ungefähr. So stellte bereits der leitende Staatsanwalt Carsten Dombert frühzeitig fest, der Einsatz sei "unverhältnismäßig" abgelaufen, jenseits einer Notwehr- oder Nothilfelage.

Die Einsatzkräfte hätten in Wahrheit eine statische Lage vorgefunden und diese dann selbst mit ihrer fehlgelaufenen Einsatztaktik eskaliert.

Derart fragwürdige Einsatzkonzepte (soweit man hier von einem Konzept sprechen kann) wie das vom 8. August 2022 zeigen einen bestürzenden Mangel an Alternativen. Aber es geht auch um das Verständnis von "Sicherheit und Ordnung". Um Waffengebrauch, den Gebrauch von Tasern, um Strategien in unübersichtlichen Situationen, die aus der Norm fallen.

Defizite in der Polizeiarbeit

Das lenkt den Blick auf strukturelle Probleme. Die von den Einsatzkräften als Bedrohungslage offenkundig falsch gewertete Situation kostete einen jungen Flüchtling das Leben und lässt seine Familie in Trauer, Zweifel und Unfrieden zurück. In der Öffentlichkeit mehren sich Zweifel an der Professionalität der Akteure: Was stimmt nicht bei der Polizei?

Rafael Behr ist Kriminologe an der Polizeiakadamie Hamburg. Er mahnt an, es müssten unterschiedliche Interventionsmöglichkeiten trainiert werden. Es geht, sagt er, um Menschen in Notsituationen. Nicht nur den Angreifer sehen!

Gefragt sei der flexible Umgang mit psychisch Labilen. "Trainieren" ist das Stichwort. Nur was trainiert wurde, kann im Ernstfall auch funktionieren.

Unsichtbare Frontlinien

Einsatztraining ist aber nicht das einzige Defizit, das der Fall offenbart. Die Polizeiarbeit könnte noch weiteren Nachholbedarf haben. "Es gibt 1.000 Mouhameds", hieß es auf dem Banner einer Mahnwache, das Protestierende am Todestag des Opfers im August vorzeigten.

Das lenkt den Blick auf den Personenkreis, dem Mouhamed angehörte. Wie die taz berichtete, haben in der Dortmunder Nordstadt 55 Prozent der Bewohner:innen keinen deutschen Pass; da geht es auch um unsichtbare Frontlinien, um Unwissenheit und Entfremdung. Als nichtweißer Mensch mit psychischen Problemen gehörte Mouhamed gleich zwei stigmatisierten Gruppen an.

Seit dieser Woche nun gibt es eine neuen und überfälligen Akt im Drama Mouhamed. Nur zwei Prozent aller Anzeigen gegen Polizeibeamte kommen überhaupt zu einer Anklage: Von daher ist der Prozessbeginn in Dortmund eine gute Nachricht. Bis zu einem Urteil gilt die Unschuldsvermutung. Am 10. Januar 2024 wird der Prozess um den Tod von Mouhamed Dramé fortgesetzt.