Nach Exekutivgewalt, die Schädel deformiert: Polizeichef wettert gegen U-Haft

Französische Ant-Riot-Einheit in Paris. Bild (2017): Kristoffer Trolle / CC BY 2.0

Polizeibeamter wegen Gewaltvorwurf hinter Gittern. Generaldirektor der Nationalen Polizei in Frankreich will Justiz Grenzen setzen. Warum uns die wachsende Tendenz zur autoritären Politik beunruhigen muss.

Viele schlafen gerade schlecht in Paris. Das liegt nicht weniger an den vom Klimawandel radikalisierten Temperaturspitzen – die Hitzewellen sind sowieso einer Regenfront gewichen – es ist ein anderes Phänomen, ein politischer Klimawandel, der viele umtreibt: Es handelt sich um die wachsende Tendenz zu autoritärer Politik.

Zu deren Grundkonstanten zählt, dass die staatliche Exekutivpolitik sich der Kontrolle ihrer Handlungen durch Justizorgane zu entziehen sucht. Ob in Italien unter der postneofaschistischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die eine Entmachtung der Richterinnen und Richter anstrebt.

Ob im vom Neoautoritarismus geprägten Tunesien oder unter der rechts-rechtsextremen Regierung in Israel mit ihrer berüchtigten Justizreform (Wie lange gibt es noch Demokratie?). Ähnliche, jedenfalls vergleichbare Tendenzen sind am Werk.

In Frankreich braucht es keine rechtsextremen Parteien an der Regierung – bislang sind diese jedenfalls in der Opposition –, um vergleichbare Bestrebungen zum Ausdruck kommen zu lassen. Es genügt die Polizei.

Ein Mann schläft besonders schlecht in diesen Tagen. Es handelt sich um ein so genanntes "hohes Tier". Nämlich den Generaldirektor der nationalen Polizei (DGPN), Frédéric Veaux. Ihn beraubt die Vorstellung bzw. das Wissen darum, dass derzeit ein Polizist in Untersuchungshaft sitzt und auf seinen Prozess wartet, der nächtlichen Ruhe: "ça m’empêche de dormir" ("Es hält mich vom Schlaf ab").

Dies dachte er nicht etwa im Stillen bei sich, sondern er ließ es umgehend wissen und verbreiten und begab sich dafür auch - Gluthitze im Süden hin oder her - am vorigen Wochenende von Paris nach Marseille. Am Montag waren seine Aussagen dann auch in der Tageszeitung Le Parisien allgemein zugänglich.

Dort vertritt er die Auffassung, ein beschuldigter Polizist habe "vor einem eventuellen Prozess" "nicht seinen Platz im Gefängnis".

Dies erregte heftige Kritik aus Linksparteien und in Medien, wo man ihm entgegenhielt, der oberste Repräsentant der Polizeihierarchie mische sich in die Arbeit der Justiz ein.

Worum geht es?

Gegen fünf Polizisten läuft derzeit ein Strafverfahren, weil ihnen vorgeworfen wird, in Marseille am Rande der fünftägigen heftigen Unruhen einen daran unbeteiligten 22-Jährigen mit dem Vornamen Hedi "zusammengeschlagen und ausgeraubt" zu haben. Wie sehr der Schädel des jungen Mannes von den Polizeiknüppeln deformiert wurde, zeigt der durch die Schlageinwirkungen deformierten Schädel, den die Öffentlichkeit gestern Abend in einem TV-Interview zu sehen bekam.

Insgesamt gibt es im Zusammenhang mit den jüngsten Riots im Raum Marseille drei mutmaßliche Opfer ungerechtfertigten polizeilichen Handels: neben Hedi auch den durch ein Gummigeschoss getöteten 27-jährigen Mohamed B. – er hatte nächtlich vor seiner Haustür mit dem Handy gefilmt und wurde tot unter seinem Mofa aufgefunden – und dessen Cousin Abdelkarim, 22, ihm wurde ein Auge ausgeschossen.

Unter den fünf Polizeibeamten, gegen die im Fall "Hedi" ermittelt wird, stehen vier unter Justizauflagen bis zu ihrem Prozess – diese dürfen sich nicht untereinander kontaktieren, um Absprachen zu verhindern -, und der fünfte wurde vorläufig in U-Haft genommen.

Juristisch gilt für ihn die Unschuldsvermutung, zugleich sieht die Strafprozessordnung vor, dass eine Untersuchungshaft verhängt wird, wenn schwerwiegende und übereinstimmende Hinweise vorliegen, dass die Vermutung alsbald in einem Strafprozess widerlegt werden könnte.

Bei einer richterlichen Kontrolle wurde dies für den Polizeibeamten bejaht, überdies kam der Richter zu der Auffassung, dass das Risiko von Absprachen mit anderen Tatbeteiligten hoch sei.

Dies wiederum schmeckt zahlreichen Polizeimitgliedern nicht, die als bewaffnete Staatsvertreter zwar kein Streikrecht besitzen, seit nunmehr einer Woche zunächst in Marseille, mittlerweile landesweit in den Bummelstreik traten. Code562, "Dienst nach Vorschrift", heißt die Parole.

Von Nizza bis Paris verlangsamte sich die Tätigkeit auf den Polizeiwachen, wo mitunter Opfer von Straftaten kaum oder gar nicht mehr in der Lage sind, noch Strafanzeige zu erstatten.

Mittlerweile wurde im Raum Paris bereits ein drastischer Rückgang der Aktivität der Justiz vermeldet: Innerhalb einer Woche sank die Anzahl der mutmaßlichen Straffälligen, die nach ihrer polizeilichen Vernehmung einer Staatsanwältin oder – in schwereren Fällen – einem Haftrichter vorgeführt werden, um ein Verfahren zu eröffnen, um fünfzig Prozent.

Innenminister Gérald Darmanin schweigt dazu beharrlich. Er erklärte lediglich zu Anfang der polizeilichen Protestbewegung, dass er "großes Vertrauen" in seinen Generaldirektor der Polizei habe.

Also den Mann, der derzeit nicht schlafen kann. Der Minister stellte sich faktisch vor ihn. Der Pariser Polizeipräfekt Laurent Nunez beeilte sich seinerseits, in einer Twitternachricht den Mann zu unterstützen.

Macron: "Ordnung, Ordnung, Ordnung"

Auch dessen oberster Chef Emmanuel Macron nahm dazu Stellung, vom Westpazifik aus, wo er sich Anfang dieser Woche aufhielt. Nein, nicht auf der Flucht. Sondern auf Präsidentenbesuch in Neukaledonien, einem dort gelegenen französischen "Überseegebiet".

Macron hielt von dort aus, in sicheren 15.000 Kilometern Entfernung von Paris, am Montag eine TV-Ansprache an die französische Bevölkerung. Zum strittigen Thema blieb er jedoch eher kryptisch. Auf der einen Seite forderte er als Antwort auf die jüngsten Unruhen "Ordnung, Ordnung, Ordnung".

Andererseits erklärter er, eher allgemein formulierend: "Niemand steht über dem Gesetz".

Bei ähnlichen Gleichgewichtsübungen blieb auch seine Regierungschefin Elisabeth Borne. Die in ihrem TV-Interview am Mittwochabend ein dickes Lob an die Polizei mit der Bemerkung verband, die Justiz müsse "ihre Arbeit tun" können.

Polizeigewerkschaft: Besonderer Rechtsstatus für Polizeibedienstete

Die als rechtslastig bekannte Polizeigewerkschaft Alliance – eine der beiden stärksten Berufsorganisationen französischer Polizistinnen und Polizisten – fordert nunmehr einen besonderen "Rechtsstatus für Polizeibedienstete", der etwa dafür sorgen soll, dass im Prinzip keine Untersuchungshaft (beim Verdacht auf schwerwiegende Straftaten) verhängt werden darf, sondern nur Auflagen wie eine Meldepflicht.

Polizisten, die sich zu Aussagen verabreden? Nicht doch, sind ja doch keine ordinären Straftäter!

Das Ausgehen des Tauziehens ist ungewiss. Doch ist fest damit zu rechnen, dass einer Organisation wie Alliance – nicht nur ein Berufsverband, sondern daneben eine einflussreiche politische Lobby und ein Wirtschaftsimperium, denn die Organisation handelt Rabatte für Zehntausende Polizeikunden direkt mit Handelsketten und Wirtschaftsunternehmen aus und dafür handfeste Zugeständnisse erhält.

Rechte und Rechtsextreme applaudieren dazu längst.