Populistische Ablenkungsmanöver
Vor einem entscheidenden Budgetgipfel streiten die EU-Politiker über überhöhte Beamtengehälter. Über milliardenschwere Agrarsubventionen und den anachronistischen Briten-Rabatt redet dagegen niemand
Brüssel war immer schon eine Projektionsfläche für positive wie negative Utopien. Für die einen ist die EU-Kommission an der Place Schuman eine Art Avantgarde für die "Vereinigten Staaten von Europa", die irgendwann aus der EU entstehen könnten.
Für die anderen ist die Brüsseler Behörde ein Ort der Finsternis, an dem anonyme, von niemandem gewählte Eurokraten die deutschen Steuerzahler ausplündern und entmündigen - Stichwort Gurkenkrümmung und Glühbirnen-Verbot (übrigens eine deutsche Idee).
Die Bundesregierung hat sich aus diesem Glaubensstreit bisher herausgehalten - mit gutem Grund. Schließlich profitiert Deutschland, der (in absoluten Zahlen) größte EU-Nettozahler, auch am meisten von den Mitgliedsländern der Union. Selbst die Eurokrise spülte noch Geld in deutsche Kassen.
Doch nun kommen plötzlich ganz andere Signale aus Berlin. Kanzlerin Angela Merkel fordert, Arm in Arm mit dem britischen Premier David Cameron, harte Einschnitte in der EU-Verwaltung. Um ihre Forderung zu untermauern, haben beide den angeblich absurd hohen Einkommen der EU-Beamten den Kampf angesagt.
So richtig ausgesprochen hat dies allerdings nur Cameron. In Brüssel gebe es Dutzende Beamte, die mehr verdienen als er, der britische Premier, mokierte sich Cameron schon beim ersten Sondergipfel zum EU-Rahmenbudget 2014 bis 2020 Ende November in Brüssel. Merkel war das damals nur ein paar süffisante Witze wert - und das vage Versprechen, Cameron zu helfen.
Wie viel verdienen EU-Beamte?
Doch nun macht die Kanzlerin ernst. Wohl nicht ganz zufällig kurz vor dem zweiten, womöglich entscheidenden Budgetgipfel, der am Donnerstag dieser Woche in Brüssel beginnt, antwortete die Bundesregierung auf eine Anfrage des FDP-Bundestagsabgeordneten Frank Schäffler. Der hatte sich nach den EU-Beamtengehältern erkundigt - was er von der Regierung als Antwort enthielt, hat es in sich.
"Tausende EU-Beamte verdienen mehr als Merkel", berichtete die "FAZ" über den Befund aus Berlin. Die "Welt am Sonntag" wollte es genauer wissen und rechnete nach. 4.365 Beamte sollen demnach mehr abkassieren als die Kanzlerin. Dummerweise ist weder das Salär der Kanzlerin genau bekannt, noch lässt sich das Nettogehalt der Brüsseler Spitzenverdiener exakt bestimmen.
Das hängt nämlich nicht nur von der Herkunft des Beamten, sondern auch von seinen Familienverhältnissen ab. Die einen kassieren Weihnachtsgeld, Kindergeld, Auslandszuschlag, die anderen nicht. Zudem müssen die Beamten in der EU Pensionsrückstellungen von 11,6 Prozent leisten, in Deutschland dagegen nicht.
Und so hatte die Kommission leichtes Spiel mit ihren Kritikern: "Kein einziger EU-Beamter verdient mehr als Frau Merkel", konterte ein Sprecher keck.
Kommissions-Vizepräsident Maroš Šefčovič legte sogar noch nach und verteidigte die Privilegien mit dem Hinweis, die EU wolle "die Besten" anziehen und müsse dabei mit anderen internationalen Organisationen wie UNO oder IWF konkurrieren. Europa sei angewiesen auf "gute Spezialisten, die den Konzerngiganten der Welt gegenübertreten können und den Top-Bankern, die mit absolut unvergleichbaren Gehältern nach Hause gehen".
Wer hat Recht? Das lässt sich schwer sagen, denn die Kommission weigert sich, konkrete Beispiele zu nennen, an denen man die Nettobezüge überprüfen könnte. Stattdessen verweist die Brüsseler Behörde, die übrigens nicht viel größer ist als die Kölner Stadtverwaltung, darauf, dass sie Gehaltskürzungen zwischen 20 und 45 Prozent bei bestimmten Gehaltsgruppen vorgeschlagen habe.
Die Sparpläne machen sich bereits bemerkbar - aus Protest legten am Dienstag einige hundert EU-Beamte die Arbeit nieder. Bei neuen Kürzungen wäre man nicht mehr in der Lage, "neue EU-Gesetze zu entwerfen und durchzusetzen", heißt es in einer Erklärung der Personalgewerkschaft. Die nationalen EU-Diplomaten verdienten mindestens genauso viel wie die Behördenmitarbeiter, heißt es in Brüssel.
Nachprüfen lässt sich auch das nicht, denn wenn es um ihre eigenen Leute geht, verweigern die Regierungen (auch die deutsche) die Auskunft.
Doch letztlich geht die Kritik am Brüsseler "Schlaraffenland" (der deutsche Steuerzahlerbund) ohnehin am Kern des Problems vorbei. Schließlich machen die Verwaltungskosten aller europäischen Institutionen, wozu neben der Kommission auch Ministerrat und Europaparlament zählen, nur 5,87 Prozent des gesamten EU-Budgets aus - ein Klacks im Vergleich zu den großen Posten für die EU-Agrarsubventionen oder für die Strukturpolitik.
Zwar lassen sich durchaus gute Gründe dafür finden, die Beamtengehälter zu kürzen. Schließlich verordnet die EU-Kommission ja auch immer mehr Ländern harte Sparprogramme - da sollte sie selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Doch mit Camerons oder Merkels Salär hat das nichts zu tun. Die Beamtenbezüge direkt mit dem Gehalt der Kanzlerin zu vergleichen, ist nicht viel mehr als ein "populistischer Angriff" (SZ), der von den eigentlichen, harten Verteilungsfragen ablenken soll.
Europaparlament will sich weiteren Kürzungen widersetzen
Welche Fragen das sind, wurde in der Budgetdebatte am Dienstag im Europaparlament in Straßburg deutlich. So attackierte der grüne Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit die Agrarsubventionen, die vor allem großen Konzernen zugute kämen, nicht aber den kleinen Bauern. Der Chef der konservativen EVP-Fraktion, Joseph Daul, eigentlich ein Parteifreund Merkels, warnte, die EU-Chefs riskierten erstmals in der Geschichte ein Budgetdefizit - weil sie der EU immer mehr Aufgaben aufbürden, jedoch gleichzeitig die Einnahmen zusammenstreichen.
Und der Chef der Sozialdemokraten, Hannes Swoboda, kritisierte, dass für den erst im Juni groß angekündigten "Wachstumspakt" kein Geld da sei. Einig waren sich alle Fraktionen in der Drohung, das EU-Budget abzulehnen, wenn der Gipfel - wie von Cameron und Merkel verlangt - weitere Kürzungen durchsetzen sollte. Diese Drohung ist durchaus ernst zu nehmen, denn ohne die Zustimmung der Abgeordneten kommt kein neues Rahmenbudget zustande.
Die EU-Kommission hatte im Sommer 2012 einen Haushalt in Höhe von gut einer Billion Euro vorgeschlagen. Auf deutsch-britischen Druck hin war dieser Entwurf im November bereits um 80 Mrd. Euro gekürzt worden. Nun fordern Merkel und Cameron, die sich am Sonntag telefonisch abgestimmt haben, weitere Einschnitte. Dem Vernehmen nach dürften sie - neben der EU-Verwaltung - vor allem Energie- und Infrastrukturprojekte treffen.
Das wären dann genau jene Zukunftsfelder, die Merkel und Cameron bisher immer hochgehalten haben. Die umstrittenen Agrarsubventionen hingegen, von denen auch deutsche Bauern in Merkels Heimat Mecklenburg-Vorpommern profitieren, sollen ebenso erhalten bleiben wie der anachronistische britische EU-Rabatt, der einst von Margaret Thatcher mit der Handtasche erkämpft wurde.