Prekariat auf Abwegen

Seite 2: Hochmotivierte Flüchtlinge gegen faule Langzeitarbeitslose

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Dieser Eindruck mag falsch sein, verwunderlich ist er nicht. Um diese Wahrnehmung nachvollziehen zu können, muss man sich nur Quantität und Qualität öffentlicher Aussagen von Politikern und Journalisten aus dem linken Meinungsspektrum zu Flüchtlingen einerseits und dem einheimischen Prekariat andererseits anschauen. Großen Teilen der - im weitesten Sinne - Linken ist ihre traditionelle Zielgruppe verloren gegangen: aufstiegs- und bildungsorientierte Arbeiter. In ihrer Wahrnehmung besteht die "neue Unterschicht" überwiegend aus ungebildeten und faulen Arbeitslosen sowie prekär Beschäftigten, deren Arbeitsleistungen am Markt leider nicht viel wert sind. Da kommen die Flüchtlinge als neue Klientel gerade recht.

Vielleicht ist die vielzitierte Aussage der Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckhardt zur Flüchtlingswelle: "Wir kriegen jetzt plötzlich Menschen geschenkt" auch in diesem Sinne zu verstehen. Die Attribute, die "den Flüchtlingen" anfangs zugeschrieben wurden, waren durchwegs positiv. Das Attribut mit dem kürzesten Verfallsdatum war "hochgebildet". Weitgehend unbeschadet gehalten haben sich bis heute: "jung", "ehrgeizig", "hochmotiviert" und "übernormal gesund" (O-Ton: Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery).

Der Kontrast zu den als ungebildet, unmotiviert, kränklich und zu alt imaginierten Langzeitarbeitslosen könnte kaum größer sein: "sozial Schwache", deren relative Armut auf ihre eigenen Unzulänglichkeiten zurückzuführen ist, hier; echte Arme, die nur durch äußere Umstände an einer Bilderbuchkarriere gehindert wurden, dort. Endlich haben Göring-Eckhardt, die Sanktionen gegen Arbeitslose einst als "Bewegungsangebot" bezeichnete, und ihre Gesinnungsgenossen wieder Klienten, die ihren Einsatz verdienen. Zudem wissen sie die Arbeitgeber bei ihrem Einsatz auf ihrer Seite, können diese doch hochmotivierte Mitarbeiter, die auch gerne für Hungerlöhne arbeiten, immer gut gebrauchen.

Echtes Interesse an den Elenden und Verfolgten dieser Erde sieht anders aus, doch tut der Exotismus-Faktor sein Übriges. Der "edle Wilde" kommt als unbeschriebenes Blatt ins Land und bietet damit eine ideale Projektionsfläche für Ängste und Sorgen wie auch für Wünsche und Sehnsüchte. Angehörige diverser Milieus können in die Flüchtlinge genau jene Eigenschaften hineinprojizieren, die sie zu Menschen wie ihresgleichen machen.

So freut sich Göring-Eckhardt als Kirchenfrau, dass Deutschland nun "religiöser, bunter, vielfältiger und jünger" werde. Sabine Rückert, stellvertretende Chefredakteurin der "Zeit", empfindet "Glück" beim Gedanken an "diese vielen jungen, zuversichtlichen, nicht selten begabten und ehrgeizigen Menschen", die nach Deutschland strömen und sie an jene usbekische Familie (Vater Journalist, Mutter Ärztin) erinnern, die 2012 ein paar Wochen lang bei ihr wohnte und sich inzwischen in eine "neue deutsche Familie" verwandelt habe, den vorbildlichen Integrationsanstrengungen der Stadt Hamburg zu Dank: "Sprachkurse für alle, Kindergärten, Förderklassen, eine schöne, große Wohnung in einem guten Viertel."

Und das Hipster-Magazin "bento", ein Spiegel-Online-Ableger, hat unter den Flüchtlingen vor allem die Hipster lieb, "Hipster wie wir", wie es in der Bildunterzeile zu einem Artikel über eine "syrische Hipster-WG in Altena" heißt. Was zählt, sind die Gemeinsamkeiten: "Sie sind nicht so, wie Flüchtlinge nach Ansicht vieler Menschen sein müssen: arm, ausgezerrt (sic!), verstört. Wenn in Deutschland plötzlich Krieg ausbrechen würde, dann sähe ich als Flüchtling wahrscheinlich genauso aus, denke ich."

Solche selbstgerechten Projektionen mögen für den Einzelnen ihren Zweck erfüllen: Selbstbestätigung und ein gutes Gefühl. Die penetrante Beschallung der Öffentlichkeit mit solchen Lobhudeleien bringt jedoch zwei Probleme mit sich: Zum einen verstärkt sie die im Prekariat ohnehin weitverbreitete Überzeugung, von "denen da oben" veräppelt zu werden, wenn sich beispielsweise herausstellt, dass "die Syrer" doch nicht so hochgebildet sind wie versprochen und dass auch längst nicht alle Flüchtlinge hochmotiviert sind.

Zum anderen führt sie den Abgehängten einmal mehr die Verachtung vor Augen, die die "besseren Kreise", einschließlich ihrer vormaligen Interessenvertreter, für sie empfinden. Dieses Gefühl wird nicht einfach verschwinden, wenn die Flüchtlingsströme abebben, so wie die Verachtung und Ausgrenzung nicht verschwindet. Das Nach-unten-Treten haben die Armen in unserer Gesellschaft nicht exklusiv. Entsolidarisierung ist keine Erfindung der AfD, sondern längst Realität.