Primitive, destruktive Willkür: Die neue Ordnung ist schlimmer als die alte
- Primitive, destruktive Willkür: Die neue Ordnung ist schlimmer als die alte
- Das System zieht das eiserne Gehäuse noch enger zu
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Arm gegen reich: Der Nacht der Abrechnung folgt eine Gesellschaft der Angst: Michel Francos "New Order"
Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand anfängt, sich in die Regel umzuwandeln.
Giorgio Agamben
Die ersten Bilder sind fragmentarisch, eher ein fantastischer Vorschein des Kommenden als ein Geschehen: Ein Mädchen steht da zwischen modernen Steinwänden, fast nackt und mit grüner Farbe übergossen. Ein Krankenhaus in dem das Chaos regiert. Eine Ecke, in der viele Tote übereinandergestapelt liegen. Die Farbe Grün dominiert.
Chaos herrscht in dem Film in gewisser Weise von Anfang an. Paranoia. Was genau los ist, ahnt man nicht. Aber auch an unsere Pandemie kann man bald denken.
Gar nicht so weltfremd, verdorben und trotzdem noch Illusionen
"New Order" ("Nuevo Orden") der neue Film des Mexikaners Michel Franco ist ein Film über unangenehme Menschen und über das Unangenehme im Menschen. Es gibt kaum sympathische Charaktere.
Am ehesten sympathisch und auch sonst zur Identifikationsfigur taugt Marianne (gespielt von der Newcomerin Naian Gonzalez Norvind). Sie ist eine Art Hauptfigur, ein Mädchen aus stinkreichem Haus, wohlerzogen und gutmütig, gar nicht so weltfremd, aber verdorben von Eltern, die eiskalt und reaktionär sind und sich trotzdem noch Illusionen machen.
New Order - Die neue Weltordnung (6 Bilder)
Marianne ist das Mädchen der ersten Bilder, die wir erst später besser verstehen. Man lernt sie auf ihrer eigenen Hochzeitsfeier kennen, zwischen Verwandten, Freunden, Dienstboten. Aber was ist das eigentlich genau für eine Hochzeit? Eine jüdische? Marianne hat jedenfalls kein weißes Brautkleid an, sondern ein rotes.
Das macht es für die Zuschauer leicht, ihr im Durcheinander der Personen zu folgen, und sieht schön aus, im Kontrast zu den braunen Wänden, dem Grün des Gartens. Erst recht, als plötzlich grünes Wasser aus der Leitung läuft. Nur kurz. Aber irgendetwas ist passiert.
Nüchterner Blick auf die Verhältnisse des Klassensystems
Der Film hat, wie Marianne, einen nüchternen Blick auf die Verhältnisse. Er verklärt auch die Armen nicht, das wird später noch klarer. "Ist das ein Prozent der Bestechungsgelder, die er von Papa bekommen hat", - so kommentiert die Tochter das Hochzeitsgeschenk eines Geschäftspartners ihres Vaters.
In solchen kurzen Dialogen und Szenen lernen die Zuschauer eine durch und durch moralisch verworfene, kulturell dekadente Familie kennen und ihre Freunde. Der Film zeigt ganz gut, wie diese Leute sind, wie sie sich benehmen, auch gegenüber den Dienstboten. Da ist selbst in den kleinsten Gesten viel Wissen um das existierende Klassensystem und um die Sprache der Gesten, die feinen Unterschiede.
Irgendwann im Laufe des Tages kommt ein langjähriger Dienstbote der Familie. Er bittet um Hilfe. Ausgerechnet jetzt (kein guter Zeitpunkt) bittet er um 200.000 Pesos, die er für eine Operation seiner Frau braucht. Das Geld, nach heutigem (11.08.21) Kurs immerhin 8.500 Euro, bekommt er nicht, obwohl die Familie sich das gut leisten könnte.
Marianne versucht, ihm das Geld zu geben, aber sie kommt nicht so schnell an Bargeld. Alle anderen sind komplett unverantwortlich: der Bruder, der zukünftige Ehemann, ihre Eltern sowieso. Also fährt Marianne dem Diener hinterher, um ihre Kreditkarte einzusetzen. Das ist konstruiert, aber warum nicht?
Dialektisches Ineinanderwirken zweier Elemente
Bald danach wird die Villa überfallen, auch einzelne Dienstboten schließen sich quasi unmittelbar den Eindringlingen an. Nicht wie Menschen, die frei entscheiden und wissen, was sie tun, zugleich unsicher und tastend agieren; sondern wie Tiere, die Instinkten folgen, die automatengleich umso ruhiger und konsequenter agieren. Wie in Trance.
Man raubt, plündert, zerstört, verwundet, demütigt, tötet - ein Hauch der Manson-Family, einer vollkommen sansculottischen, primitiven, destruktiven Willkür kommt spätestens dann auf, als sie "Putos Ricos" und "Vera tu Dios" an die Wände schmieren.
Großartig ist, wie explizit hier viele Dinge sind - zwar nicht im Vergleich zu B-Movies und klassischem Horrorfilm, aber sehr wohl im Vergleich zum protestantischen Hollywood-Kino. Dieser Film ist nicht sauber, sondern schmutzig.
Nach der Abrechnung
Was dieser Nacht der Abrechnung folgt, ist das Portrait einer Gesellschaft der Angst. Ein paar Tage lang kann niemand seines Lebens sicher sein. Es herrscht an der Oberfläche komplette Anarchie. Tatsächlich kommt schnell heraus: Die randalierenden Massen sind von Teilen der Obrigkeit entfesselt worden. Unter anderem soll die Macht bestimmter rivalisierender Familien - auch die Mariannes - gebrochen werden. Und wer genau hingesehen hat, oder sich den Film zweimal ansieht, dem fällt auch auf, dass manch einer die Hochzeit (zu) früh verlässt und bedacht ist, dass das auch seine Kinder und seine Frau tun.
Marianne, die zunächst bei der Familie eines Angestellten Unterschlupf findet, sich aber angesichts der Umstände immer noch komplett naiv verhält, wird von Soldaten entführt und mit vielen anderen in irgendeiner abgelegenen, zu einem Konzentrationslager umgebauten Kaserne gefangengehalten, um Lösegeld zu erpressen.
Der Film zeigt eine Weile ihr Leben dort und das ihrer Mitinsassen sowie parallel die allmähliche Beruhigung (Normalisierung?) draußen und die Bemühungen, sie zu befreien.
Volkstribunen und Staat Hand in Hand
"New Order" ist nicht zuletzt auch präzises Beobachtungskino, wenn wir an das Mexiko der Drogenkartelle denken, die selbstverständlich Bündnisse und Stillstandabkommen mit Politik, Polizei und Militär geschlossen haben.
Korruption und Verrat auch unter den Eliten gibt es nicht nur in diesem Film. Und nicht nur in Mexiko. Insofern ist dieser Film auch universal, sowohl in seiner Beschreibung revoltierender, anarchischer, destruktiver Massen, als auch eines Ausnahmezustands, der von den Autoritäten verhängt und mit brachialer Gewalt durchgesetzt wird.
Vor allem aktuell interessant und facettenreich in ihren gedanklichen Konsequenzen ist aber das dialektische Ineinanderwirken beider Elemente: eines Ausnahmezustands, der von Massen "erzwungen" wurde, die genau darum entfesselt wurden, um ihn auslösen zu können, einer autoritären Reaktion, die genau darum von irgendwelchen Volkstribunen und Querdenkern provoziert wurde, um ihnen selber in die Hände zu spielen. Armee/Polizei wie Wutbürger/Regimekritiker sind in beiden Fällen dumme, willige Spielmasse.
Das innere Prinzip der souveränen Macht, ist der Gewalt eine Form zu geben, die sie zugleich auf nichts verpflichtet und nicht einschränkt. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben ("Das nackte Leben") beschreibt dies treffend:
Der Naturzustand und der Ausnahmezustand sind nur zwei Gesichter des topologischen Prozesses, in dem wie beim Möbiusband oder bei der Leidener Flasche das, was man als das Äußere (Naturzustand) angenommen hat, nun im Inneren (Ausnahmezustand) erscheint, und die souveräne Macht ist gerade diese Unmöglichkeit des Unterscheidens des Äußeren und des Inneren, des Beispiels und der Ausnahme, physis und nomos.
Agamben, "Homo Sacer"
Das was hier "Naturzustand" genannt wird ist der "spontane" Aufstand gegen das Recht und anarchische Rechtlosigkeit, das was "Ausnahmezustand" genannt wird ist der Aufstand der Institutionen gegen das Recht, durch seine Suspension durch den Souverän. ("Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet."; Carl Schmitt).
Michel Franco zeigt in seinem Film Zonen der dynamischen Ununterscheidbarkeit von Barbarei und Terror auf beiden Seiten der Ordnung. Die "Neue Ordung" ist die, in der die Grenze zwischen Ordnung und Unordnung aufgelöst wurde, zwischen Normalität und Unnormalität. Souveränität und Anarchie stehen in einem korrelativen Verhältnis.