Primitive, destruktive Willkür: Die neue Ordnung ist schlimmer als die alte

Seite 2: Das System zieht das eiserne Gehäuse noch enger zu

"Nuevo Orden", "Neue Ordnung" heißt dann nicht nur die irgendwann oberflächlich wiedergewonnene Stabilität, sondern eine neue Form des Arbeitens und Lebens, sowie dazugehörig eine neue Form der Überwachung.

Das System zieht das eiserne Gehäuse über die Existenzen der Menschen noch enger zu. Selbst die Mächtigen sind in vieler Hinsicht die Gefangenen der Strukturen und Institutionen. Und hinter der Rede von dieser "neuen Ordnung" hört und sieht man heute auch: "neue Normalität".

Bild: @ Teorema

Ein universales Misstrauen macht sich Platz. Da muss man sich einfach nur verstecken vor den Institutionen und ihren Vertretern, vor Polizei und Armee. Man darf ihnen nicht trauen; man kann ihnen nicht trauen. Das Mindeste, was sie tun, ist ihrer Willkür freien Lauf zu lassen - unnötig zu sagen, dass das mit unseren Verhältnissen in Europa natürlich ganz und gar nichts zu tun hat.

Wenn man das Genre beschreiben will, dann wohl trifft Paranoia-Polit-Thriller am ehesten. Michel Franco zeigt Mexiko als die Klassengesellschaft, die es ist. Ein Land, das einen Schritt über den Abgrund hinaus ist. Moral: Traue keinem.

Abgründig kritisch

Das wird nicht allen gefallen. Dieser Film ist herrlich destruktiv und abgründig kritisch. Dass er keinen Trost spendet, ist sein Kapital. Dass man allen und allem zu misstrauen lernt. Manchmal auch sich selber.

Dies ist wenigstens ein Film, kein bebildertes Manifest; keine Wohlfühl-Fabrik; kein Film, in dem sich der Bildungsbürger in uns selber zurücklehnen und an den Leiden in anderen Kontinenten und in anderen Schichten ergötzen können und daran, dass sie selbst überall das erhaben sind. Kein Film, in dem man es sich mit der eigenen Amoral bequem machen kann.

Franco inszeniert den Exzess. Kurz, hart, zynisch - ohne alle Hoffnung. Ohne Überraschungen, ohne deus ex machina, aber in einer seltsamen Schönheit, die in der Unverfrohrenheit und handwerklichen Souveränität des Regisseurs liegt. Allerdings ohne Poesie, ohne Lust. Der Exzess ist ein negativer, depressiv und nihilistisch. Franco genießt es auch, Faschismus zu inszenieren - aber er inszeniert ihn ohne die Ästhetik des Faschismus, ohne die Ästhetisierung der Macht - sondern eher als Inferno, als De Sade-sche Phantasie totaler Willkür.

Es gibt kein richtiges Handeln, nur Glück und den Zufall

Das Ganze ist selbstverständlich auch eine bürgerliche Paranoia, ein Szenario, das unbewusste Ängste der herrschenden Klassen ins Bild setzt. Und wer aus Europa wäre nicht im Weltmaßstab Teil der herrschenden Klasse?

Man könnte durchaus argumentieren, dass der Film politisch rechts steht. Denn die Geschichte ließe sich auch so erzählen: Das kommt dabei heraus, wenn man den Armen helfen möchte. Und: Die Willkür des barbarischen Mobs auf der Straße ist noch schlimmer als die Barbarei einer stählernen Ordnung.

Aber das stimmt ja nicht. Das ist ja eine sehr oberflächliche Lesart. Denn tatsächlich überlebt Marianne den Überfall auf ihr Elternhaus genau dadurch, dass sie den Armen helfen wollte und deswegen das Haus verließ.

Es gibt kein richtiges Handeln hier, weder moralisch noch taktisch zur Überlebenssicherung. Es gibt nur das Glück und den Zufall. Auch die Familie bietet keinen Trost. In Francos Film gibt es drei Mütter. Die eine wird gleich erschossen. Die zweite gehängt. Die dritte rät ihrem Sohn, als dessen Braut nach vier Wochen Verschwinden noch nicht wieder aufgetaucht ist, sie doch langsam zu vergessen. Dass diese Mutter damit sogar richtig liegt, macht das alles nicht besser.

In seiner Beschreibung der Willkür setzt "New Order" unbewusste Ängste ins Bild. Die Härte, die Kälte und die Coolness dieses Filmemachens kann man mit der des Österreichers Michael Haneke ("Das Weiße Band") vergleichen. Aber bei Franco ist - zum Guten wie zum Schlechten - mehr Engagement spürbar. Es gefällt ihm weniger als Haneke, das zu zeigen, was er zeigt.