Prinzessin Tamara und die letzte Front
Über den neuen Gebrauchswert des analogen Groschenromans im Internet-Zeitalter
Dass Medienprodukte auf den Medienmärkten überleben, hat etwas damit zu tun, dass sie den Lesern etwas bieten, was dieser wünscht. Die Kommunikationswissenschaft hat das unter den sogenannten "uses-and gratification"-Ansatz gefasst, der danach fragt, was der Leser mit dem Medium macht und woraus er seine "Belohnung" zieht. Auf Deutsch kann man für diesen Komplex auch Gebrauchswert sagen und danach fragen, woher kommt denn der Wert, für den der Leser etwa - bei Groschenheften - bereit ist, 1,80 Euro hinzulegen. Und man kann danach fragen, warum das immer weniger bei der Tageszeitung für notwendig halten.
Dabei zieht sich das Triviale wie ein breiter Strom durch die (Medien)Geschichte, das Seichte und Leichte, das Einfache und Komische, das Rührselige und Oberflächliche ist der gesuchte Balsam für die Seelen der "Massen", also der Arbeiterschaft und anderen subalternen Klassen. Geradezu in irrwitziger Geschwindigkeit breitet sich in den 1950er Jahren das Fernsehen in diesen Arbeiterhaushalten aus und die Anschaffung eines Kühlschranks, einer Waschmaschine oder gar eines Telefons rangierte weit hinter dem Bedürfnis nach Unterhaltung, nach Erleben, nach der Welt. Ein Bedürfnis, das parallel zur eigenen begrenzten Welt des Acht-Stunden-Tages, der Enge der Wohnung und überhaupt des vielfach fremdbestimmten Lebensgangs stand. Klassenlage und Medienkonsum waren eng miteinander verknüpft.
Juchh - Juchh - Juch! Bummm - Bummm - Bummm! Der Iwan greift mit dem Panzer an oder warum die Ostfront wieder aktuell ist - Groschenroman Teil 4
Und was sagt uns das heute über die Leser der Heftromane? Wurde denn das Bildungsniveau in Deutschland nicht permanent angehoben - die Zahl der Hauptschulabgänger sank bis 2016 auf rund 31,4 (2008: 39,3) Prozent, während die Zahl der Schüler mit Fach/Hochschulreife auf 30 Prozent stiegt (2008: 24,2)? Und ist denn die Zahl der schmutzigen und körperlich anstrengenden Jobs in der Industrie nicht deutlich zurückgegangen? Und bieten die vielen öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehkanäle nicht einen fast unendlichen Nachschub an Unterhaltung und das auch noch flankiert von Angeboten im Internet? Nicht zu sprechen von den Angeboten einer urbanen Unterhaltungsindustrie, die von Comedy bis Rockkonzert, von Krimilesung mit Abendessen bis zur 88. Filmreihe zum Kino in Papua-Neuguinea so ziemlich alles zu bieten hat? Und wieso ist dann der Groschenroman noch immer eine kleine, schlichte, analoge Insel im Meer von Full-HD-Spektakeln?
Medialen Verteidigungslinien gegenüber dem drohenden Abgrund der Digitalisierung
Vielleicht verbirgt sich hinter dem Bergpfarrer und Toni, dem Hüttenwirt, hinter Prinzessin Tamara von Herzberg und Chefarzt Dr. Norden, hinter dem Fürsten-Schicksal und der Tochter des Wilderers eine Massenverweigerung gegenüber einer Moderne, die gerade dabei ist, "disruptiv" die alte Welt zu "granularisieren", und während der Hüttenwirt noch gar nicht weiß, dass ein "Chatbot" kein Kochtopf ist, dort der nächste völkerrechtswidrige Krieg gemeldet wird. Dann wäre der Konsum von Groschenheften sozusagen eine widerständische Aktion all derer, denen das Disruptive und Granulare nicht am Arsch vorbei, sondern gefühlt an die Gurgel geht. Ein Rückzug in die festen Mauern des Heimat- und Liebesromans, während draußen die lärmenden Truppen und Heerscharen der Modernisierer vorbeiziehen, vorne weg hoch erhoben das Smartphone als gottgleiche Monstranz und unter den rhythmischen Geraune von magischen Beschwörungsformeln: "Industrie 4.0", "Industrie 4.0", "Industrie 4.0".
Während es mittlerweile Entgiftungskliniken für Kinder mit Internet-Sucht gibt, gibt es auch ein Segment der Gesellschaft, in dem man sich das Recht auf Nichtverzweiflung auch über den Groschenroman nimmt. War in den 1950er Jahren der Heimatroman und Co. noch über die Klassenposition im sozialen Raum verankert, so hat sich dieser Gebrauchswert heute dahingehend gewandelt, dass nicht mehr die Kompensation der eigenen Klassengrenzen durch künstliche Traumwelten auf dem Programm steht, sondern jetzt im Gegenteil die Verteidigung von Grenzen.
Mit dem Urknall der digitalen Revolution wurde die Topografie des Sozialen quasi umgestülpt: Ging es zuvor immer um ein zu wenig, um Beschränkungen und Begrenzungen, um Mauern und Barrieren, so geht es nun um das Gegenteil: Um das Unbegrenzte, das Haltlose, das Unendliche. War die Überwindung der sozialen Schranken das Jahrhundert-Programm der Arbeiterklasse, so geht es heute um das Festkrallen auf dem noch sicheren Terrain, bevor man mit der nächsten Welle von "Industrie 4.0" in die unendlichen Weiten des Internets gespült wird und schließlich im Nichts verschwindet.
Die Menschen sehnen sich angesichts eines galoppierenden gesellschaftlichen Wandels hin zu einer Welt der verflüssigten Beziehungen und instabiler Zustände, die jederzeit umschlagen können, nach Grenzen. Europa ist dabei ein höchst aktueller Indikator auf der politischen Ebene. Nach Jahrzehnten des Abbaus von Schranken ist der Kontinent jetzt wieder eifrig dabei, Barrieren hochzuziehen und Grenzzäune aufzurichten. Dass Bayern - als Bundesland! - jetzt sogar wieder eine eigene Grenzpolizei ins Leben ruft, ist eine der gegenwärtigen Hyperventilierungen einer panischen Politik.
Während das Digitale (in Kooperation beziehungsweise auf der Grundlage kapitalistischer Logik und neoliberaler Praxis) dabei ist, die alte analoge Welt (Taxis, Reisebüros, Buchläden, Kaufhäuser, Journalismus) abzuräumen und in der komitativen Sphäre neu zu strukturieren, wird dem alten analogen Menschen schwindelig, er sucht nach einem Halt, um nicht abzustürzen. Dann kommen wieder alte Getreidesorten, Recht und Ordnung, Dirndl und Lederhose, Heimat, Heimatschutz, Hautfarbe und Nation ins Spiel. Und das Eingrenzen und Ausgrenzen, etwa in Lagern.
So ist der analoge Groschenroman heute nicht nur auf das Happy End bezogen, sondern quasi auch eine der letzten medialen Verteidigungslinien gegenüber dem drohenden Abgrund der Digitalisierung. So gesehen, kämpfen der Gefreite Müller, Prinzessin Tamara von Herzberg und Perry Rhodan an der gleichen Front.