Protektorat oder Rauswurf?
Griechenland stand beim Euro-Krisengipfel in Brüssel unter extremem Druck aus Deutschland. Nun droht der Grexit - oder die Kapitulation
Gianis Varoufakis hat alles kommen sehen. Schon am Freitag warnte der griechische Ex-Finanzminister im britischen Guardian, Wolfgang Schäuble lege es auf einen Grexit an, um Frankreich und die gesamte Eurozone zu disziplinieren. In den deutschen Leitmedien wurde er dafür wie üblich als schlechter Verlierer abgewatscht. Ernst nahm ihn keiner.
Doch der Krisenmarathon, der am Samstag um 15 Uhr in Brüssel begann, bestätige Varoufakis' schlimmste Befürchtungen. Schon bei der Ankunft in der Eurogruppe, die die finale Griechenland-Entscheidung vorbereiten sollte, wischte Schäuble Griechenlands Kernforderung mit einer abfälligen Handbewegung vom Tisch: Einen Schuldenschnitt werde es nicht geben, das verstoße gegen EU-Recht.
Das Spar- und Reformprogramm, das Premierminister Alexis Tsipras am Freitag nach einer abenteuerlichen Kehrwende vorgelegt hatte, falle weit hinter die Erwartungen zurück, dozierte Schäuble, dessen "Stake-in" in voller Länge (und unkommentiert) vom ZDF-heute Journal wiedergegeben wurde. Griechenland müsse weitaus mehr tun, die von Athen vorgelegten Zahlen glaube ohnehin niemand.
Dabei hatte die von Schäuble sonst so geschätzte Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds gerade erst einen Bericht vorgelegt, der die griechischen Pläne als gute Grundlage für Verhandlungen über ein drittes Reformprogramm bezeichnete. Und ein Rechtsurteil über den Schuldenschnitt steht Schäuble gar nicht zu: Nicht das Bundesfinanzministerium (BMF), sondern die EU-Kommission in Brüssel ist Hüterin über die europäischen Verträge.
Egal, Schäuble weiß alles besser - wie kurz danach in einer Vorabmeldung der "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" deutlich wurde: In einem Positionspapier hatte das BMF gefordert, Griechenland entweder unter europäische Vormundschaft mit einem Treuhand-Fonds zu stellen - oder es für fünf Jahre aus dem Euro zu werfen. Dieses Papier, das offenbar mit Kanzlerin Angela Merkel und SPD-Boss Sigmar Gabriel abgestimmt war, sollte fortan die Brüsseler Krisensitzungen beherrschen.
Schäuble hatte nämlich vorgesorgt und sein "Non paper" bei den Hardlinern in der Eurogruppe verteilt. Finnland, die Niederlande, die Slowakei, Slowenien und die baltischen Euro-Mitglieder pflichteten dem deutschen Falken prompt bei und blockierten die eigentlich geplante Debatte über ein neues griechisches Hilfspaket. Die Stimmung war schnell so aufgeheizt, dass Schäuble sogar mit EZB-Präsident Mario Draghi aneinander geriet: "Ich bin doch nicht blöd", soll der Deutsche wie im Werbefilm gerufen haben, bevor Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem (ein Schäuble-Vertrauter) die Sitzung entnervt abbrach.
Mentales Waterboarding für Tsipras
Damit waren die Fronten klar: Deutschland führte die Hardliner, Frankreich und die EZB ergriffen Partei für Griechenland. Wegen der verhärteten Fronten fand die Eurogruppe auch in der nächsten Sitzung am Sonntag nicht zu einer gemeinsamen Empfehlung. Doch Schäuble hatte sein Ziel erreicht: Griechenland war in die Defensive geraten, die Falken hatten eine regelrechte Giftliste voller neuer Auflagen und Ultimaten formuliert, die dann an die Staats- und Regierungschefs weitergereicht wurde.
Als Tsipras am Sonntagnachmittag beim Euro-Gipfel eintraf, hatte er eigentlich schon verloren: Schäubles "Vorschlag", wie die Deutsche Presseagentur voller Nachsicht schrieb, hatte es schon in die Erklärung der Eurogruppe geschafft, wenn auch nur in Klammern. Und Frankreichs Staatschef Francois Hollande hatte schon beim Thema Schuldenschnitt kapituliert. Hollande warf Schäuble zwar noch ein verbales Non entgegen: "Einen temporären Grexit gibt es nicht, Griechenland muss im Euro bleiben." Doch die Liste mit den harten Extra-Auflagen für Griechenland hatte er schon geschluckt.
Das Gipfeltreffen selbst verlief dann nach dem bekannten Muster. Kurz nach der Eröffnung gab es gleich eine Unterbrechung, weil sich Tsipras, Merkel, Hollande und Gipfelchef Donald Tusk in einer Viererrunde trafen. Doch dabei geriet Tsipras nur noch mehr unter Druck. Der Syriza-Politiker sei einem "mentalen Waterboarding" unterzogen worden, gab ein namentlich nicht genannter hoher Regierungsbeamter hinterher laut "Guardian" zu Protokoll.
"Das ist ein deutsches Diktat. Heute ist die europäische Idee gestorben"
In der Zwischenzeit nahm das Diktat aus Deutschland Gestalt an. Für den geschätzten Finanzbedarf von 86 Milliarden Euro solle Griechenland "drei Jahre unter Vormundschaft", fasste eine Nachrichtenagentur den Forderungskatalog zusammen. Auf dem Programm stehen unter anderem weitere Rentenkürzungen, eine massive Erhöhung der Mehrwertsteuer, automatische Budgetkürzungen bei Verstoß gegen die Brüsseler bzw. Berliner Sparvorgaben sowie eine neue neoliberale Arbeitsmarktreform, die Tarifverträge aushebeln und Massenentlassungen ermöglichen soll. All das soll das griechische Parlament bis Mittwoch, 15. Juli, abnicken - ein neues Ultimatum.
Im Kern soll Tsipras auf alles verzichten, was er im Wahlkampf versprochen und fünf Monate lang gegen massiven Druck aus Brüssel vertreten hat. Es wäre die vollständige Kapitulation. Doch statt die Gespräche sofort abzubrechen, ließ Tsipras seine Diplomaten in Brüssel erklären, die geplante Treuhandanstalt sei "völlig inakzeptabel". Einen Plan B hat er offenbar nicht ausgearbeitet.
Auch Hollande hatte dem Durchmarsch der Deutschen nicht mehr viel entgegenzusetzen. Zwar gelang es ihm zunächst noch, die griechische "Treuhand" im Gipfelentwurf in Klammern zu setzen, was so viel heißt, dass sie noch nicht konsensfähig war. Als erste Wahl stand eine unabhängige Privatisierungs-Agentur im Entwurf. Doch gleichzeitig hatten Merkel und Schäuble es geschafft, die Grexit-Drohung in den Text hineinzuschreiben. Sie taucht zwar erst ganz am Ende des Entwurfs auf und steht ebenfalls in Klammern. Doch zu Beginn des Gipfels lag sie nicht einmal auf dem Tisch.
Wie der Streit ausgehen würde, war zunächst unklar. Klar war nur, dass der deutsche Durchmarsch nicht ohne Folgen bleiben würde. Die Fassade der deutsch-französischen Einheit ist zerbrochen, Griechenland und sein wendiger Premier Tsipras wurden ein weiteres Mal gedemütigt und erpresst. "Europa nimmt Rache an Tsipras", titelt der Guardian in seiner Montags-Ausgabe. "Welches Spiel spielt Deutschland", fragt die französische Libération" Offenbar gehe es Merkel und Schäuble darum, die griechische Linksregierung zu stürzen, mutmaßten Journalisten am Rande des Gipfeltreffen.
Sogar im Europaparlament wird manch einem unheimlich zumute. Man dürfe die Griechen nicht weiter demütigen, fordert Parlamentspräsident Martin Schulz, der in deutschen Talkshows zuletzt durch Tsipras-Bashing aufgefallen war. "Faktisch will die Eurogruppe Griechenland in ein Protektorat der Eurozone umwandeln", kritisiert der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold, der Schäubles Forderungsliste auf seiner Website geleakt hatte. Sein belgischer Parteifreund Philippe Lamberts urteilt noch härter: "Das ist ein deutsches Diktat. Heute ist die europäische Idee gestorben." Varoufakis hätte es wohl weniger pathetisch formuliert. Doch im Kern hatte er genau das schon am Freitag vorausgesehen.