Proteste in Frankreich: Rebels with a cause
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Im Gegensatz zur kritiklos übernommenen Sicht der Regierung in Paris gewinnen bei der Rentenreform nicht alle Seiten. Die Versicherungskonzerne und andere finanzkapitalistische Akteure freuen sich auf frischen Profit
Auch Emmanuel Macrons Neuer hat schon wieder Probleme. Soeben erst wurde der Sonderbeauftragte der amtierenden Regierung für die Renten"reform" - der frühere konservative Spitzenpolitiker Jean-Paul Delevoye - am Montag dieser Woche geschasst (Macrons Schützling und die soziale Gerechtigkeit). Am Mittwoch früh war er rasch durch seinen Nachfolger ersetzt worden.
Zunächst war ruchbar geworden, dass Delevoye seit circa drei Jahren 5.300 Euro monatliche Nebenbezüge seitens einer Allianz von Versicherungskonzernen bezogen hat - angeblich bloß für einen symbolischen "Ehrenvorsitz" eines Instituts für berufliche Fortbildung im Versicherungswesen, IFPASS -, und dies neben anderen Einkünften und Rentenansprüchen, die er aufweist. Da Delevoye den Status eines Regierungsmitglieds innehatte, war ihm dies verboten, und er verstieß überdies gegen eine gesetzliche Offenlegungspflicht. Inzwischen wurde deswegen auch die Justiz eingeschaltet.
Großzügig erklärte der Mann sich daraufhin bereit, 140.000 Euro unerlaubter Nebeneinkünfte aus dieser Quelle mal eben zurückzuzahlen. Dies ging freilich am tatsächlichen Problem vorbei, denn die Affäre machte ungewollt darauf aufmerksam, welche Interessen durch die "Reform"pläne bedient werden. Im Laufe des vorigen Wochenendes kamen dann überdies noch weitere unerklärte Nebeneinkünfte ans Licht. Delevoye bezog solche aus insgesamt dreizehn Quellen.
Am Mittwoch wurde sein Nachfolger ins Amt eingeführt, der Abgeordnete der Regierungspartei LREM Laurent Pietraszewksi. Anders als der Sonderbeauftragte Delevoye, der den offiziellen Titel eines "Hochkommissars" trug, bekleidet Pietraszewski nunmehr den Posten eines Staatssekretärs. Er war ein Macron-Mann der ersten Stunde, der dessen neugegründeter Partei LREM - damals noch lediglich EM, wie "En marche" (oder wie die Initialen Emmanuel Macrons) bereits am ersten Tag ihres Bestehens im April 2016 beitrat.
Ein hoher Kapitalfunktionär, der bei früheren Angestellten schlechte Erinnerungen hinterlässt
Der neue Mann Macrons für die Renten"reform" war in seinem vorherigen Berufsleben Leiter der Personalabteilung der Supermarktkette Auchan, ihm unterstanden 46.000 Lohnabhängige, also ein hoher Kapitalfunktionär. Er war aber auch parlamentarischer rapporteur ("Berichterstatter", das ist der Abgeordnete des Regierungslagers, der einen Gesetzentwurf im Namen der Mehrheitsfraktion ins Plenum einbringt und in den Debatten verteidigt) bei der, inhaltlich aus Lohnabhängigensicht katastrophalen, Arbeitsrechts"reform" 2016/17. Also ein vielversprechendes Profil - in den Augen des organisierten Kapitals.
Allerneuersten Informationen zufolge hat aber auch er bereits ein Problem mit außerordentlich stattlichen Nebeneinkünften als Politiker von seinem ehemaligen Arbeitgeber ... Überdies stellte sich heraus, dass er als Leiter der Personalabteilung bei Auchan - zunächst auf lokaler, später auf zentraler Ebene - teilweise "wie ein Psychopath agierte". Bei der Supermarktkette hinterließ er jedenfalls laut Presseberichten "schlechte Erinnerungen".
So veranlasste er zu Anfang der 2000er Jahre, dass eine gewerkschaftliche Vertrauensfrau in "seiner" damaligen Filiale in Polizeigewahrsam genommen wurde, weil sie ein zu stark gebackenes und unverkäufliches Croissant einer hungrigen Kollegin zum Essen gegeben hatte. Nur mit Müh' und Not konnten die gewerkschaftlich organisierten Kolleginnen und Kollegen ihre Kündigung verhindern. Ferner wird ihm eine "Hexenjagd" auf Gewerkschaftsmitglieder im Laufe seiner dortigen Karriere vorgeworfen.
Pietrazewski erklärte bei der Amtseinführung am Mittwoch ausdrücklich, inhaltliche Kontinuität zu seinem Vorgänger wahren zu wollen. Jener war's zufrieden: Seine politische Linie in Sachen "Reform" wird unangestatet bleiben. Nur er selbst war im Angesicht des Skandals politisch untragbar geworden.
Auf politisch unerwünschte Weise hatte Delevoyes Agieren ein Augenmerk auf die Interessenslage hinter den Regierungsplänen gelenkt.
Die Interessenslage hinter den Regierungsplänen
Längst sitzen nämlich just die Versicherungskonzerne und andere finanzkapitalistische Akteure in den Startlöchern, um endlich, endlich auch in Frankreich einen "Markt" für private, kapitalgedeckte Rentenversicherungen oder Zusatzabsicherungen zu eröffnen. Bereits bislang sind laut einer gewerkschaftlichen Quelle dort 14,2 Milliarden Euro in privaten Rentenfonds angelegt, dies entspricht jedoch "nur" 0,2 Prozent des BIP. Andere Quellen, die etwas umfassender zu rechnen scheinen, sprechen hingegen von 0,7 Prozent.
Das ist aus Sicht finanzkapitalistischer Akteure in jedem Falle absolut ausbaubar im Vergleich zur Entwicklung in den USA, den Niederlanden oder auch Deutschland. Mit allen Risiken, die dies beinhaltet, wenn die künftigen Renten dann an den Finanzmärkten, auf einen Gewinn spekulierend, angelegt werden - aber eben auch Verluste verzeichnen können.
Zur Wochenmitte wurde nunmehr auch bekannt, dass einer der größten Kapitalmarktakteure des Planeten, das US-Unternehmen Blackrock, die französische Regierung im Vorfeld betreffend der "Reform"pläne für das Rentensystem "beriet" - und zu den zu erwarteten Gewinnern der "Reform" zählt.
Aus dem Regierungslager wird dies, man möchte sagen: wie üblich, als "verschwörungstheoretische Kasperei" abgetan. Im Unterschied zu diversen Verschwörungstheorien fußt der Hinweis auf die Gewinnaussichten von Blackrock und ähnlich gelagerte Gewinn jedoch auf einer rational begründbaren, aus materiellen Fakten hergeleiteten Realität.
Delevoye hatte, so lange er als Sonderbeauftragter der Regierung im Amt war, eine Werbegraphik für die Renten"reform" enthüllt. Anhand von neun Beispielfällen wird darin geschildert, dass es bei dieser - erstaunlich, erstaunlich - nur "Gewinner" gebe. Nun, wenn in einem abgekarteten Spiel alle zu gewinnen glauben, dann ist mindestens ein Teilnehmer angeschmiert worden.
Delevoyes Kalkül hatte natürlich die Profile sorgsam, jedoch auf unrepräsentative Art und Weise ausgewählt. Überdies legte er ihnen eine Beitragsdauer von 44,3 Jahren zur Rentenkasse zugrunde. Heute erfordert das Gesetz (seit der vorletzten Renten"reform" von 2010, die seit 2017 voll in Kraft getreten ist) mindestens 41,5 Beitragsjahre für eine Rente ohne Abzüge, infolge der bisher letzten "Reform" - jener von 2013/14 unter dem Sozialdemokraten François Hollande - werden es bis in fünfzehn Jahren, nach sukzessiver Steigerung ab dem kommenden Jahr, dann 43 Beitragsjahre sein.
Natürlich geht es um eine Absenkung
Andere Berechnungen (vgl. anschaulich hier) kommen da zu ziemlich anderen Schlüssen. Demnach kann "Mathieu", Jahrgang 1961, im derzeitigen System mit einer Rente (berufsgruppenbezogene Zusatzpensionen eingerechnet) in Höhe von 72,5 % seines letzten Einkommens aufs Altenteil gehen; sein Sohn "Mathias", geboren 1980, wird dies nach den künftigen Regeln jedoch nur noch mit 55,8 % des letzten Einkommens können. Und bei der Staatsbediensteten "Marie", Jahrgang 1961, sind es derzeit 64,1 %; für ihre Tochter "Maryam", Jahrgang 1990, werden es nur noch 54,4 % sein.
Diese Absenkung ist mathematisch zwingend aufgrund der neuen Kalkulationsregeln. Bislang wurde eine gewisse Anzahl von Berufsjahren zur Bemessungsgrundlage genommen, um die Rentenhöhe zu errechnen. In der Privatwirtschaft waren dies vor der "Balladur-Reform" vom Hochsommer 1993 - damals unter einer seit erst drei Monaten amtierenden Rechtsregierung mitten im Sommerloch verabschiedet, um nur ja nichts anbrennen zu lassen - in der Privatwirtschaft die zehn besten Berufsjahre.
Historisch war dies so vereinbart und damit begründet worden, dass (a) der Verdienst in aller Regel am Ende eines Erwerbslebens höher ausfällt als beim Berufseinstieg, und (b) ein zu brutaler Abfall des Lebensstandards mit der Pensionierung vermieden werden solle.
Infolge der "Balladur-Reform" von 1993 wurde dieser Zeitraum auf 25 Jahre, statt auf zehn, als Bemessungsgrundlage gestreckt. In den öffentlichen Diensten, wo die Einkommen in Frankreich durchschnittlich niedriger liegen als in der Privatwirtschaft (und auch als in Deutschland: Lehrergehälter sind in Frankreich circa halb so hoch wie in der Bundesrepublik), wird die Rente auf der Basis der letzten sechs Monate in der beruflichen Laufbahn angerechnet.
In beiden Fällen wird diese Bemessungsgrundlage künftig durch eine Kalkulation auf der Basis des gesamten Berufslebens, also künftig gesetzlich vorgesehenen 43 Jahren, erfolgen. Dies kann nur mit einer Absenkung einhergehen. Was die Regierung auch kaum leugnen kann, auch wenn sie es durch positiv klingende Formulierungen wie "Honorierung der Lebensleistung" zu verschleiern versucht.
Auf eine gezielte journalistische Nachfrage in einem Interview an die Arbeits- und Sozialministerin Murielle Pénicaud, wie eine solche Streckung der Bemessungsgrundlage etwas anderes als eine Senkung zur Auswirkung haben könne, kam als Antwort denn auch nur absolut wirres Gestammel.
Hierin liegt wohl auch die wahre Crux der "Reform"pläne, auch wenn das Regierungslager und die rechtssozialdemokratisch geführte CFDT - zweitstärkster Gewerkschaftsdachverband in Frankreich von den Mitgliederzahlen her (hinter der historisch älteren und linkeren CGT), derzeit stärkster von den Wahlergebnissen bei Personalvertretungen her und augenblicklich ausnahmsweise streikgewillt - die Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit gegenwärtig auf ein anderes Terrain verlagern. Beide spielen nun das âge-pivot oder "Scharnieralter", dieser Ausdruck wurde vor etwa einem Jahr durch das Regierungslager in die Debatte eingeführt, zur scheinbar entscheidenden Frage hoch.