Protestmarsch: Erdogan droht der CHP
Mehrere tausend Menschen marschieren von Ankara nach Istanbul, in Großstädten finden Demonstrationen statt
Der Protestmarsch von Ankara nach Istanbul ging am gestrigen Montag in den fünften Tag. Kemal Kilicdaroglu, Chef der größten türkischen Oppositionspartei CHP, hatte die Aktion initiiert, nachdem sein Parteikollege Enis Berberoglu vergangene Woche zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war (siehe "Gerechtigkeit": Türkische Opposition beginnt Protestmarsch).
Mehrere tausend Menschen sollen sich dem rund zwanzigtägigen Marsch inzwischen angeschlossen haben. Während einige permanent dabei sind, begleiten andere die Truppe nur für Tagesabschnitte. Zugleich versammeln sich in mehreren türkischen Großstädten, darunter Istanbul, Ankara und Izmir, Demonstranten in Parks - eine Reminiszenz an den Gezi-Aufstand im Sommer 2013. Zwar werden die Demonstrationen von großen Polizeiaufgeboten begleitet, bislang hielt diese sich aber zurück. In den letzten Jahren hatte die Polizei immer wieder Demonstranten brutal angegriffen.
Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit gefordert
Kilicdaroglu fordert die Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit und wirft Staatschef Recep Tayyip Erdogan diktatorische Methoden vor. Es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass die CHP ihren Widerstand gegen die Politik der regierenden AKP auf die Straße trägt. Kilicdaroglu war wegen seiner schwachen Haltung mehrfach in die Kritik geraten; erst im April hatte er den landesweiten Straßenprotesten gegen mutmaßliche Wahlfälschungen bei Verfassungsreferendum seine Unterstützung versagt.
Während AKP und die rechtsnationalistische MHP die Partei für ihre Aktion angreifen, hat sich die pro-kurdische HDP solidarisch erklärt. Die Partei steht unter massivem Druck. Ihre Parteivorsitzenden sowie mehrere Abgeordnete sind seit Monaten in Haft.
Erdogan reagiert
Nachdem er sich erst eines Kommentars enthalten hatte, griff Erdogan Kilicdaroglu am Wochenende an. "Menschen auf die Straße zu rufen, ist in niemandes Interesse", sagte Erdogan, der sich unlängst für seine Anhänger rühmte, die in der Putschnacht des 15. Juli 2016 auf seinen Aufruf hin auf die Straßen gegangen waren und sich den Soldaten in den Weg gestellt hatten. Rund 250 Menschen starben dabei.
"Sei nicht überrascht, wenn die Justiz dich morgen einlädt", sagte er in einer unverhohlenen Drohung an CHP-Chef Kilicdaroglu. Der stellvertretende CHP-Vorsitzende Bülent Tezcan antwortete, dass man auf die Straße gehen müsse, weil es im Parlament keine Gerechtigkeit mehr gebe.
Enis Berberoglu selbst hatte im Zuge seiner Verhaftung und Verurteilung gesagt, er selbst werde nicht frei sein, solange die Pressefreiheit nicht wiederhergestellt sei. Er hatte als Journalist bei der Aufdeckung von Waffenlieferungen der Türkei an syrische Extremisten geholfen; die Staatsanwaltschaft warf ihm daher "Terrorunterstützung" vor.
Der Tageszeitung BirGün sagte Kilicdaroglu am Sonntag, Erdogan habe "die Geisteshaltung eines Putschisten". Der Marsch, hatte Erdogan gesagt, sei "illegal, aber wir tun ihnen einen Gefallen und lassen sie gewähren". Er verglich die Aktion mit dem Putschversuch.
Kilicdaroglu bezeichnet die Ausrufung des Ausnahmezustands, der bereits seit dem 20. Juli 2016 besteht, seinerseits als "Putsch". Erdogan nutzt die Lage seither für Massenverhaftungen und die Unterdrückung jeglicher Opposition und übt auch auf andere Länder Druck aus, seine Verfolgung von Regimegegnern zu unterstützen.