"Gerechtigkeit": Türkische Opposition beginnt Protestmarsch
Nach Verhaftung des CHP-Abgeordneten Enis Berberoglu rief Parteichef Kilicdaroglu zu Widerstand auf
Der Druck auf die größte türkische Oppositionspartei CHP nimmt zu. Nachdem im vergangenen Monat die Immunität mehrerer Abgeordneter aufgehoben worden war, wurde am Mittwoch der CHP-Abgeordnete Enis Berberoglu von einem Istanbuler Gericht zu 25 Jahren Haft verurteilt.
Er war wegen Geheimnisverrat angeklagt. Er soll der Tageszeitung Cumhuriyet im Jahr 2014 Informationen zugespielt haben, die zur Aufdeckung von Waffentransporten des türkischen Geheimdienstes MIT an Extremisten in Syrien führten. In der selben Angelegenheit wurde auch der ehemalige Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar angeklagt, dem nach mehreren Monaten Haft im Frühjahr 2016 die Flucht nach Deutschland geglückt ist. Heute leitet er in Berlin die Redaktion des Exil-Mediums Özgürüz. Mehrere Mitarbeiter der Cumhuriyet befinden sich in Haft.
CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu reagierte scharf auf das Urteil. Es sei nicht akzeptabel, dass "in unserem Land Journalisten und Abgeordnete in Haft" seien, sagte er. Derzeit sind 169 Journalisten und 13 Abgeordnete im Gefängnis – die meisten gehören der oppositionellen HDP an.
Kilicdaroglu rief die Opposition zu einem Protestmarsch von Ankara nach Istanbul auf, der in den frühen Morgenstunden des Donnerstag begann. "Genug ist genug", kommentierte Kilicdaroglu. "Wir wollen nicht in einem Land leben, in dem es keine Gerechtigkeit mehr gibt", zitiert ihn die Hürriyet. Im Laufe des Tages schlossen sich tausende Menschen dem Marsch an, der 24 Tage dauern und vor dem Istanbuler Gefängnis enden soll, in dem Berberoglu einsitzt.
Kilicdaroglu betonte, dass es bei dem Protest nicht um seine Partei gehe, sondern um die Gerechtigkeit im Land. Es könnte der Befreiungsschlag werden, den die CHP brauchte. Die Partei ist tief zerstritten und die Angriffe der AKP gegen sie hatten zuletzt zugenommen.
Der Chef der rechtsnationalistischen Partei MHP, Devlet Bahceli, hatte Kilicdaroglu für den Protestaufruf attackiert und ihn darauf hingewiesen, dass die CHP selbst der Immunitätsaufhebung im Vorjahr zugestimmt hatte. Damals waren die Kemalisten davon ausgegangen, dass es nur die pro-kurdische HDP treffen würde.
Im Schnitt werden wöchentlich mehr als 800 Menschen in der Türkei festgenommen. Mehrheitlich handelt es sich um vermeintliche Gülen-Anhänger sowie kurdische Politiker und Aktivisten. Aber auch Journalisten sind weiter im Fadenkreuz. Am Donnerstag wurde außerdem der Schauspieler Baris Atay festgenommen, weil er im Jahr 2014 einen Berater Erdogans auf Twitter als "Depp" bezeichnet hatte, nachdem dieser Demonstranten im Umfeld des Minenunglücks von Soma verprügelt hatte. Bei dem Unglück waren über 300 Bergleute ums Leben gekommen; die Regierung wurde damals für die mangelnden Sicherheitsbestimmungen verantwortlich genacht.
Der Protestmarsch verlief bislang friedlich. Es ist durchaus möglich, dass er zu einem Massenprotest anwächst. Für Staatschef Recep Tayyip Erdogan könnte das zum Problem werden. Zuletzt hatte er mit aller Gewalt versucht, Proteste zu unterdrücken, etwa indem er zum Jahrestag der Gezi-Proteste die Istanbuler Innenstadt abriegeln ließ.