Pulverfass Idlib
Der Konflikt zwischen der Türkei und Russland über die von Dschihadisten kontrollierte "Rebellenhochburg" eskaliert, Hunderttausende sind an die Grenze zur Türkei geflüchtet
Der türkische Präsident Erdogan droht mit Krieg, wenn die syrischen Truppen mit russischer Unterstützung aus der Luft weiter vorrücken (Idlib: Erdogan droht mit militärischer Aktion). Die türkischen Truppen um Idlib wurden bereits verstärkt mit Panzern und Artillerie. Offenbar haben sie nun ein Momentum. Die wichtige Straßen, die Damaskus, Homs, Hama und Aleppo verbindet, befindet sich bereits unter syrischer Kontrolle. Die Truppen versuchen jetzt, Idlib von der Türkei abzuschneiden und damit die Versorgung der von westlichen Medien so genannten "Rebellenhochburg" zu blockieren sowie die Verbindung Aleppo-Latakia zu eröffnen. Nachdem bereits der Flughafen von Aleppo wieder in Betrieb gesetzt wurde. Das soll die syrische Wirtschaft stärken, während die USA und der Westen weiter auf maximalen Druck setzen.
Gestern erklärte Feridun Sinirlioglu, der türkische UN-Botschafter, dass die türkischen Truppen nicht abziehen werden, vielmehr sollten sich die syrischen Truppen bis Ende des Monats zurückziehen. Zwischen Russland und der Türkei vollzieht sich schon lange ein heikles Tauziehen, in Syrien - und in Libyen - sind die geopolitischen Interessen nicht vereinbar.
Weder Russland noch die Türkei wollen einen militärischen Konflikt ausbrechen lassen, aber der könnte von den türkischen Milizen, den dschihadistischen "Rebellen" oder den syrischen Truppen und Milizen provoziert werden, zumal auch andere Länder ihre Finger im Spiel haben, die Idlib als "Rebellenhochburg" gegen Damaskus und Moskau erhalten wollen. So hat sich die USA bereits hinter die Türkei gestellt, um die Offensive zu beenden und die "Rebellenhochburg" zu schützen. Auch Großbritannien und Deutschland fordern ein Ende der Offensive - gegen dschihadistische Gruppen, wohlgemerkt.
Das war ganz anders, als die USA ganze Städte wie Raqqa oder Mosul in Schutt und Asche legten, um den IS zu besiegen, "Kollateralschäden" eingeschlossen. Der IS ist das Böse, HTS, einst al-Nusra, aber ist nun schützenswert als "Opposition" oder als "Rebellen". IS-Kämpfer wurden hingegen von westlichen Medien und Regierungen niemals Rebellen genannt.
Dschihadistische "Rebellenhochburg"
Idlib wird von dschihadistischen Gruppen, vor allem vom al-Qaida-Ableger HTS kontrolliert. Mit dem Astana-Abkommen, das Ende 2018 eine syrisch-russische Offensive stoppte, hatten Russland und die Türkei vereinbart, dass türkische Truppen Beobachtungsstützpunkte einrichten, um den Waffenstillstand zu sichern. Überdies sollte die Türkei die "Opposition" von den dschihadistischen Gruppen trennen und sie von der "demilitarisierten" Zone zu vertreiben - fragte sich schon damals wohin? Das ist der Türkei - wie zuvor schon der USA - nicht gelungen. Der Plan dürfte gewesen sein, die Kämpfer als Söldner einfach in die so genannte, von der Türkei lancierte Freie Syrische Armee, die sich mit der Nationalen Befreiungsfront verbündet hat, zu integrieren, wodurch die Islamisten durch Übertritt zu Gemäßigten geworden wären. HTS, die fast ganz Idlib kontrolliert, weigerte sich aber, sich als selbständige Gruppe aufzulösen und in den Dienst der Türkei zu treten. Die türkische Regierung schützt also Dschihadisten, die sie nicht einmal selbst wirklich kontrollieren kann.
Nach Idlib sind viele Kämpfer mit ihren Familien aus anderen Gebieten geflüchtet, die in der Hand von dschihadistischen Gruppen oder dem IS waren. Bislang konnte ihnen noch ein Abzug gewährt werden, wenn syrische Truppen im Begriff waren, die Gebiete wieder einzunehmen. Das Problem ist jetzt, dass die Kämpfer und ihre Familien - die säkulare Assad-Opposition gibt es schon seit einiger Zeit nicht mehr - kein Rückzugsgebiet mehr haben. Bislang waren sie von der Türkei geschützt worden, die das Reservoir an dschihadistischen Kämpfern zum Aufbau und Einsatz von türkisch kontrollierten Milizen nutzt, mit denen Afrin und ein Grenzbereich in Nordsyrien besetzt und gesichert werden. Um die Kurden zu vertreiben oder jeden Widerstand zu brechen, werden sie mit ihren Familien dort angesiedelt. Dschihadistische Kämpfer wurden von der Türkei auch bereits nach Libyen gebracht.
Viele der Familien der Kämpfer und andere Flüchtlinge, die vor dem Bombardement der syrischen und russischen Flugzeuge und Hubschrauber, suchen daher Schutz in der Türkei und sind an die verschlossene und durch eine Mauer gesicherte Grenze gezogen. Der Grenzübergang in Bab al-Hawa wurde mit weiteren türkischen Verbänden gestärkt. Russland soll der Türkei eine "Schutzzone" nahe der Grenze angeboten haben, um dort die Menschen unterzubringen, die aus Idlib fliehen, um nicht unter die Herrschaft von Damaskus zu fallen. Das aber scheint die Türkei abzulehnen. Allerdings vertiefen sich die Konflikte zwischen der Türkei und den Gruppen in Idlib. Die werfen der Türkei vor, nicht gegen die Angriffe vorzugehen und mit Russland unter einer Decke zu stehen.
Hunderttausende Flüchtlinge aus Idlib an der türkischen Grenze
An der türkischen Grenze sollen sich bereits Hunderttausende unter extrem schlechten Bedingungen aufhalten. 50.000 würden im Freien schlafen, täglich würden Menschen, vor allem Kinder, erfrieren und sterben. Die New York Times spricht davon, dass es wie das Ende der Welt für die Flüchtenden aussieht. Der Druck wachse, dass die Türkei die Grenze öffnet. In dem NYT-Bericht wird nicht erwähnt, dass Idlib, woher die Flüchtenden kommen, von HTS kontrolliert wird. Ob unter den Flüchtlingen auch Familien von dschihadistischen Kämpfern sind, interessiert ebenfalls nicht.
Eine halbe Milliarde US-Dollar werden für die humanitäre Hilfe der Flüchtlinge gefordert. Nach den Vereinten Nationen gibt es seit Dezember in Idlib 900.000 Flüchtlinge. Geir Pedersen, der Sondergesandte für Syrien, forderte wie UN-Generalsekretär Guterres einen Tag zuvor vor dem UN-Sicherheitsrat einen sofortigen Waffenstillstand. Die am Konflikt beteiligten Parteien sollten eine politische Lösung finden. Auch das ist ein wenig seltsam, weil die Tatsache umschifft wird, dass sich in Idlib Zehntausende von dschihadistischen Kämpfern aufhalten, die ansonsten als kaum schutzwürdige Terroristen gelten. Wie sollen deren Interessen berücksichtigt werden? Dazu kommen wieder vermehrte Angriffe von IS-Kämpfern.
Es ist eine hochexplosive Situation mit vielen unberechenbaren Akteuren und unterschiedlichen Interessen. Die Türkei kann die EU jederzeit erpressen, die Grenzen für die Flüchtlinge zu öffnen, aber sie steht auch unter hohem innenpolitischen Druck, nicht noch weitere Hunderttausende oder Millionen ins Land zu lassen, zumal die Wirtschaft schwächelt und die Währung an Wert verliert. Wenn sie die Grenze geschlossen hält, dürfte die Wut der Dschihadisten wachsen. Die Milizen könnten sich von der Türkei ablösen, Islamisten Terroranschläge in der Türkei ausführen. Das könnte wiederum das türkische Umsiedlungsprojekt von syrischen Flüchtlingen in die besetzten kurdischen Gebiete torpedieren. Gibt es also wieder einen Giftgasangriff?