Putin: Von einem, der auszog, das Fürchten zu lehren

Der russische Präsident hat nicht geblufft. Sein Nicht-Bluffen war der Bluff

Europa spielt Schach wie ein blutiger Anfänger. Man verpasste schon das Eröffnungsspiel. Putins ukrainische Variante, nichts verstanden. Grübeln am Spieltisch in Paris und Berlin. Und dann das dümmliche Bohei der aufgekratzten Medien.

Die journalistischen Divisionen der westlichen Hemisphäre beschwören wochenlang die rote Gefahr und scheuchen den ohnehin pandemiegeschwächten Bürger Abend für Abend mit der Frage von der Couch: "Was will Putin?!"

Europäische Traumtänze

Dann verschlief man in Europa das Mittelspiel, obwohl Putin nur das tat, was ein Schachspieler nach gelungener Eröffnung lehrbuchmäßig macht: Nerven behalten. Position ausbauen. Gegner täuschen. Gegner stressen. Warten auf dessen ersten (oder nächsten) Lapsus. Heimliches Vergnügen an Anzeichen gegnerischer Schwäche.

Auf die Eröffnung folgt das Mittelspiel. Es ist der komplexeste Teil der Schachpartie. Mit Bausteinen aus dem Setzkasten kommt man hier nicht weit.

Paris und Berlin träumten da von einem netten Remis. Und hatten nichts zu bieten als den ollen Setzkasten, einen antiquierten Vorrat wohlklingender Beschwörungen. Annalena Baerbock reist in Staatsuniform "werteorientiert", erst nach Kiew, dann nach Moskau. Olaf Scholz rang seinem Gegenüber beim Palastgeplänkel ein Lächeln ab (komisch, Olafs Clou mit der "Amtszeit"), bemerkte aber nicht die Selbsttäuschung. Und nicht den Nasenring, an dem er vorgeführt wurde.

Wie schön wäre das gewesen, hätte man Putin zur Einsicht bewegen können! Warum nicht mit einem kleinen Witz?

Weil beim Schach Humor keine Rolle spielt. Nach dem Mittelspiel kommt das Finale. Im Schach nennt man das auch: Endspiel. Die Figuren sind koordiniert. Sie stehen bestmöglich, aber der Angriff hat noch nicht begonnen. Schicke Moderator:innen (gern mal Quote) beduseln derweil die im Dutzendpack rätselnden Ost-Experten mit der nämlichen Frage: "Was will Putin?!"

Ja, was will er denn?

Jetzt, es ist Karneval im freien Westen, haben wir den Salat.

Fakten statt Fiction. Mit Narrenkappe

Mit einem absurden Framing: Putin in kapitaler Kulisse, eingerahmt von einem grässlich pseudo-royalem Mobiliar, umstellt von devoten Statisten, frei von der Moral unseres westlichen Wertesystems.

Aber wir haben irgendwie die noch dümmlichere Narrenkappe. "Ich zeig's euch! Laberköpfe!" Frei übersetzt, man möchte mal Mäuschen spielen im Kreml.

Game over. Fakten statt Fiction.

Jahrelanges Gerangel in der Ostukraine war aus dieser Perspektive von Anfang an Teil des Spiels. Teil einer Strategie. Größeres Framing: Im Wettstreit der Imperien findet gerade eine Neujustierung statt. Das Konzept der (russischen) imperialen Herrschaft über nichtrussisches Gebiet, sagen wir besser: Über peripheres Terrain, geht in eine neue Runde.

Dabei ist es ein konstruiertes Nationalbild, das hier reüssiert. Putin verleiht ihm propagandistische (und jetzt auch militärische) Schlagkraft, aber es bleibt im Kern eine Suggestion. Die enge historische und kulturelle Verbundenheit des Zentrums (Moskau, Petersburg, das Zarenreich?) mit der Peripherie dient als Axiom. Von Anfang an eine Überblendung von Historiografie und Erzählung.

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